[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 21. Jahrgang, Nr. 2, 24. Oktober 1910, S. 17 f.]
Ein scharfer Wind weht gegenwärtig gegen die Sozialdemokratie. Die Vorgänge in Moabit, das Herumfuchteln mit dem Polizeisäbel bei dem Streik in Köln-Deutz, bei den Versammlungen in Remscheid: das alles zeigt, dass sich der Regierungskreise eine ungewöhnliche Nervosität der Sozialdemokratie gegenüber bemächtigt hat. Man könnte beinahe annehmen, dass in diesem provokatorischen Benehmen der Polizei in der jüngsten Zeit System liegt, dass bestimmte Absichten von jener Seite gehegt, bestimmte Zwecke dabei verfolgt werden.
Es gehört aber wahrlich keine Prophetengabe dazu, um zu erraten, welcher Art diese Absichten und Zwecke sind. Die Presse der großindustriellen Scharfmacher verkündet in rührendem Gleichklang mit den urreaktionären Agrarierblättern in ihrer gewohnten brutalen Offenherzigkeit, wohin der Wind weht. Ein Blutvergießen als Vorwand für Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie, für Zuchthausgesetze gegen streikende Arbeiter! Das ist, wonach die vereinigten Reaktionäre aller Couleure lechzen und was sie von den provokatorischen Heldentaten des preußischen Polizeisäbels erwarten. So schreibt die ehemals Stummsche „Post“, anknüpfend an die Vorgänge in Moabit:
„Der Staat hat schon heute auf diesem Gebiet vollständig versagt. Wohin soll es kommen, wenn es auf dieser Bahn weiter geht?“
Und weiter:
„Hoffentlich hat unsere Regierung die Kraft, einem weiterenHerabsinken auf der schiefen Ebene entgegenzutreten. Es ist aber die höchste Zeit, dass dies bald geschieht. Die Verhetzung ist bereits in die weitesten Kreise gedrungen. Man vergleiche nur die Artikel der sozialdemokratischen Blätter, man höre sich nur die Reden an, die in Volksversammlungen öffentlich gehalten werden. Wenn nicht bald der Masse des Volkes durch Strafgesetz der Gedanke wieder lebendig gemacht wird, dass Aufforderung zum Umsturz der Staatsordnung etwas Verbotenes ist, dann fürchten wir, wird eines Tages die Ordnungsliebe und Arbeitsamkeit der deutschen Arbeiter, die heute noch vorhanden ist, beseitigt werden von ihrem Machtbewusstsein und der Sucht, den Staat allein für ihre angeblichen Klasseninteressen auszunutzen.“
Genau in dieselbe Kerbe haut das Ortelsche Organ der Brotwucherer, die „Deutsche Tageszeitung„. Die Hauptorganisation der Kapitalmagnaten aber im westlichen Industriegebiet, der scharfmacherische „Zentralverband deutscherIndustrieller“, der bereits 1897 dem damaligen Staatssekretär des Innern Posadowsky einen Bakschisch von 12000 Mark zur Vorbereitung der Zuchthausvorlage gegeben hatte, versendet jetzt an die Unternehmerverbände ein Rundschreiben, worin er um Material ersucht:
„über die bei Streiks oder Aussperrungen von den Arbeitern mit dem Streikpostenstehen verübten Missbräucheund Ausschreitungen usw. Durch diese sind die Streikposten zu der gefährlichsten und wirkungsvollsten Waffe der Arbeiter in ihren Kämpfen gegen die Arbeitgeber ausgebildet worden“.
Deshalb gilt es, gestützt auf entsprechendes „Material“, eine Denkschrift an die Regierung auszuarbeiten, um von ihr eine neue Art Zuchthausvorlage gegen die streikenden Arbeiter zu fordern.
So sind die grimmigsten Feinde der aufstrebenden Arbeiterschaft jetzt an der Arbeit. Sie hetzen die Regierung zum Gebrauch der nackten Gewalt auf, sie provozieren, sie schmieden Pläne, sie drohen, verleumden und lügen das Blaue vom Himmel herunter. Man fühlt sich förmlich in die Zeiten vom Ende der 70er Jahre versetzt, wo Bismarck aus Anlass von zwei Attentaten hirnverbrannter Lumpazi gegen den Kaiser die infame Hetze wider die Sozialdemokratie inszenierte, um sein denkwürdiges Sozialistengesetz ins Leben zu rufen.
Der Gedanke an eine Erneuerung jener tiefsten Schmach des Bismarckschen Regiments erscheint im ersten Augenblick ebenso grotesk wie verbrecherisch. Und doch wäre es eine Torheit, wollte die klassenbewusste Arbeiterschaft die Drohungen und Hetzereien ihrer grimmigsten Feinde auf die leichte Achsel nehmen. Bei dem heute in Preußen-Deutschland herrschenden politischen Kurs ist das Verkehrteste, Frivolste und Plumpste gerade am allerwahrscheinlichsten. Deshalb ist es geboten, dass die Arbeiter die gesamte Situation einer sehr ernsten Prüfung unterziehen, um sich der Aufgaben und Pflichten in vollstem Maße bewusst zu werden, die sich für sie aus dieser Situation ergeben.
Vor allem gilt es, der gesamten arbeitenden Bevölkerung klar vor Augen zu führen, was für sie ein Ausnahmegesetz wider die Sozialdemokratie bedeuten würde. Das Bismarcksche Schandgesetz ist hierfür ein Denkmal unvergänglicher wie Erz und sprechender wie Flammenzeichen. Es ist und bleibt eine Tatsache, die mit blutigen Lettern in die Geschichte Deutschlands eingezeichnet steht, dass das Bismarcksche Knebelungsgesetz gegen die Sozialdemokratie dem Blut- und Eisenmenschen sowie dem ganzen herrschenden Klüngel nur eine Deckung war, um das deutsche Volk ungehindert und ungeniert der ärgsten Ausplünderung durch Schutzzölle, indirekte Steuern auf den notwendigsten Lebensbedarf und gewaltige Ausgaben für Militärzwecke preiszugeben. In den zwölf Jahren der Dauer der Sozialistenhetze war jede Verlängerung und Verschärfung des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie verbunden mit einer neuen Erhöhung der Zölle, mit einer neuen Steigerung der Steuern auf Nahrungs- und die bescheidenen Genussmistel des kleinen Mannes, mit einer neuen Vergrößerung der Ausgaben zu Nutz und Frommen des Moloch Militarismus. Die Spuren schrecken! sagten die Römer. Das deutsche Volk ist durch die zwölfjährige Schmach des Bismarckschen Sozialistengesetzes gewarnt. Es muss wissen, dass jede Ausnahmegesetzgebung gegen die Sozialdemokratie doppelte und dreifache Peitschen der wirtschaftlichen Ausplünderung und militaristischen Knechtung auf die gesamte arbeitende Klasse niedersausen lässt.
Aber freilich: die heutige Sozialdemokratie ist andererseits eine ganz andere Macht im Staate als Anno 1878! Damals hatten wir nahezu eine halbe Million sozialdemokratische Wähler rekrutiert und etwa 50.000 gewerkschaftlich organisierte Arbeiter. Heute zählen wir 3 ½ Millionen Wähler oder, wenn man die Anzeichen aller jüngsten Ersatzwahlen richtig deutet, wohl mindestens 4 Millionen, und die festgefügten freien Gewerkschaften umschließen eine stolze Armee von 2 Millionen Organisierter! Was das im Ganzen des öffentlichen Lebens heutzutage bedeutet, begreift man nur, wenn man bedenkt, wie viele weitere Anhänger der Sozialdemokratie noch hinter diesen Zahlen stehen. Zieht man in Betracht die starke Schicht der Proletarier zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr, die von dem heutigen Staate als „politisch unreif“ vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, unter denen aber die Befreiungs- und Kampfbotschaft der Sozialdemokratie ihre feurigsten und zahlreichsten Bekenner hat; erinnert man sich ferner der gewaltigen Scharen der arbeitenden und ausgebeuteten Frauen, die ebenfalls des Wahlrechts beraubt sind und die bereits begriffen haben, dass ihr Platz im Lager der um Menschenrechte ringenden männlichen Klassengenossen ist, so muss man zu dem Schlusse kommen, dass die Sozialdemokratie heute in Deutschland, bescheiden gerechnet, ein Heer von 10 Millionen Erwachsener beider Geschlechter gesammelt hat.
Zehn Millionen reife Männer und Frauen, fast die Hälfte der gesamten erwachsenen Bevölkerung, und dazu die tüchtigsten, denkfähigsten, opferfreudigsten, von Idealismus durchtränkten – die echtesten Vertreter der Kultur in Deutschland, die Kraft und die Blüte der deutschen Nation! Man versuche, diese Blüte der Nation, diese gewaltige, millionenköpfige Masse unter ein Ausnahmegesetz zu stellen, vom Bürgerrecht auszuschließen, in Acht und Bann zu tun! Die blindwütenden Arbeiterfeinde mögen es wagen, sie werden alsbald zu ihrem Schrecken erfahren, dass ein solches Experiment diesmal nicht mehr zwölf Jahre dauern könnte, ja nicht einmal zwölf Monate zu dauern brauchte, und dass seine Folge eine gewaltige Katastrophe wäre, in der die ganze junkerlich-polizeilich-scharfmacherisch-monarchische Herrlichkeit des neuen Deutschen Reiches in Trümmer fallen würde. Ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie heutzutage wäre der Anfang vom Ende des herrschenden politischen Regimes!
Nicht wir Sozialdemokraten, nicht die Arbeiter sind es, die das blutige Phantom brutaler Kraftproben, reaktionärer Staatsstreiche, antisozialistischer Ausnahmegesetze oder gewerkschaftsfeindlicher Zuchthausvorlagen zu fürchten haben. Im Gegenteil: mit ruhiger Gelassenheit, mit unbeugsamer Entschlossenheit und festem Mute können wir auf unserem bisherigen Wege weiter schreiten. Nicht das leiseste Schwanken, nicht das geringste Zurückweichen dürfen die Drohungen und Hetzereien der Scharfmacher im Lager der kämpfenden Arbeiterklasse hervorrufen. Die Ausgebeuteten können und wollen nicht den kleinsten Teil ihres Rechtes auf die Straße, der vollen Ausnutzung des Koalitionsrechtes fahren lassen. Nur ein Ergebnis darf der schneidende Sturmwind der Reaktion auf Seiten der Proletarier erzielen: er muss die Massen der Ausgebeuteten noch unwiderstehlicher ins Lager der Sozialdemokratie treiben, sie immer fester zusammenschließen, sie noch stärker zum Klassenkampf aufpeitschen. Bald werden – so hoffen wir – mit dem Wiedererwachen des preußischen Wahlrechtskampfes neue machtvolle Straßendemonstrationen, bald werden die Reichstagswahlen, bald werden laute Rufe nach der Republik bei jeder Gelegenheit den Herrschenden zeigen, dass die Arbeiterklasse auf alle reaktionären Drohungen und Provokationen keine andere Antwort hat als – die geballte Faust.
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