Clara Zetkin: Die Kohlennot

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 10. Jahrgang, Nr. 22, 24. Oktober 1900, S. 169-171]

Ein entsetzliches Gespenst bedroht die sorgenschwere Existenz der Arbeiterfrau, der Arbeiterin, ja hat schon mit erbarmungslosem, schmerzhaftem Griffe in das entbehrungsreiche proletarische Leben hinein gefasst: die Kohlennot.

Seit Monaten sind die Kohlenpreise gestiegen und immer mehr gestiegen. Eine wachsende Verteuerung der Koks, der Briketts, des Holzes hat nicht auf sich warten lassen. Schon in den Sommermonaten hat die proletarische Hausfrau unter der Teuerung des Brennmaterials gelitten. Manche Mark, die für nötige Kleider und Wäsche beiseite gelegt werden sollte, musste zum Kohlenhändler wandern. Und doch galt es damals nur den Bedarf der Küche zu decken, in der Schmalhans regiert und für das Brauen und Anfwärmen von Zichorienbrühe, für das Sieden von Erdäpfeln und das Braten des Sonntagsschmauses von Abfallfleisch oder Trabtrab keine allzu großen Aufwendungen an Kohlen und Koks heischt.

Nun aber rufen sonnenlose, windige, regnerische Herbsttage das Bedürfnis nach einem mollig durchwärmten Zimmer wach. Die Hausmutter, die in nimmer rastendem Hin und Her ihren vielfachen Beschäftigungen nachgeht, würde sich noch am ehesten mit der feuchten Kühle der Hofwohnung, dem eisigen Zuge des Dachheims abfinden. Aber da sind die blutarmen, schlecht genährten und dürftig gekleideten Kleinen, deren Wänglein blau anlaufen, deren dünne Fingerchen in der Kälte noch dünner zusammenzuschrumpfen scheinen! Aber da ist der Mann, der Abends von schwerer Fron heimkehrt, nicht selten durchnässt und durchfroren! Auch die sparsamste proletarische Hausfrau kommt um das Einheizen nicht mehr herum.

Die ledige Heimarbeiterin kann sich ebenfalls nicht länger ohne Stubenwärme behelfen. Wie wäre sie imstande, mit froststarren Fingern im fieberhaften Schuften und Schanzen bei Tage und oft noch bei Nacht die erforderliche Menge Arbeit zu liefern, die den Hungertod um den Preis eines Kräfte verzehrenden Vegetierens von der Schwelle bannt. Die Fabrikarbeiterin, die Abends abgerackert, frierend nach Hause kommt, muss wenigstens so viel heizen, dass das Dachkämmerchen überschlagen ist, heißt es doch oft noch stundenlang nähen, flicken, waschen.

Kurz, an zahllose Proletarierinnen tritt die Notwendigkeit heran, für die Heizung des ärmlichen Heims zu sorgen, und zwar mit Mitteln, welche in Tausenden und Tausenden von Fällen mehr als spärlich bemessen sind. Welche erdrückende Last von schwarzen Sorgen und harten Entbehrungen bürdet ihnen da nicht die unerhörte Preissteigerung des Brennmaterials auf! Die kommenden Monate aber eröffnen nicht die Aussicht auf eine Erleichterung, sondern auf eine Verschlimmerung dieser Sorgen und Entbehrungen. Der Winter steht vor der Tür, und die Preise für Kohlen, Koks etc. ziehen stetig noch weiter an. Und dies in einer Zeit, wo die gesteigerten Preise für die wichtigsten Lebensbedürfnisse, wo insbesondere die kaum noch erschwingliche Wohnungsmiete schon so wie so großen Massen von Arbeiterfamilien und Arbeiterinnen an Stelle der äußersten Sparsamkeit das härteste Darben aufzwingt. Und dies in einer Zeit, wo den Teuerungspreisen für die Arbeiterschaft ganzer Industriezweige eine verminderte Einnahme gegenüber steht, ja vielleicht das Versiegen jedes Verdienstes überhaupt. Trägt denn nicht in den Sitzen der Textilindustrie, im Baugewerbe, in der Möbelindustrie etc. Arbeitslosigkeit oder zum mindesten flauer Geschäftsgang das schwärzeste Elend in die Arbeiterfamilie, in die Existenz der einzelnen Arbeiterin? Zu all dem nun noch die Kohlennot, die Kohlenteuerung, die während des Winters zu einer Kalamität schwerster Art zu werden droht!

Gewiss, auch in der bürgerlichen Familie macht sich der Hausfrau die Teuerung des Heizmaterials unangenehm bemerkbar. Aber um wie viel härter wird sie nicht von der Proletarierin empfunden. Diese vermag nicht im Voraus und im Ganzen Kohlen, Briketts, Koks etc. einzukaufen, sie ist vielmehr gezwungen, ihren Bedarf pro Woche, vielleicht gar von Tag zu Tag zu decken. Sie muss in der Folge nicht bloß die volle Wucht der geltenden Kohlenpreise tragen, sondern sie wird noch obendrein als Käuferin kleiner Beträge im Betreff des Preises, der Güte, der Menge benachteiligt. Keine solid gebaute Wohnung, mit gut schließenden Türen und Fenstern, mit dicken Vorhängen und Teppichen mildert für die proletarische Frau und ihre Familie die Unbill des Winters. Die lotterige Mietskaserne, deren dünne Mauern der Kälte nicht wehren, durch deren Fensterspalten der Wind bläst, steigert das Bedürfnis nach Wärme, nach Heizung. Das Gleiche gilt von der unzulänglichen Kleidung und Nahrung der Proletarier, die nicht wie der „Herr Kommerzienrat“ oder die „Frau Geheime“ Küchenzettel und Garderobe der Saison anpassen können. So wirken die verschiedensten Umstände zusammen und verschärfen das Elend, das in Folge der Kohlenteuerung über die proletarische Hausfrau, über die Arbeiterin hereinbricht.

Kein Wunder deshalb, dass die Proletarierin seufzend denkt: „Was soll das werden?“ Kein Wunder aber auch, dass sie fragt: „Woher der Jammer?“

Die Presse der Kohlenbarone beantwortet diese Frage mit der Gewandtheit des Spitzbuben, der im Falle des Ertapptwerdens auf den ersten besten Vorübergehenden zeigt und ruft: „Haltet den Dieb!“ Sie sucht den Zwischenhandel für die Preissteigerung des Brennmaterials verantwortlich zu machen. Sicher, dass die Zwischenhändler Dank der jetzigen Situation erklecklichen Gewinnst einstreichen. Aber nicht sie sind es, die die Situation und die Teuerungspreise geschaffen haben. Sie lesen nur dort Ähren, wo die Herren Grubenbesitzer Garben geerntet und fuderweise unter Dach und Fach gebracht haben.

Wenn die Tintenkulis der Bergwerksritter gar der „Begehrlichkeit“ und „Faulheit“ der Grubensklaven die Schuld an der Kohlennot beimessen, so übertrumpfen sie an Schamlosigkeit sogar die landläufige Spitzbubengepflogenheit und Spitzbubenmoral.

Was denn beweisen Zahlen, die steifnackigen Dinger? Dass das Grubenproletariat nach wie vor einen Verdienst hat, der im Allgemeinen sich nicht allzu hoch über die Hungergrenze erhebt. Wo die Einkommen gestiegen sind, da ist dies wesentlich auf Rechnung der verfahrenen Überschichten zu setzen. Die Löhne selbst sind nur um ein Weniges aufgebessert worden, ja hier und da beglückte die Profitgier der Zechengrafen die Kohlengräber mit einer Lohnherabsetzung. Aus den Berichten der Handelskammern von Essen und Bochum, aus anderen Dokumenten noch, geht unzweifelhaft hervor – es sei denn, dass man den Tatsachen Gewalt antut –, dass die Leistungen der „arbeitsunlustigen“ Bergleute der Menge und dem Werte nach gestiegen sind. Wie wenig die Kohlenteuerung Denjenigen nutzt und frommt, die in saurem Mühen und unter schwersten Gefahren den schwarzen Schatz heben, der sich für nichts tuende Aktionäre in blinkendes Gold verwandelt, dafür ein Beispiel. Vom 1. April des Jahres bis Anfang Oktober hat das rheinisch – westfälische Kohlensyndikat den Preis der Tonne Ruhrkohlen um durchschnittlich 1 Mark erhöht. Die Kohlengräber aber erhielten pro Schicht, in welcher beinahe eine Tonne gefördert wild, 6 Pfennig mehr Löhnung, sage und schreibe sechs Pfennig deutscher Reichswährung. Nur der Zynismus des ausgereiften Verbrechertums kann sich erdreisten, angesichts des Einkommens der oberschlesischen Bergarbeiter von durchschnittlich 917 Mark im Jahre und den steigenden Dividenden und Gewinnen der Grubenmagnaten die ausgemergelten, ausgebeuteten Grubenarbeiter als Urheber der Kohlenteuerung dem Zorne ihrer proletarischen Brüder und Schwestern zu denunzieren.

Schuldig an Kohlennot und Kohlenteuerung ist die Nimmersatte „Begehrlichkeit“ des ausbeutenden Klüngels der Grubenbarone. Zum Zwecke der brutalen Lohndrückerei einerseits, zum Zwecke eines Raubzugs größten Stiles auf die Taschen der Konsumenten andererseits haben sich die Herren in Kohlen- und Kokssyndikaten zusammengeschlossen. Seit langer Hand haben diese Organisationen mit kapitalistischer Findigkeit und Gewissenlosigkeit die Kohlennot vorbereitet und geschaffen. Sie diktierten eine Einschränkung der Kohlenförderung, sie hielten mit allen Mitteln die Kohle vom deutschen Markte fern, sie sorgten für Kohlenmangel im Vaterland und für steigende Ausfuhr von Kohlen nach dem Ausland. In den ersten sieben Monaten des vergangenen Jahres wurden 77 Millionen Doppelzentner Kohlen aus Deutschland ausgeführt, in dem gleichen Zeitraum des laufenden Jahres aber, in der Periode der Kohlennot, 88 Millionen. Im August 1900 allein wurden 870.000 Doppelzentner Kohle mehr ausgeführt, als im gleichen Monat des Vorjahres. Und während die Syndikate die Preise für die deutschen Verbraucher tatsächlich zu Teuerungs- und Wucherpreisen künstlich empor schrauben, überschwemmen sie den ausländischen Markt mit billigen Lieferungen. In derselben Zeit, wo die Sorge um Beschaffung des kaum bezahlbaren Heizmaterials der proletarischen Frau schlaflose Nächte bereitet, wo in Folge der zu schwindelnder Höhe gestiegenen Preise für Kohlen, Briketts etc. Hunger und Kälte in die proletarische Familie einziehen: verkaufen deutsche Werksbesitzer den Doppelwagen deutscher Kohle den Schweizern um 20 Mark billiger als den deutschen „Volksgenossen“. Auch in Belgien und anderwärts wird die deutsche Kohle billiger als in Deutschland auf den Markt gebracht. Es ist dies ein beweiskräftiges Zeugnis mehr von der herrlichen, waschecht „vaterländischen Gesinnung“ der Herren Kohlenritter, die sich auch so sieghaft in der Tatsache offenbart, dass gerade auf den Gruben die teureren deutschen Arbeiter in größtem Umfang durch billige, widerstandslose Polen ersetzt werden. Wenn Jemand „nicht Wert ist, den Namen Deutsche zu tragen“, so sind es unseres Erachtens die „vaterlandslosen Gesellen“, die im Interesse ihres Geldsacks den deutschen Proletariern als Produzenten Lohn und Brot entziehen und sie als Konsumenten bis zum Weißbluten schröpfen.

Wie dringend geboten es war, auf Kosten der breiten Masse der drohenden Verarmung der notleidenden, bedauernswerten Zechenbesitzer durch den organisierten Kohlenwucher entgegenzuarbeiten, das zeigen Zahlen, welche der „Industrie“ entstammen, einem Fachblatt der westfälischen Grubenherren. Die Bergwerksgesellschaft „Hibernia“ in Herne erzielte in den ersten sechs Monaten dieses Jahres einen Betriebsüberschuss von 5.200.173 Mark, gegen 3.586.240 Mark in dem gleichen Zeitraum von 1899 und 2.830.809 Mark im Jahre 1898. Die Harpener Bergbau-Aktiengesellschaft Dortmund, deren Geschäftsjahr von Juli bis Juni geht, hatte 1897/98 einen Überschuss von 7.787.600 Mark, 1899/1900 aber einen solchen von 12.400.390 Mark. Die Gelsenkirchener Bergwerksaktiengesellschaft säckelte in den ersten acht Monaten des laufenden Jahres einen größeren Betriebsüberschuss ein, als 1899 das ganze Jahr. Der Eschweiler Bergwerksverein zahlte für 1899/1900 eine Dividende von 20 Prozent, gegen eine solche von 15 Prozent im Vorjahr etc. Bemerkt sei übrigens, dass der Hunnenfeldzug, der die Profite der Kanonenjunker so üppig gedeihen ließ, auch die räuberischen Praktiken der Zechenklüngel gefördert hat. Die Versorgung von Schiffen und Kohlenstationen mit Kohlen steigerte den künstlich geschaffenen Mangel an Brennmaterial und begünstigte das Hinaufschrauben der Preise.

Mit wuchtiger Logik offenbart die Kohlenteuerung der geängsteten, sorgenbebürdeten Proletarierin die Gemeingefährlichkeit des kapitalistischen Privateigentums und der kapitalistischen Gewinngier. Ein unentbehrlicher Bedarfsartikel des ganzen Volkes wird unerschwinglich verteuert, Millionen werden der bittersten Not, den härtesten Entbehrungen ausgesetzt, nur damit der Gewinnst einer Handvoll Reicher und sehr Reicher zu schwindelnder Höhe emporwächst. Fürwahr, eine göttliche Weltordnung, eine sittliche Weltordnung, eine beste Weltordnung, die derartige schreiende Ungerechtigkeit, die derartigen verbrecherischen Wahnwitz nicht bloß ermöglicht, sondern geradezu herausfordert und züchtet!

Wenn die proletarische Hausfrau, die Arbeiterin im Laufe dieses Winters gezwungen ist, den kargen, unter unsäglichen Entbehrungen zusammengetragenen Sparpfennig anzutasten, vielleicht gar das und jene Stück des Hausrats oder der Kleidung „zur Tante“ wandern zu lassen, so mag sie dieser Tatsache eingedenk sein. Aber ebenso der anderen, dass neben dem Kapitalismus der Klassenstaat als Mitschuldiger an ihrer Pein auf die Anklagebank gehört. Ist er es denn nicht, der die Kohlenbarone durch Gewährung von Frachtvergünstigungen geradezu zur Ausfuhr von Kohlen anreizt? Der preußische Staat, der durch die Einstellung von Streckenarbeiterinnen, Waggonputzerinnen an den Löhnen der Eisenbahnarbeiter spart, spendet den notleidenden Grubenaktionären in Gestalt billiger Frachttarife eine Ausfuhrprämie von 2½ Millionen Mark jährlich. Und was haben die Staaten und Zaunkönigreiche, welche im Handumdrehen ihren ganzen Machtapparat in Bewegung sehen, um streikende Arbeiter und Arbeiterinnen nieder zu bütteln, was haben sie getan, um der Auswucherung des Volkes durch die Bergwerksaktionäre zu steuern? Bis jetzt ist seitens der Staatsgewalten nur eine Maßregel erfolgt, die so wirkungslos bleiben muss, dass die Presse der Zechenritter sie offen verhöhnt. Es wurden die Frachttarife für die Einfuhr ausländischer Kohlen herabgesetzt. Kein Wort verlautet, dass in Preußen die angeführte Vergünstigung aufgehoben und der Ausfuhr der deutschen Kohle nach dem Ausland dadurch ein Weniges entgegengewirkt werden solle. Von weitergehenden Maßregeln, wie einem Verbot der Kohlenausfuhr, von Herabsetzung der Preise seitens der staatlichen Gruben etc. ganz zu schweigen. Aber auch die Gemeindeverwaltungen sehen der Kohlennot so gut wie tatenlos zu. Die einzigen Kommunen Königsberg und Straubing haben sich bis nun entschlossen, den Gemeindeangehörigen Kohlen, Koks etc. zum Selbstkostenpreise zu liefern.

Inwieweit Staat und Gemeinde sich auf die vorliegende Pflicht ihrerseits besinnen, für die Interessen der ausgeplünderten Massen tatkräftig eintreten und den Werkbesitzern mitsamt den Spekulanten auf die raffgierigen Finger klopfen, das hängt wesentlich mit von der Kraft ab, mit der das arbeitende Volk sich gegen den Raubzug der Kohlen- und Kokssyndikate zur Wehr setzt. In dem Kampfe gegen die Plünderung der Kohlenkonsumenten aber muss die proletarische Frau in erster Reihe stehen. Wir haben Eingangs gezeigt, dass gerade sie am härtesten unter der Kohlenteuerung leidet. Ihr eigenes Interesse und das der Ihren macht es ihr deshalb zur Pflicht, allen Schichten der Bevölkerung voran die Stimme laut, energisch zum Protest gegen den Kohlenwucher zu erheben. Heraus, Proletarierinnen, aus feuchten, dumpfigen Keller- und Hofwohnungen, aus zugigen Dachkämmerchen, aus Hütten und Mietskasernen! Zeigt Eure von den Kohlenprotzen geschaffene Not! Stellt Eure Forderungen um Abhilfe an Staat und Gemeinde! Und über den Kohlenwucher hinaus gelte Euer Kampf der Gesellschaftsordnung, deren rechtmäßiges Kind der Kohlenwucher ist, und mit der zusammen allein jede Auswucherung des Menschen durch den Menschen verschwindet!


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