So wie mit allen anderen Formen des Daseins, allen Wesen der Natur, ist es auch mit dem Geist bestellt. Auch er ist ein Teil des Weltalls, der im Zusammenhang mit allen anderen Weltteilen lebt und webt. Der menschliche Intellekt hat ebenso wenig, wie irgend etwas auf der Welt, ein isoliertes Dasein. Was er ist, ist er mittels des Universums: nicht er, sondern die Gesamtnatur ist die wahre Zeugerin all unserer Kenntnisse und Erkenntnisse, denn alles Dasein bildet eine organische Einheit.
Der Geist ist von der Materie nicht überschwänglich, nicht total verschieden: beide, vorgestelltes und stoffliches Sein, gehören zum allgemeinen Sein, beide haben dies eine gemein: zu existieren, beide sind Naturerscheinungen.
Die geistige Kraft ist ein Kind der Natur: sie, die natürliche, materielle Welt ist das Ursprüngliche, welches aus sich heraus den Menschen mit seinem Intellekt entwickelt hat. Die Vernunft ist eine Kraft unter anderen Naturkräften, wie die Wärme, die Elektrizität, nicht mehr und nicht minder wunderbar als sie alle. Mit allen seinen Brüdern gehört der Geist in die universelle Kategorie des Seins; mit ihnen allen hat er gemein: materiell, sinnlich wahrnehmbar, das heißt wirklich zu sein. Die Generalgattung oder Generalexistenz umfasst beide, Geist und Leib, Sein und Bewusstsein, wie sie auch Bild und Wahrheit, fantastische und wirkliche Geschöpfe, vorgestellte und wirkliche Dinge umfasst.
Die Religion und die idealistische Philosophie haben die Erkenntnis gesucht außer dem Zusammenhang mit der wirklichen Welt, außerhalb der Erfahrung ; sie haben sich das Wesen des Geistes als total-, als grundverschieden vom Wesen der Sinnlichkeit vorgestellt. Gewiss sind die materielle und die gedankliche Wirklichkeit verschieden, aber diese verschiedenen Wirklichkeiten gilt es nicht übermäßig zu sondern; es gilt, beide im Rahmen einer alles-umfassenden natürlichen Einheit zu betrachten.
Jedoch ebenso wenig hat der philosophische Materialismus die Natur des Geistes richtig erfasst, indem er ihn einfach für eine Funktion oder Wirkung des Gehirns erklärte und davon abstand, ihn im Zusammenhang mit dem Weltganzen zu betrachten. Wer den Kopf seziert, wird im Gehirn ebenso wenig das Geheimnis der Vernunft finden, als man durch Sezieren der Hand das Geheimnis des Schreibens entdeckt. „Mit dem anatomischen Messer kann man den Geist würgen, aber nicht entdecken!“1) Gewiss hängt das Denken mit dem Hirn zusammen; die Hirnfunktion ist ebenso materiell wie die Herzfunktion. Aber die Kenntnis der Herzfunktion schöpft die Wissenschaft von ihren materiellen, tastbaren Seiten nicht aus. Im Gegenteil ist diese unendlich: die Herzarbeit hängt zusammen mit dem Blut, das Blut mit der Nahrung, die Nahrung mit der Luft, mit Pflanzen, Tieren, Sonne und Gestirnen. Wie sollte die Hirnfunktion dann nicht mit allen Teilen der Welt, mit dem Weltganzen zusammenhängen, da alles Gegenstand ihrer Tätigkeit sein kann? Der Apfel hängt am Stiel, aber auch am Baum und am Boden, von Sonnenschein und Regen ab: so ist der Geist mit allem, was besteht, verbunden, er kann nur wirken im Gesamtzusammenhang der Dinge, in der Universalität. Die Fähigkeit des Geistes, aus dem unbeschränkten Material der Sinnlichkeit das Allgemeine hervorzubringen, ist ihm angeboren, wie dem Auge das Sehen, dem Ohre das Hören. Er kommt mit der Anlage zur Welt, Weltbilder, allgemeine Formen oder Begriffe der Dinge zu entwerfen, und er kann keinen Begriff, keine Vorstellung bilden, in welcher der Universalbegriff, das Bewusstsein von der Einheitlichkeit des Universums nicht mehr oder minder deutlich enthalten ist. Dies kann uns nicht wundern, wenn wir bedenken, dass unser Begriffsvermögen ebenso wie Sonne, Mond und Sterne eine Zubehör der unermesslichen Welt ist, ein Kind der universalen Natur : wie sollte es nicht, da es der Universalität angehört, mit der Möglichkeit des Universalbegriffs zur Welt kommen?
Der Geist ist ein Teil des Universums, und als Teil ist er notwendig ebenso beschränkt, wie alle anderen einzelnen Dinge, alle Kräfte, Fähigkeiten und Vermögen es sind. Alle Kräfte sind Spezialitäten: ihre Beschränktheit ist natürlich und notwendig, weil neben jeder von. ihnen wieder andere bestehen, weil sie nur im Gesamtzusammenhange wirken. Das Auge besitzt das Vermögen „alles“ zu sehen; jedoch sind ihm Grenzen gesetzt, und ebenso wenig kann auch das schärfste Auge den Dingen ihr Gewicht ansehen. Optische Instrumente verschiedener Art sind Hilfsmittel des Auges: durch sie ist der Mensch imstande, immer besser zu sehen, das unendlich Kleine wie das unendlich Große zu schauen. Je vollkommener sein Auge wird, desto mehr wächst der Kreis des Sichtbaren. Indes, wenn dieses Wachstum praktisch auch unbegrenzt ist, so bleibt der Kreis des Sichtbaren. doch immer begrenzt: dass man mit dem Auge „alles“ sehen kann, ist also nur relativ zu verstehen. Die Sehkraft ist ja nur eine Kraft unter anderen Kräften, die Dinge der Welt lösen sich nicht in Sehbarkeit auf: außer der Eigenschaft sichtbar zu sein, besitzen sie noch unzählige andere Eigenschaften! Die Welt ist mehr als das Gesicht, weil das Ganze mehr als der Teil ist.
Ebenso wie mit der Sehkraft verhält es sich mit der Denkkraft, der Erkenntnis. Mit dem Geiste kann man „alles“ erkennen, man kann sich damit immer mehr, immer bessere Einsicht von der ganzen Natur, von allen ihren Erscheinungen verschaffen, insofern diese erkennbar sind. Die Dinge sind erkennbar, und der Menschengeist ist ein vortreffliches Instrument, ihre Rätsel zu lösen, aber sie sind ebenso wenig ganz erkennbar, wie sie ganz sichtbar sind, sie lösen sich ebenso wenig in Erkenntnis als in Sichtbarkeit auf. Auf ihrem Gebiete ist die Erkenntniskraft ebenso unbeschränkt wie die Sehkraft auf dem ihrigen, indes auch sie ist nur ein Vermögen neben anderen und notwendig von anderen beschränkt und begrenzt. „Die menschliche Erkenntnis erkennt ganz vollkommen, doch darf man sich von dieser Vollkommenheit ebenso wenig eine übertriebene Vorstellung machen wie von einem vollkommenen Auge oder Ohre, die, mögen sie noch so vollkommen sein, doch unmöglich weder das Gras wachsen sehen noch die Flöhe husten hören.“2)
Die Erkenntnis bemüht sich treffliche Bilder von der Wirklichkeit zu liefern. Dies vermag sie zu tun, wir sollen jedoch nicht von ihr verlangen, dass diese Bilder der Wirklichkeit vollkommen ähnlich sind, dass sie diese erschöpfen. Die universelle Sinnlichkeit, die allumfassende Weltwahrheit ist mehr als der Geist, sie ist seine Schranke, sie gibt ihm den Hintergrund zu seiner Beleuchtung, aber sie geht in dieser Beleuchtung nicht auf. Die idealistische Philosophie löste alle Dinge auf in Gedanken, sie nahm an, das Denken produziere das Sein; es ist aber gerade umgekehrt: der Geist ist ein Geschöpf der materiellen Natur, das Sein produziert das Denken, Gedanken sind Verbindungen der Erscheinungen mit derjenigen Erscheinung, die wir Intellekt nennen; es gibt keine „reine“ Geisteswirksamkeit außerhalb der Erfahrung, die Vernunft an sich ist durchaus unvermögend, irgend eine Erkenntnis zu produzieren.
Wenn auch das menschliche Bewusstsein zunächst individuell ist, so ist doch jedes individuelle Bewusstsein seinem Beruf, seiner Anlage nach gleichzeitig Generalbewusstsein des Universums.3) Der Universalzusammenhang ist erforderlich zum Denken: deshalb offenbart die Vernunft keine Wahrheit, sondern sind die Wahrheiten, welche sich uns mittels der Vernunft offenbaren, Offenbarungen des Absoluten.4) Deshalb ist auch unsere Weisheit Weltweisheit im doppelten Sinne: die Welt ist nicht nur der Gegenstand, das Objekt unseres Wissens, dasjenige was analysiert und unterschieden wird, sondern sie selbst praktiziert das Wissen und Unterscheiden mittels unseres Intellekts.5) Der Menschengeist ist also auch Weltgeist; das Denkvermögen ist nicht menschlich beschränkt, sondern kosmisches Universalvermögen:6) im Menschenkopf denkt die Weltmaterie, wird sich das Universum bewusst. Allerdings ist es nur der philosophisch geschulte, sich selbst erkennende Intellekt, welcher sich als ein Stück der absoluten Natur fühlt, sich fühlt als der Geist des unbeschränkten, ewigen, allmächtigen Universums.7)
Religion und Philosophie haben den Menschengeist einerseits verhimmelt, die Gedankendinge als die einzigen wahrhaften Dinge vorgestellt; andererseits haben sie sich bemüht, den Menschengeist vorzustellen als einen Stümper, dem das Wesen der Dinge verborgen blieb, das Eindringen in den Kern der Natur versagt sei. Im Gegensatz zum armseligen, menschlichen Geist haben sie irgend einen überschwänglichen Monstergeist verhimmelt, der der Naturgesetze, welche die Tätigkeit des Geistes regeln und sein Vermögen bestimmen, enthoben sein soll.
Das menschliche Erkenntnisvermögen hat wie alle Dinge eine geschichtliche Entwicklung. Wenn wir diese rückwärts verfolgen, gelangen wir zu ihrem Übergang aus den tierischen Instinkten; schauen wir vorwärts, so hält uns nichts davon ab, in der Zukunft eine unbegrenzte Verbesserung des Intellekts anzunehmen. Jedoch, wenn wir uns auch vorstellen, das zukünftige Menschengeschlecht werde im Verhältnis zum heutigen ein wahrer Denkriese sein, so wissen wir doch, dass zwischen unserem und ihrem Denkvermögen der Unterschied nur ein gradueller, kein wesentlicher sein wird. In allen Weltteilen und in allen Zeiten wird der Geist ebenso notwendig seine eigene Natur besitzen, wie das Wasser die Natur, flüssig zu sein, besitzt und das Feuer die, zu brennen. Die allgemeine Natur des Geistes ist, aus dem besonderen Material der sinnlichen Erfahrung das Allgemeine, aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, Quantitäten, die Wesen der Dinge hervorzubringen. Stufen, Unterschiede zwischen den einzelnen Geistern gibt es und wird es immer geben, jedoch darüber hinaus gibt es eine gemeinsame Geisternatur, die jedem Intellekt eigen ist. Einen Geist, der ohne das Material der Erfahrung zu denken vermag, oder der die Dinge auflöst in Gedanken, kurz, der der natürlichen Schranken des Erkenntnisvermögens enthoben ist, kann es nie und nimmer geben. „Es ist nicht möglich, von einem anderen, höheren Denkvermögen als dem durch Erfahrung bekannten menschlichen auch nur zu sprechen, ohne aus der Logik heraus in die Widersinnigkeit zu fallen. Unzweifelhaft wird unsere Vernunft durch Kultur von Generation zu Generation erhöht; aber dass irgendwo und jemals ein Begriffsvermögen existieren sollte, welches außer dem Weltzusammenhange steht, – das ist ein durchaus sinnloser Begriff und eine verständnislose Sache“.8)
Das menschliche Wissen ist das echte und rechte Wissen, die menschliche Weisheit ist die einzige und Allweisheit. Sie ist kein Surrogat eines „höheren“ Wissens, kein Schein und keine Täuschung, sondern die Weltweisheit selbst. Nicht das individuelle Wissen ist die Weltweisheit, nicht das Wissen eines Menschengeschlechts oder eines Teiles der Menschheit, sondern das Wissen der Menschheit überhaupt.
Die Religion und die Philosophie haben den menschlichen Intellekt in dem Sinne beschränkt genannt, als sei unser Erkennen nur ein nominelles, formales, scheinbares gegenüber dem wahren, andersgearteten Erkennen irgend eines „höheren“ unbeschränkten Geistes. Eine solche Auffassung vereint die Erniedrigung und Herabschraubung des menschlichen Denkvermögens mit der Exaltation irgend eines fantastischen, von den Naturgesetzen losgelösten Wesens wie Gott, absoluter Geist usw. Diesem Wesen wird die Fähigkeit unbeschränkten, überschwänglichen, eigentlichen Erkennens zuerkannt. Wir wissen jedoch, dass unbeschränktes Erkennen wie jedes unbeschränkte Ding ein Unsinn ist und es nur ein unbeschränktes, unbegrenztes Wesen geben kann: die anfangs- und endlose Welt, das Universum. Der Intellekt kann ebenso wenig seine naturgemäße Beschränktheit übersteigen, über seine Gattung hinausgehen, wie irgend etwas innerhalb dieser Welt, und es ist ebenso unwissenschaftlich und fantastisch, ein höheres Denkvermögen anzunehmen als ein höheres Pferd, das mit acht, sechzehn oder sechzehnhundert Beinen läuft und seinen Reiter in einer „höheren“ Luft mit einer „höheren“ Schnelligkeit davonträgt.9)
Der alte religiöse Vorstellungskreis hat die Einsicht in das Wesen des Geistes dadurch erschwert, dass er die Welt der Materie, der Sinnlichkeit als eine Welt des Trugs und des Scheines betrachtete, über der sich die Welt des allein Wahrhaftseienden ausbreitete, die Welt des unerschaffenen Geistes. Dieser Glaube hinderte die Erkenntnis, dass der Menschengeist, sowie jedes Wesen und jede Kraft, ein Geschöpf der Natur ist und ihrem Schoße entspringt.
Die Mutter Natur, die Unerschöpfliche, hat dem Geiste etwas von ihrer Unerschöpflichkeit übertragen. „Er ist so unbeschränkt und unerschöpflich an Erkenntnissen, wie sie unbeschränkt ist in der Willfährigkeit ihre Brust zu öffnen; er dringt mit seiner Wissenschaft bis in das Allerinnerste der Natur, aber darüber hinaus kann er nicht dringen, weil diese unendlich ist, nichts außer sich hat.“10)
Der Geist besitzt wie jede andere Naturkraft sein eigenes spezielles Naturell. Ihm ist das durch die Erfahrung entwickelte Vermögen verliehen, alle anderen Naturgeschöpfe einzuteilen, zu klassifizieren.11) Es ist dies ein wunderbares und unbegreifliches Vermögen, jedoch es ist nicht wunderbarer, als alle anderen Eigenschaften und alle anderen Wesen, nicht wunderbarer als alle anderen Wunder der Natur. Die natürliche Wunderbarkeit der Dinge vermag die beste Erklärung ihnen nicht zu nehmen; den Glauben an natürliche Wunder, das heißt den Sinn für den unermesslichen Reichtum und die unerschöpfliche Schönheit des Universums will die Erkenntnis keineswegs auslöschen. Sie will nur den Glauben an übernatürliche Wunder zerstören, will klarlegen, wie alles was besteht, einschließlich des Geistes, in der physischen natürlichen Wunderwelt lebt und webt, wie es nur eine Welt gibt, und nicht zwei: eine niedere, natürliche, und eine höhere, unbegreifliche.
Die Welt ist unerschöpflich, das Erkenntnisvermögen ein begrenztes Stück dieses Unerschöpflichen. Deshalb wird es nie und nimmer imstande sein, „alles“ oder die ganze Wahrheit zu erkennen. Die ganze alles-umfassende Wahrheit ist gleichbedeutend mit dem Gesamtdasein, dem Absoluten. Das intellektuelle Getriebe ist ein Anhängsel, ein Prädikat dieser alles-umfassenden Wahrheit, die geistige Bewegung ein Prädikat der natürlichen.
Die ganze Aufgabe der Erkenntnis besteht in der Beschreibung und Klassifikation, das heißt in der Abbildung der Vorgänge der Erfahrung. Die Welt begreifen, heißt die Welt beschreiben; ein anderes, höheres Wissen gibt es nicht; der Gedanke daran ist reine Fantasie. Und auch diese einzige mögliche Erkenntnis wird immer unvollkommen bleiben und Stückwerk sein, weil die Mannigfaltigkeit der Natur unerschöpflich, ihre objektive Ordnung unendlich reicher ist, als die subjektive Ordnung der Wissenschaft. Der Mensch soll sich damit bescheiden, nie die ganze Wahrheit wissen, immer nur Teilwahrheiten produzieren zu können; er soll begreifen, dass, wie auch die Erkenntnis fortschreiten möge, die menschlichen Wahrheiten immer mit Irrtümern durchwoben sein werden. Jedoch, dies soll ihm den Wert von Erkenntnis und Wissenschaft nicht verringern. Jeder Irrtum ist ein Schritt zur Erkenntnis, die menschlichen Irrtümer waren niemals wertlos, des Geistes Trefflichkeiten werden niemals genügend sein.12)
Der philosophisch geschulte Intellekt weiß, dass er die ganze und vollkommene Wahrheit niemals erreichen wird – nicht deshalb, weil seine Erkenntnis nur nominell und scheinbar ist, sondern der Unerschöpflichkeit des Seienden wegen. Die erkenntnistheoretische Einsicht, welche er gewonnen hat, die Tatsache, dass er das Wesen seiner natürlichen Beschränktheit durchschaut, lässt ihn keineswegs mit griesgrämiger Verachtung auf das menschliche Wissen hinunterschauen. Im Gegenteil: das Bewusstsein seines Zusammenhanges mit dem Universum, seiner Teilhaberschaft an der absoluten Weltvollkommenheit, erweckt in ihm eine stolze Demut und einen demütigen Stolz. Die Gesinnung des selbstbewussten philosophisch geschulten Menschen ist himmelweit entfernt von jener knechtischen Auffassung, jener traurigen Resignation, die das menschliche Wissen herabsetzt und verhöhnt auf Kosten eines unbegreiflichen Überwissens und den Menschenverstand hinstellt als armen Schlucker, dem nur das Scheinbare und Flüchtige offen liegt, das Wesen der Dinge jedoch verborgen bleibt. Die erkenntnistheoretische Einsicht in die natürlichen Schranken des Geistes dämpft die Freude an unserer Wissenschaft nicht im Geringsten. Im Gegenteil: sie gibt uns die fröhliche Zuversicht in die unendliche Vervollkommnung des menschlichen Intellekts und die unendliche Vermehrung der menschlichen Erkenntnisse. Sie befreit uns aber von dem unwissenschaftlichen Trieb, die Natur unbeschränkt erkennen und beherrschen zu wollen. Das überspannte Verlangen nach einem Wolkenkuckucksheim der Erkenntnis, einer Wahrheit außer oder hinter der Erfahrung und Erscheinung stirbt ab, sobald die Tatsache uns einleuchtet, dass es kein anderes Erkennen als die Klassifizierung der Erfahrung geben kann. Die Philosophie hat sich mit dieser Art des Erkennens bis jetzt nicht begnügt. Zwar bekennt die Kantsche Philosophie sich zu der Überzeugung, dass in der Welt der Erscheinungen ein Erkennen nur auf Grund des Materials der Erfahrung möglich ist – sie akzeptiert jedoch diese Tatsache noch mit trüber Resignation und begleitet sie mit einem „schiefen Blick“ in die „höhere Welt“ der „Dinge an sich“. Sie beschränkt zwar die Erkenntnis, wie wir es tun, auf das Gebiet der Erfahrung, sieht jedoch dies Gebiet nicht als das Universale an.13)
Erst die Einsicht, dass unser Intellekt eine Form der empirischen Welt ist, hebt den alten Gegensatz zwischen Natur und Geist vollständig auf. Die Fortdauer dieses Gegensatzes, die aristokratische Erhebung des Geistes über den Pöbel der übrigen Erscheinungen oder Naturphänomene ist in den sozialen Verhältnissen der Vergangenheit und auch noch der Gegenwart begründet, wird es jedoch in denen der Zukunft nicht länger sein. Die Verhimmelung des Geistes, seine Erhebung oberhalb und außerhalb der Sinnlichkeit, passt in die Weltanschauung einer Gesellschaft, in der die große Mehrheit der Menschen sich abquält mit den Sorgen des materiellen Daseins, damit einer unter tausend eine glänzende, vergeistete Existenz leben könne.
In der sozialistischen Gemeinschaft, wo ein jeder gelten wird als ein Teil des Ganzen und als ganzer Teil, wird der Intellekt geehrt, aber nicht übermäßig geehrt, bewundert, aber nicht übermäßig bewundert werden als eine Kraft, ein Vermögen unter vielen, von ihnen verschieden, aber nicht übermäßig verschieden.
1) Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit, S. 52 (1907).
2) Das Akquisit der Philosophie, S. 16 (1903).
3) Daselbst, S. 35 (1903).
4) Briefe über Logik, S. 226 (1903).
5) Daselbst, S. 161 (1903).
6) Daselbst, S. 214.
7) Das Akquisit der Philosophie, S. 98 (1903).
8) Briefe über Logik, S. 151 (1903).
9) Das Akquisit der Philosophie, S. 14 (1903).
10) Streifzüge eines Sozialisten in das Gebiet der Erkenntnistheorie, S. 185. (Kl. philos. Schriften.)
11) daselbst, S. 187.
12) Das Akquisit der Philosophie, S. 103 (1903).
13) Streifzüge, S. 268 ff. (Kl. philos. Schriften).
Schreibe einen Kommentar