[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 9, 1. Mai 1895, S. 65 f.]
Im Zeichen der Umsturzvorlage begeht diesmal das deutsche Proletariat seine Maifeier. Dieser Umstand gibt ihr eine besondere Bedeutung und wird ihr allerorten ein besonders energievolles und streitbares Gepräge aufdrücken. Umsturzvorlage und Maifeier ragen empor als zwei Wahrzeichen der Klassenkämpfe unserer Zeit. Beredt kündet das Eine den schnellen Verfall, das Abwärts im Lager des ausbeutenden Kapitals: markig erzählt das Andere von dem kraftstrotzenden Emporblühen, dem Aufwärts im Lager der ausgebeuteten Arbeit.
Blöd verständnislos und protzig gewalttätig steht der kleine Klüngel der Reichen und Mächtigen dem geschichtlichen Werden gegenüber. Aus den Schrei der rackernden, darbenden und verknechteten Masse nach Brot, Bildung und Freiheit hat er nur eine Antwort: den Appell an die brutale Gewalt, über die er einstweilen noch verfügt. Was nicht den engherzigsten Augenblicksinteressen der Besitzenden frommt, das verfolgen sie mit tödlichem Hass, was sie nicht begreifen, wollen sie vernichten.
Auf Schritt und Tritt grinst ihnen der Widersinn, die Ungerechtigkeit der heutigen Gesellschaft entgegen, fressende Übel fordern durchgreifende Reformen heraus, damit die blind waltende wirtschaftliche Entwicklung nicht breite Schichten des Proletariats zu Kulturdünger zerstampft. Denen aber, so im Besitz und in der Macht sind, wiegt das Interesse des Kulturfortschritts auch nicht ein Titelchen des kapitalistischen Profits auf: schrankenlos wollen sie ausbeuten, schrankenlos wollen sie herrschen.
Die moderne Produktionsweise entfesselt Kräfte, welche in wirtschaftlicher Beziehung der kapitalistischen Gesellschaft den Boden abgraben. Erzeugt, großgezogen, geschult und kampfesgestählt von den sozialen Verhältnissen reift in dem Proletariat eine neue geschichtliche Macht heran, welche den Bevorrechteten in politischer Beziehung das Heft aus den Händen windet und sich betätigt als Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft, als Geburtshelfer einer neuen Zeit. Die Nutznießer aber der heutigen Ordnung der Dinge wähnen mit Hilfe von Büttel, Zensor und Staatsanwalt dem Land und Meer der geschichtlichen Entwicklung gebieten zu können. Bedrängt von dem naturgemäßen, gesetzmäßigen, gesellschaftlichen Fortschritt verlassen sie unter Hussah und Hurrah gegen den drohenden „Umsturz“ mehr und mehr den Boden ihrer eigenen Gesetzlichkeit, hämmern sie ein neues Recht, das der Masse gegenüber schnödes Unrecht, schreiende Rechtlosigkeit bedeutet, predigen sie skrupellos den Umsturz von oben, geben sie leichten Herzens die Errungenschaften preis, die sie, kaum ist der Schall der Worte verklungen, als unerlässliche Voraussetzungen jeder Kultur überschwänglich lobten.
Das Bürgertum aber, das seinerzeit die Menschheit zur Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu führen versprochen, es tanzt dem reaktionären Cancan vor. Die tyrannenhassenden „Idealrepublikaner“ des Gestern und Ehegestern sind bereit, als „Vernunftmonarchisten“ dem kaum verhüllten Absolutismus zuzujauchzen und die dürftige politische Volksfreiheit in die Hände schneidiger Polizeier, spitzfindiger, auslegungsfreudiger Juristen und eventuell standrechtelnder Generäle zu legen. Die Leuchte der Aufklärung und Wissenschaft, welche sie dem Volke voran zu tragen verhießen, legen sie demütig nieder zu den Füßen des schachernden Zentrums, das mittelalterliche Köhlergläubigkeit dem Jahrhundert Darwins auferzwingen möchte, und statt Idealen zu huldigen kreisen sie im rasenden Wirbel um das goldene Kalb. Mit der Umsturzvorlage drücken die Besitzenden und Herrschenden selbst das Siegel unter die politische Bankrotterklärung, welche ihnen die Zeitgeschichte schreibt, sie bestätigen mit ihr, dass sie unfähig sind, der Zukunft durch bewusstes Tun die Wege zu ebnen, unfähig sogar, die treibenden Kräfte der gesellschaftlichen Entwicklung auch nur zu verstehen.
Jugendfrisches geschichtliches Leben pulsiert dagegen in der proletarischen Maifeier. Soweit das Volk der Arbeit unter kapitalistischer Fuchtel frondet, diesseits und jenseits der Meere, über Gebirge und bunte Grenzpfähle hinweg, da gibt es am 1. Mai seine klare Erkenntnis kund, dass die Befreiung des Proletariats nur das Werk des Proletariats selbst sein kann. Und mit seiner klaren Erkenntnis zusammen verkündet es seinen festen, unerschütterlichen Willen, in zielbewusster, harter Arbeit seines Glückes Schmied sein zu wollen.
Das Klatschen der kapitalistischen Hungerpeitsche und das Säbelrasseln der staatlichen Gewalten übertönt sein Kampfesruf: Fort mit der kapitalistischen Gesellschaft der Ausbeutung und Ungerechtigkeit, des Märchenreichtums der Wenigen, der Riesenarmut der Vielen! Nieder mit der Klassenherrschaft der Besitzenden, welche der Masse den Sonnenschein der Kultur vorenthält! Her mit all den Reformen, welche den Männern und Frauen der Arbeit die körperliche, geistige und sittliche Kraft erhalten, welche ihnen die Ellbogenfreiheit verbürgen, ihre volle Menschwerdung durch Zertrümmerung des kapitalistischen Jochs erkämpfen zu können! In rosiger Morgendämmerung leuchtet der Arbeit das Ziel der geschichtlichen Entwicklung. In klaren Umrissen zeichnet sich ihr der Weg, den sie leidend und kämpfend entlang marschiere muss. Aber sie fordert von der kapitalistischen Gesellschaft als Abschlagszahlung auf ihre Riesenschuld die Wegzehrung, welche die Männer und Frauen des Proletariats vor dem Verschmachten schützt. Die Arbeiterklasse fordert den Achtstundentag, sie heischt durchgreifenden gesetzlichen Arbeiterschutz, sie verlangt volle Vereins- und Koalitionsfreiheit, sie weiß eine Verkümmerung des Wahlrechts abzuwehren, ihr Kampf wird den Weltfrieden bringen. Die proletarischen Männer und Frauen sind nicht träumerische Wolkenkuckuckswandler, welche über den Tapetenmustern und den Falten der Gewänder im Zukunftsstaate die Gegenwart mit ihren praktischen Notwendigkeiten vergessen. Aber ebenso wenig praktisch – kleinliche Rechnungsträger, welche über den dringenden Augenblicksaufgaben das große Endziel auch nur vorübergehend außer Acht lassen. Und was sie wissen, was sie wollen, es ist die einheitliche Erkenntnis des Weltproletariats, es ist der einheitliche Wille der Ausgebeuteten aller Länder. Brüderlich geeint in der Wahrheit des Ziels, brüderlich geeint in der Betätigung des Willens, ziehen sie vorwärts, aufwärts, ihrer Befreiung entgegen.
Nicht eine Feier wie eine andere ist deshalb der Maitag, wo die Arbeit der kapitalistischen Gesellschaft ihre Forderungen zuruft. Der Maitag der Arbeit ist und bleibt trotz der friedlichsten Form eine Schilderhebung des klassenbewussten Proletariats, eine dem Wesen nach revolutionäre Kundgebung gegen die kapitalistische Gesellschaft. Eine revolutionäre Kundgebung, welche im schroffsten Gegensatz steht zu der reaktionären Willensäußerung der Besitzenden in der Umsturzvorlage. Denn sie offenbart das geschichtliche Drängen und Knospen im geknechteten Proletariat, wo diese nur den Verfall der knechtenden Kapitalistenklasse kundtut.
Seiner geschichtlichen Erkenntnis froh, seines festen Willens sicher, hoffnungsfreudig in die Zukunft schauend, mit ruhiger Besonnenheit die Gegenwart abwägend, manifestiert das deutsche Proletariat im Schatten der Knebelungsvorlage. Mögen die herrschenden Gewalten noch so protzig au den Knauf ihres Schwertes schlagen, mag noch so herausfordernd das Pochen der Hämmer tönen, mit denen man der werktätigen Masse neue Ketten schmieden will. Das deutsche Proletariat lässt sich nicht reizen und nicht schrecken. Mit den Brüdern und Schwestern der Arbeit und des Elends aller Länder durch den Druck gleicher Klassennot zusammengeschweißt zu der einen revolutionären Macht, steht es am 1. Mai, steht es allezeit auf dem Plan, der kapitalistischen Gesellschaft zum Trutz, der Arbeit zum Schutz.
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