[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 13, 26. Juni 1895, S. 97 f.]
Noch auf dem vorjährigen Kongress der Evangelisch-Sozialen wiesen die um Stoecker entrüstet das Ansinnen zurück, Frauen zum Wort kommen zu lassen. Den Glanzpunkt ihres diesjährigen Kongresses, der kürzlich zu Erfurt tagte, bildete dagegen ein Referat über die Frauenfrage, das eine Frau, Frau Gnauck-Kühne aus Berlin erstattete. Welche Wendung durch Stoeckers Fügung!
Wir behalten einem späteren Artikel eine eingehende Kritik des Referats vor bzw. der Leitsätze, welche Frau Gnauck-Kühne im Gemeinschaft mit dem Korreferenten, dem neuen Luther a. D., aufgestellt hat. An dieser Stelle nur soviel, dass das Referat sehr viel Richtige und manches Ausgezeichnete enthält, dass aber die Leitsätze dagegen einen wahren Rattenkönig von Halbheiten und Schiefheiten darstellen. Erklärlich genug. Frau Gnauck-Kühne ging von der durchaus richtigen Auffassung aus, dass wirtschaftliche Ursachen, dass die vollzogenen Umwälzungen der Produktionsverhältnisse die moderne Frauenfrage gezeitigt haben. Aber sie drückte sich des Weiteren um die logischen Schlussfolgerungen ihrer eigenen Vordersätze herum. In den Leitsätzen aber wird die Lösung der Frage nicht von der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaftsverhältnisse erwartet, welche durch die Revolutionierung der Produktionsbedingungen angebahnt und unabweisbare Notwendigkeit geworden ist. Die Kraft des „lebendigen Christentums“ soll vielmehr diese Lösung bringen. Diese Schlussfolgerung der Leitsätze ist eine willkürliche, sie steht ohne Zusammenhang mit den ursächlichen treibenden Kräften der bürgerlichen wie proletarischen Frauenbewegung und wird durch die Geschichte der christlichen Kirche Lügen gestraft.
Weit wichtiger, als das, was Frau Gnauck-Kühne gesprochen und was die Leitsätze besagen, ist der Umstand, dass überhaupt eine Frau auf dem evangelisch-sozialen Kongress gesprochen hat. Berufene Vertreter und Vorkämpfer der protestantischen Kirche haben damit den so lange mit der Zähigkeit festgehaltenen und verteidigten Grundsatz preisgegeben „mulier taceat in ecclesia“, die Frau soll in der Gemeinde schweigen. An dieser Tatsache wird nichts dadurch geändert, dass sich der Kongress in den angenommenen Leitsätzen erklärte gegen „die von einem Teil der Frauenbewegung, besonders im Auslande und in der Sozialdemokratie geforderte völlige soziale und politische Gleichstellung. der beiden Geschlechter“. In Wirklichkeit hat der evangelisch-soziale Kongress, haben einflussreiche protestantische Kreise das Prinzip durchlöchert, dass die Frau nichts in der Öffentlichkeit zu suchen, dass sie sich nicht um öffentliche Angelegenheiten zu kümmern habe. Mag man sich innerhalb dieser Kreise einstweilen noch so entschieden gegen weitere Konsequenzen des getanen ersten Schrittes sperren: man muss diese Konsequenzen ziehen und man wird sie ziehen. Die weitere Zuspitzung der wirtschaftlichen und sozialen Kämpfe bringt auch in Deutschland die Frauenfrage mehr und mehr in Fluss. Die protestantische und jede andere Kirche wird damit in die Zwangslage versetzt, zu wählen zwischen dem sicheren Schwinden ihres Einflusses auf die Frauenkreise oder aber ihrem Frieden mit den frauenrechtlerischen Forderungen, auch den „extremsten“. Das Beispiel amerikanischer Sekten und Kirchen zeigt die soziale Anpassungsfähigkeit der christlichen Lehre auch nach dieser Seite hin: Geistliche verschiedenen Bekenntnisses eröffnen z. B. mit Gebet die Sitzungen frauenrechtlerischer Kongresse, welche das Stimmrecht für das weibliche Geschlecht fordern etc. Die Kirche hat sich unter dem Druck der Notwendigkeit noch mit allen sozialen Formen und Erscheinungen abgefunden, welche die wirtschaftlichen Verhältnisse ohne ihr Zutun und oft sehr gegen ihren Willen zeitigten.
Welchem Umstand aber ist es zuzuschreiben, dass der evangelisch-soziale Kongress in Sachen der Frauenfrage heute anbetet, was er voriges Jahr verbrannte, und verbrannt, was er voriges Jahr anbetete? Welchem Umstand ist es zuzuschreiben, dass die Stoeckerlinge heute das Auftreten einer Frau auf ihrem Kongresse als ein für die protestantische Kirche epochemachendes Ereignis feiern, während sie einem solchen Auftreten noch vor Jahresfrist das „anathema sit“ – es sei verflucht – zu donnerten? Dem nämlichen Umstände, welcher die christlich-soziale Partei, welcher die evangelisch-sozialen Kongresse ins Leben gerufen: der Furcht vor dem Umsichgreifen der sozialistischen Idee.
Wohl fehlt es in der christlich-sozialen Bewegung nicht an Elementen, welche ein offenes Auge dafür haben, dass die für die Frauenwelt in der Neuzeit geschaffene Lage eine Erweiterung der Tätigkeit und der Rechte des weiblichen Geschlechts fordert. Und wenn Herr Stoecker und seine Erwerbs- und Ideengenossen heute auf einmal hören, „dass die Frauenfrage an die Tür des Evangeliums klopft“ -, so doch nur, weil der lutherisch-demagogische Klüngel Zeuge ist, dass die Frauenwelt in Masse nebenan durch das offene Tor wandelt, das zum Sozialismus führt. Denn hat nicht jahrhundertelang die Frau demütig bittend und inständig heischend an die nämliche Tür geklopft, ohne dass ihr geöffnet wurde? Und hat nicht noch voriges Jahr der eidfreudige Führer der Evangelisch-Sozialen das Klopfen gehört, ohne sich als Evangeliumspförtner berufen zu fühlen, den Frauen das verschlossene Tor aufzutun? Die Ausbreitung und Einwurzelung der sozialistischen Überzeugungen in der proletarischen Frauenwelt hat den Evangelisch-Sozialen bezüglich der Frauenfrage den Star etwas gestochen. Wie guter Rat über Nacht ist ihnen die Erkenntnis gekommen, dass es in unserer Zeit eine „Frauenfrage“ gibt, über welche man nicht mit Phrasen hinwegkommt, und dass die veränderte Lage des weiblichen Geschlechts gewisse Reformen zu dringendster Notwendigkeit heranreifen lässt.
Dreimal töricht wäre allerdings die proletarische Frau, wollte sie sich auf Irrwege locken lassen durch das schwache, unsichere Leuchten sozialen Verständnisses, das bezüglich ihrer Interessen auf dem Kongress derer um Stoecker und Naumann empor dämmerte. Denn wie die Sympathie für die Frauenfrage im Lager der Christlich-Sozialen aus der Furcht vor der Sozialdemokratie geboren ist, so würde sie auch tatenlos mit der Furcht vor der Sozialdemokratie sterben. Wie mit anderen Strömungen, welche sich mit einem Tropfen sozialen Verständnisses oder einem Tröpfchen sozialistischen Öls salben, so wäre es auch mit dem Eintreten der Christlich-Sozialen für Reformen zu Gunsten der Frau aus und vorbei, sobald das leidende Proletariat aufhörte, das klassenbewusst kämpfende Proletariat zu sein, sobald es abrüstete, uni seine Befreiung nicht durch den Kampf von Klasse zu Klasse zu erringen, sondern durch die Kraft ideologischer Flausen zu erharren.
Revolutionierend wirkt eine kraftvolle sozialistische Bewegung innerhalb der bürgerlichen Kreise auf die Auffassung sozialer Erscheinungen ein. Und durch diese ihre Macht trägt sie wesentlich zur Zersetzung der bürgerlichen Welt und ihrer Parteien bei. Dies gilt auch für die Haltung des evangelisch-sozialen Kongresses zu Erfurt bezüglich der Frauenfrage. Kaum dass er, wach gepeitscht durch die Fortschritte des Sozialismus in der proletarischen Frauenwelt, ein Fünkchen Verständnis gezeigt, sind sich auch schon die frommen Brüder in Christo in die Haare gefahren, ist der Familienzwist im Hause der Konservativen entbrannt. Das Stoeckersche „Volk“ tanzt in Verzückung vor dem „Triumph einer großen Idee“, vor der „Geburtsstunde einer großen Bewegung“. Die „Kreuz-Zeitung“ dagegen, das Blatt der gottesfürchtigen und dreisten Junker vom Schlage des ehrenwerten Hammerstein ist voller Gift und Galle ob des vollzogenen Paktierens mit frauenrechtlerischen Forderungen. Auch dieser kleine Hauskrieg – wie andere seinesgleichen, trägt zur Schwächung der waschechten „ordnungsparteilichen“ Streitkräfte bei, damit zur Erleichterung des proletarischen Befreiungskampfes. Als lachende Dritte wohnen ihnen die Männer und Frauen des Proletariats bei.
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