[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 21. Jahrgang, Nr. 1, 10. Oktober 1910, S. 1-3]
In der bürgerlichen Presse ist dem Parteitag zu Magdeburg eine dichte Staubwolke von Wertungen und Prophezeiungen voraus gewirbelt, bei denen offensichtlich der Wunsch nach Mauserung oder Spaltung der Sozialdemokratie der Vater des Gedankens war, und die gleiche Staubwolke ist ihm dort gefolgt. Das Bild der Arbeit, der Bedeutung der Tagung vermochte sie nicht einmal vorübergehend zu trüben. Zu klar trat es bei den bürgerlichen Meinungsäußerungen zutage, dass das, was der sozialdemokratischen Partei eigentliches und bestes Wesen ist, in der Welt der „Staatserhaltenden“ noch immer nicht begriffen wird. So taumelt dort das Urteil über die Entwicklung der Sozialdemokratie stets nur von einer alten falschen Hoffnung zu einem neuen Irrtum.
Freilich: ein friedlicher und ruhiger Parteitag ist es nicht gewesen, der am Ufer der Elbe verhandelt und beschlossen hat. Allein er war Besseres als das: eine Tagung grundsätzlicher und taktischer Klärungen und Entscheidungen, kraftvoller Entschlossenheit. Darum wird er auch gerade für das weitere gesunde Leben der Partei in dem fruchtbar sein, was am heißesten im Verlauf der Verhandlungen umstritten worden ist. Bis jetzt sind noch immer die wichtigsten Entscheidungen für das Sein und Tun der Sozialdemokratie in leidenschaftlichem Ringen der Überzeugungen gefallen.
Entgegen unseren Wünschen haben die Auseinandersetzungen über die Budgetfrage nicht nur den breitesten Raum in den Magdeburger Verhandlungen gefordert, sondern auch unstreitig den Hauptteil des Interesses und der Energie der Delegierten absorbiert. Nach der Lage der Dinge war das unvermeidlich geworden. Die Budgetfrage trat nicht als eine abstrakte Doktorfrage vor die Sozialdemokratie. Sie war mit bestimmten Vorgängen und Strömungen innerhalb unserer Reihen verknüpft und musste im Zusammenhang damit erfasst werden. Die übergroße Mehrheit der Partei konnte demzufolge in der Budgetbewilligung der badischen Landtagsfraktion – und ihrem Anhängsel, der „Hofgängerei“ – nicht eine beiläufige Handlung erblicken, die unter dem Zwange außerordentlicher Umstände im Gegensatz zu Prinzip und Taktik erfolgt war, wie sie bisher galten. Sie musste die Vorgänge vielmehr als eine bewusste und gewollte Abkehr von Prinzip und Taktik werten, als eine Frucht des Revisionismus, der die Sozialdemokratie auf einen Boden und in Aktionsbahnen drängen will, die sich nicht mit ihrem Charakter als der Partei des organisierten proletarischen Klassenkampfes vertragen. Durch den Disziplinbruch und die erhobene Forderung, Dinge von der Tragweite der aufgerollten Fragen von den einzelnen Landsmannschaften beziehungsweise Landtagsfraktionen und nicht von der Gesamtheit der Partei entscheiden zu lassen, wurden die zersetzenden, auslösenden Tendenzen der revisionistischen Strömungen scharf beleuchtet. Nicht eine Theorie, die Einheit und Geschlossenheit der Partei war es, die deren Mehrheit bedroht fühlte.
Solange der Revisionismus in der Theorie sich austobte, sich mühte, den stolzen, fest gegliederten Bau der marxistischen Auffassung zu zerbröckeln, hatten die Massen der Genossen im allgemeinen verhältnismäßig ruhig zugesehen und den heißen Streit der Meinungen oft genug nur als eine „Spielerei der Akademiker“ betrachtet. Wie anders, als der Revisionismus auf politischem Gebiet die Theorie in eine hervorstechende Tat umsetzte, die mit ihren Folgen das starke, organische Gefüge der Partei gefährdete. Eine tiefe Erregung bemächtigte sich der Mehrheit der Genossen, ein mächtiger Protest erhob sich aus ihren Reihen. Erklärlich genug. Bei aller Anregung und Förderung – man ist versucht zu sagen Lebensluft –, welche die Theorie des Sozialismus gerade in Deutschland dem kämpfenden Proletariat verdankt, ist diese Theorie doch die Schöpfung einzelner, die den Massen wegbeleuchtend voranschreiten. Die Einheit und Geschlossenheit der Partei, ihre Kraft und Größe ist dagegen der Massen ureigenstes Werk, zu dem jeder einzelne, wenn auch ungenannt und unbekannt, opferfreudig, tatkräftig sein Bestes beigetragen hat. Und wahrhaftig: es ist ein gewaltiges Werk wie kein zweites, dessen die klassenbewussten proletarischen Massen Deutschlands sich rühmen dürfen. Das richtige Augenmaß für diese ihre unsterbliche geschichtliche Leistung erhält man, wenn man die vom sozialistischen Geiste erfüllten Kampfesorganisationen des deutschen Proletariats nach Kraft und Gehalt mit der sozialistischen Bewegung solcher Länder vergleicht, wo Generalstäbe hervorragender Persönlichkeiten vorhanden sind, aber das eigentliche Werk der Massen aus den verschiedensten Umständen noch fehlt. Die Einheit und Geschlossenheit der deutschen Sozialdemokratie ist ja mehr als ein sinnreich gefügter organisatorischer Aufbau, es ist das bedeutsamste Stück bewussten geschichtlichen Klassenlebens der Proletarier Deutschlands selbst, ist die zu Fleisch und Blut verkörperte Idee ihres Befreiungskampfes Nur wenn man die Budgetbewilligung in Baden mit ihrem gesamten Um und Auf im Lichte der aufgezeigten Zusammenhänge betrachtet, versteht man die Erregung, um nicht zu sagen Erbitterung, die sie in breiten Schichten der Parteigenossenschaft ausgelöst hat, vermag man den Verlauf der Auseinandersetzungen über die Budgetfrage richtig zu würdigen.
Um der Einheit und Geschlossenheit der Partei willen war die Majorität revisionistischen „Extratouren“ führender Genossen oder einzelner Gruppen bisher nicht mit aller Entschiedenheit entgegengetreten. Die hervortretenden Gegensätze waren abgestumpft, nicht ausgetragen worden. Nun aber, da der Revisionismus die Einheit und Geschlossenheit der Partei selbst in Frage stellte, musste eine unzweideutige Entscheidung fallen. Gewiss: es ist in Magdeburg heftig, leidenschaftlich um diese Entscheidung gekämpft worden. Jedoch nichtsdestoweniger im Allgemeinen mit der größten Sachlichkeit und der Bekundung brüderlicher Gesinnung. Was anderes denn als brüderliches Entgegenkommen hatte die Majorität bestimmt, ihren Zusatzantrag zur Resolution des Parteivorstandes zurückzuziehen? Es bedurfte der Provokation von Seiten des Genossen Frank, der das Entgegenkommen als einen Rückzug der Mehrheit verhöhnte, um nach der unzweideutigen sachlichen Absage an die revisionistische Praxis noch ihre klipp und klare formelle Verurteilung herbeizuführen. Äußerungen des Genossen Frank, die seither bekannt geworden sind, Ausführungen des „Volksfreund“ in Karlsruhe haben bekräftigt, wie notwendig es war, dass die Mehrheit zähe auf einem Beschluss bestand, der die ernsteste Mahnung zur Respektierung des Willens der Gesamtpartei enthält.
Zwei Tatsachen verdienen dabei besondere Erwähnung. Es sind die Massen der Parteigenossen selbst gewesen, nicht ihre theoretischen und politischen Führer, die dem Revisionismus seine erste große Niederlage auf dem Gebiet der politischen Praxis beigebracht haben. Das feststellen heißt nicht etwa unterschätzen, was führende Theoretiker und Politiker jetzt und all diese Jahre im Kampfe gegen den Revisionismus und für die grundsätzliche Schulung des Proletariats geleistet haben, es heißt nur der ausschlaggebenden Rolle einer prinzipiell klaren Mehrheit in der Partei gerecht werden. Es war der feste Zusammenhalt und das planmäßige Vorgehen der Vertreter dieser Mehrheit auf dem Parteitag, die den Sieg gesichert haben. Der Kampf um die Budgetfrage, der in Magdeburg seinen Abschluss fand, hat in der Folge sicherlich das Macht- und Verantwortlichkeitsgefühl der politisch organisierten Massen gesteigert, ebenso ihre Erkenntnis von der Notwendigkeit engen Zusammenschlusses und systematischer Geltendmachung ihres Einflusses. Ein hoffnungsreicher Ausblick auf die Zukunft. Wir würden die geschichtlichen Wurzeln der revisionistischen Strömungen übersehen, wollten wir uns der freundlichen Illusion hingeben, dass mit dieser einen gewonnenen Bataille das Geschick des Opportunismus in unseren Reihen für immer besiegelt sei. Die wahre, dauernde Kraft zu seiner Überwindung liegt aber nicht in Parteitagsresolutionen, so tadellos sie gefasst sein mögen, sondern in der geklärten Auffassung der Massen und ihres stahlharten Willens zur Aufrechterhaltung der grundsätzlichen Richtlinien ihres Kampfes. Es wäre töricht, sich der Erkenntnis zu verschließen, dass die unbeugsame Entschlossenheit der Mehrheit in Magdeburg mehr als einem tüchtigen Mitstreiter vorübergehend wehe tun muss. Die Politik ist „kein Kindersüßen“. Trotzdem hat diese „dogmatische Hartnäckigkeit“ mehr dazu getan als jede blumige Verhüllung der Gegensätze, der Gefahr einer Spaltung in der Partei vorzubeugen. Nicht zerrissen, geschlossener ging die Sozialdemokratie aus dem harten Kampfe der Meinungen hervor. Das wurde feierlich mit den Erklärungen bekräftigt, durch welche süddeutsche Vertreter des Minoritätsstandpunktes ihre volle brüderliche Solidarität mit den preußischen Wahlrechtskämpfern versicherten.
Es liegt in der Natur der Menschen und Dinge, dass nach den erschöpfenden Debatten um die Budgetbewilligung die preußische Wahlrechtsfrage nicht in ihrer ganzen Tiefe und Breite aufgerollt wurde. Immerhin hat ihre Behandlung ein wichtiges Resultat gezeitigt. Mit ihrer Forderung, den Gedanken des Generalstreiks vor den Massen zu erörtern, ihn unter diesen zu propagieren, zog die Resolution der Genossin Luxemburg scharf die Konsequenzen der letzten Phase des preußischen Wahlrechtskampfes. Die Resolution ward zum Mittelpunkt einer Auseinandersetzung, die ungemein aufrüttelnd und anregend auf die proletarischen Massen außerhalb des Parteitags zurückwirken wird. Das aber nicht nur durch die Gedankenreihen, welche von denen aufgestellt wurden, die mit Genossin Luxemburgs Auffassung übereinstimmen, sondern sicherlich nicht weniger durch die recht schiefen Argumente der Gegenseite. Das positive Ergebnis der einschlägigen Debatten – die Annahme des ersten Absatzes der Resolution Luxemburg, deren zweiter Teil zurückgezogen wurde – ist gewiss beachtenswert und bedeutet einen wesentlichen Fortschritt über den Beschluss von Jena hinaus. Der Massenstreik ist ausdrücklich als Kampfeswaffe anerkannt worden, die gegebenenfalls im preußischen Wahlrechtskampf zur Anwendung kommen kann und kommen muss. Jedoch bedeutsamer noch dünkt uns, dass die Resolution von vornherein 62 Unterschriften erhalten hatte, und dass von der Tribüne des sozialdemokratischen Parteitags herab, von der die Worte weithin hallen, die Aufmerksamkeit der größten Kreise Werktätiger auf die im Proletariat schlummernde Macht gelenkt ward, die den Massenstreik im Kampfe wirksam werden lässt. Die Verhandlungen haben damit erreicht, was die Resolution im Wesentlichen bezweckte: dem Bereitmachen, dem Bereitsein der Massen vorzuarbeiten, die in der umstrittenen Frage das letzte entscheidende Wort haben.
Der frische, kraftgeschwellte Kampfesgeist des revolutionären Proletariats, der heuer stärker als in manchen Vorjahren die Tagung der Sozialdemokratie belebte, kam auch in dem Bericht über den Internationalen Kongress zum Ausdruck, sprühte aber vor allem in dem Bericht der sozialdemokratischenReichstagsfraktion. Die Abrechnung mit der gesamten Politik der ausbeutenden und herrschenden Klassen wie mit dem persönlichen Regiment war von erquickender Schneidigkeit und Wucht. Die Entschiedenheit, mit der Genosse Noske die demokratische Republik als eine der wichtigsten Losungen des nächsten Wahlkampfes proklamierte, hat weit über den Parteitag hinaus ein freudiges Echo bei allen gefunden, die sich klar darüber sind, dass das persönliche Regiment der persönliche Feind des kämpfenden Proletariats ist, dass die Monarchie in Deutschland als stärkste Trutzveste die Interessen der besitzenden Minderheit schirmt. Das treffliche Referat über die Reichsversicherungsordnung, die Resolution gegen die Vernichtung der politischen Freiheiten Finnlands und den Besuch des Henkerzaren inDeutschland nebst ihrer prächtigen Begründung, die andere gegen die Fleischteuerung und ihre agitatorisch wirksame Befürwortung: schließen sich den übrigen Rufen zu Rüstung und Kampf würdig an.
Neben den Fanfaren zum Aufmarsch in die Schlachtlinie die eindringlichen Mahnungen zu ruhiger, stiller, aber zielklarer Arbeit. An erster Stelle sei in diesem Zusammenhang der Behandlung der Genossenschaftsfrage gedacht, die durch ein lichtvolles, prinzipiell wohl erwogenes Referat eingeleitet wurde. Nach allem, was wir in den vorausgegangenen Nummern dieses Blattes zur Frage selbst geschrieben haben, brauchen wir heute den Genossinnen nur eines hinzuzufügen: „Seid Täter des Wortes und nicht Hörer allein!“ Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass im Anschluss an die Berichte des Parteivorstandes und der Reichstagsfraktion, sowie an vorliegende Anträge eine Reihe von Beschlüssen gefasst worden sind, die die Ausgestaltung der Organisation und Presse, die Förderung der Agitation, den Kampf für Reformen usw. betreffen. Der Parteitag zu Magdeburg hat sein gut Maß fleißiger, einsichtsvoller Kleinarbeit geleistet, er hat darüber hinaus weittragende Entscheidungen gebracht, die ihn den wichtigsten seiner Vorgänger in der Geschichte der Sozialdemokratie zur Seite stellen. Das klassenbewusste Proletariat Deutschlands kann mit seinem Werke vollauf zufrieden sein.
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