Clara Zetkin: Ein Rückblick

[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 20. Jahrgang, Nr. 26, 26. September 1910, S. 401 f.]

Die letzte Nummer der „Gleichheit“ musste abgeschlossen werden, ehe der Kongress zu Kopenhagen sein Werk vollendet hatte. Wenn unser Rückblick darauf auch reichlich spät hinter den Würdigungen der Tagespresse nachhinkt, so scheint es uns schon aus dem Grunde nicht überflüssig, weil viele unserer Leserinnen leider nicht eingehend genug die Tagespresse verfolgen.

Betrachtet man den Kongress in dem wundervollen Lichte der Eröffnungs- und Schlusssitzung, lässt man den Blick auf der gewaltigen Zusammenfassung der kämpfenden Arbeiterklasse aller Staaten, Erdteile, Nationen, Rassen ruhen, die von der einen Erkenntnis durchdrungen zu der einen großen geschichtlichen Tat ausholt: so ist der Eindruck ein erhebender, ein überwältigender. Was kann die bürgerliche Welt mit den Zerklüftungen und Abgründen ihrer Klassengegensätze, die je länger je mehr alle großen, einigenden Ideologien verschlingen, um nur die eine reale Einheit des brutalen Willens zur Ausbeutung und Beherrschung der emporsteigenden Massen übrig zu lassen, was kann sie der brüderlichen Geschlossenheit der sozialistischen Internationale des Proletariats an die Seite stellen? Was dem Gehalt dieses Bundes, dessen Ziel ist, die Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit zu führen und zur bewussten Herrin ihres Geschicks zu machen, und der daher je länger je mehr zum wichtigsten Träger aller Kulturideale wird. Das hat der Kopenhagener Kongress gleichsam in einem farbenprächtigen Freskogemälde gezeigt. Die demonstrative, agitatorische Seite einer internationalen Tagung des Proletariats ist in Kopenhagen voll und schön zum Ausdruck gekommen. Allen, denen das ausbeutende Kapital das Mark aus den Knochen, Lebenskraft und Lebensfreudigkeit aus Herz und Hirn saugt, und die sich zu klein und zu schwach zum Widerstand dünken, tönte es vom Kongress entgegen: Sehet dieses Ziel, sehet diese Macht – das Werk der Kleinen, die ihre Zahl groß, der Schwachen, die ihr Wille stark macht! Vertraut und hofft!

Jedoch nicht zur Hoffnung allein ruft die sozialistische Internationale die Enterbten, sie verpflichtet sie auch zu Arbeit, zu Kampf. Der Kopenhagener Kongress hatte daher Aufgaben zu lösen, die für Arbeit und Kampf des Proletariats aller Länder in nächster Zukunft wegweisend, anregend sein sollen. Wie sieht es mit seinem Werke im nüchternen Lichte dieser Tatsache aus? Unseres Erachtens kann es wohl bestehen, unbeschadet der Kritik, die sich bei der Würdigung seiner Leistungen aufdrängt.

Der Kongress hat vor allem in zwei wichtigen praktischen Fragen wertvolle Arbeit vollbracht. Er hat die Bedeutung geprüft, welche der Genossenschaftsbewegung für die Arbeiterklasse zukommt, und hat vom Boden dieser Bedeutung aus die Beziehungen erörtert, die zwischen den Genossenschaften und den Organisationen des kämpfenden Proletariats bestehen können und bestehen sollen. Und wenn er als Ergebnis dieser seiner Untersuchung die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Genossenschaften gegenüber den proletarischen Kampfesorganisationen betonte, so hob er nicht minder eindringlich die Verpflichtung der zielklaren Proletarier und Proletarierinnen hervor, die Genossenschaften tatkräftig zu fördern und durch ihre persönliche Betätigung als ein wertvolles Hilfsmittel dem Aufstieg der Klasse in steigendem Maße nutzbar zu machen, wie dies in Deutschland in vorbildlicher Weise die Hamburger Produktion tut. Wir bedauern, dass die Resolution zu der Frage einige Sätze enthält, die unseres Dafürhaltens deren scharfer, grundsätzlicher Wertung nicht ganz gerecht werden. Bei aller Sympathie für die Genossenschaften und der Schätzung ihrer Bedeutung vermögen wir sie nicht als Mittel zur Sozialisierung und Demokratisierung der Gesellschaft anzusprechen. Jedoch angesichts der sehr konkreten Gestalt, in der die Genossenschaftsbewegung vor das Proletariat tritt, fürchten wir nicht, dass diese Sätze verwirrend wirken, und dass die mangelhafte theoretische Formel dem guten praktischen Kern der Resolution Eintrag zu tun vermag.

Mit Befriedigung begrüßen wir auch die Entscheidung, durch welche die Internationale die außerordentlich bedauerlichen Versuche unzweideutig und mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen hat, die Gewerkschaftsbewegung Österreichs national zu zersplittern. Es ist eine der stärksten, revolutionären Seiten der Gewerkschaftsbewegung, dass sie im Kampfe gegen das ausbeutende Kapital die ausgebeuteten Massen ohne Unterschied des Bekenntnisses, der Nationalität und Rasse zusammenschweißt und als geeinte Macht ihrem Todfeind entgegenstellt. Diese ihre Wesenseigentümlichkeit – die sich aus dem Charakter der kapitalistischen Produktion selbst ergibt – darf aber zweimal nicht in einem Staatengebilde wie Österreich angetastet werden, wo die Nationalitätenfrage dem politischen Klassenkampf des Proletariats ganz außergewöhnliche Schwierigkeiten schafft. Hier hat gerade die Gewerkschaftsbewegung die bedeutsame Aufgabe, unter den Massen selbst wichtige, unentbehrliche Vorarbeit für die Überwindung solcher Schwierigkeiten zu leisten und auch dadurch ihre innerliche Einheit mit der Partei zu erweisen. Das tschechische Element ist andererseits dank historisch gegebener Bedingungen eine so wertvolle vorwärtsdrängende Kraft unter den Völkerschaften Österreichs, dass auch unter diesem Zusammenhang gefasst die organisatorische Absplitterung mit ihren unvermeidlichen Folgen über den gewerkschaftlichen Kampf hinaus eine revolutionäre Arbeiterbewegung schwer schädigen würde.

Der Kongress nahm eine Reihe von Resolutionen an, durch welche er die Solidarität der Internationale mit der jungen sozialistischen Arbeiterbewegung vieler Länder bekundet hat, ihren Protest gegen die Erdrosselung politischer nationaler Freiheiten und Rechte, gegen die Barbarei der Todesstrafe, das letzte Verlegenheitsmittel, das die heutige Gesellschaft vor ihren eigenen Zersetzungsprodukten schützen soll, der skrupellos angewandten politischen Waffe im Kampfe gegen ihre Gegner. Diese Resolutionen sind mehr als geduldige Stücke Papier, als platonische Erklärungen brüderlicher Gesinnung. Eine heiße Welle moralischer Ermutigung flutet von ihnen zu Ausgebeuteten und Geknechteten hinüber, die Kämpfende sind oder werden; den Massen allerorten aber tragen sie klärendes Licht zu über wichtige Zeiterscheinungen, die sie in ihren geschichtlichen Verknüpfungen und Entwicklungen zeigen. So gesehen, verdienen zwei Resolutionen doppelte Beachtung: die, welche das internationale Proletariat zum energischen Protest wider das zarische Attentat gegen die politischen Freiheiten Finnlands ruft, und die andere, welche es zum Kampfe gegen die Todesstrafe auffordert. Die jüngsten Verhandlungen des deutschen Juristentags haben gerade für die Arbeiterklasse Deutschlands die Dringlichkeit und Bedeutung dieses Kampfes stark unterstrichen, gleichzeitig aber auch vollauf die prinzipielle Auffassung schlagend bestätigt, von der die betreffende Resolution der Internationale diktiert worden ist.

Es ist nicht möglich, heute zu begründen, warum uns der Beschluss über die Arbeitslosenversicherung sachlich nicht befriedigen kann, nicht zum mindesten auch deswegen, weil er den gerechtfertigten Anforderungen nicht entspricht, die die Gewerkschaften erheben müssen. Die Frage soll bei gelegener Zeit von sachkundiger Seite behandelt werden. Dagegen möchten wir auf einen anderen Mangel verweisen, der bei ihrer Verhandlung zutage getreten ist. Es ist keine Prüfung der Wege erfolgt, die beschritten werden können und unter Umständen beschritten werden müssen, um die berechtigten Forderungen des Proletariats zum Siege zu führen. Es ist das die nämliche Schwäche, die uns auch bei der Erörterung der Frage der Arbeiterschutzgesetzgebung und des Kampfes gegen den Militarismus beziehungsweise den Imperialismus entgegengetreten ist. Die Internationale hat sich damit begnügt, die Auffassungen und Forderungen zu bestätigen, welche frühere Kongresse formuliert haben, und es hätte sogar nicht viel gefehlt, so wäre der Kopenhagener Kongress hinter die Resolution der Stuttgarter Tagung gegen den Militarismus zurückgegangen. Was sich aber unseres Erachtens all den angeschnittenen Fragen gegenüber aufdrängt, ist nicht die Bekräftigung unseres Standpunktes, sondern vielmehr die Auseinandersetzung über die Methoden und Mittel, hinter unseren Standpunkt die zwingende Tat zu setzen: die notwendigen und unentbehrlichen Vorstöße der politischen Vertretung der Massen in den Parlamenten durch die einheitliche, geschlossene Aktion der Massen selbst zu unterstützen und zu vervollständigen, wie sie nur das Ergebnis eines engen Zusammenwirkens der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen sein kann. Dass die Internationale zu Kopenhagen in dieser Richtung nicht einen Schritt nach vorwärts getan hat, ist von manchem unserer Organe mit dem Fehlen einer führenden Persönlichkeit erklärt worden. Wir sind darin anderer Ansicht. Nicht die führende Persönlichkeit, die führende Partei hat gefehlt. Was sich schon auf dem Stuttgarter Kongress anzukündigen begann, trat in Kopenhagen noch stärker zutage: die deutsche Sozialdemokratie schreitet der Internationale nicht mehr führend und treibend voraus, wie sie es in den Kämpfen um die Anerkennung und die Ausnützung des Parlamentarismus als unentbehrlichem weittragendem Mittel des proletarischen Emanzipationsringens getan hat. Ihre unsterbliche geschichtliche Leistung konnte nicht zur Tat werden, ohne dass der dialektische Verlauf der Geschichte auch die Schranken der von ihr glänzend erprobten Kampfesmethoden in die Erscheinung treten ließ. Die Entwicklung treibt weiter zum Gebrauch einer neuen Waffe, welche den Ausgebeuteten durch ihre Rolle im gesellschaftlichen Produktionsprozess in die Hand gelegt wird und die die Massen entscheidender als bisher zu wirkenden Trägem der sozialen Kämpfe macht. Die äußere friedliche Form des Ringens zwischen den ausgebeuteten und ausbeutenden Klassen in Deutschland kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Ringen in eine revolutionäre Phase eingetreten ist. Im Proletariat beginnt daher die Erkenntnis die Augen aufzuschlagen, dass unter bestimmten geschichtlichen Umständen der Massenstreik die gebotene Kampfesweise sein wird. Die führenden Kreise dahingegen erachten die Zeit für die geistige Vorbereitung der entsprechenden Losungen noch nicht für gekommen. Sie fürchten von der Propagierung des Gedankens eine Entwertung der alten Kampfesmethoden statt ihrer befruchtenden Belebung, die unseres Dafürhaltens ihre Folge sein muss; eine Lockerung der Organisation statt ihrer Ausdehnung und Festigung, die wir erwarten. Zu ihrer zum Mindesten abwartenden, wenn nicht ablehnenden Haltung trägt ein hochgespanntes, begreifliches Verantwortlichkeitsgefühl das Seinige bei, die Massen auf einen neuen Weg zu verweisen, der zweifellos gefahrenvoll und opferreich wie kein zweiter ist. Die Klärung und Entscheidung der Frage ist von internationaler Bedeutung, der entscheidende Fortschritt der Internationale hängt jedoch von der Entwicklung in Deutschland ab. In dieser Frage von tieffurchender Wichtigkeit kann der Internationale nur, einer Feuersäule gleich, die Partei eines großen Landes führend voranschreiten, das zusammen mit einem reifen Kapitalismus ein Proletariat besitzt, dessen straffe, wohl ausgebaute politische und gewerkschaftliche Organisationen vom Geiste des revolutionären Sozialismus geleitet werden. Diese Vorbedingungen treffen auf Deutschland zu. Dass die Zeit wiederkommt, wo die deutsche Sozialdemokratie der Internationale wieder ihr ruhmreiches Banner voraus trägt, davon sind wir fest überzeugt. Die Ziffern, die hartnäckigen Dinger, welche die gewaltige und rasche Verschärfung der Klassengegensätze im Wirtschaftsleben ausweisen, die bedeutsamen Ereignisse des gewerkschaftlichen und politischen Lebens, welche die Zuspitzung der Klassenkämpfe künden, allen voran die politische Krise, der Deutschland in Verbindung mit dem Kampfe um das Wahlrecht in Preußen und für das Ende des persönlichen Regiments entgegengeht, mahnen daran, dass die schöpferische Dialektik des Lebens schneller und überzeugender wirkt als wägende Argumentationen. Sie wird früher oder später an die Stelle der Theorie die Tat setzen.


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