A. Die Religion
Die Religion ist hervorgegangen aus dem allgemein-menschlichen Bedürfnis, die Dinge der Welt systematisch zu überschauen. Der Mensch ist ein geborener Systematiker, der in allen Zeiten und an allen Enden eine Richtschnur für sein Denken und Handeln bedarf. Die religiösen Systeme sind Versuche, auf deduktivem Wege, durch spekulatives Denken, die Mannigfaltigkeiten des Universums einzuteilen, logisch zu ordnen. In diesem Sinne ist die Religion primitive Weltweisheit, sie füllt die Lücken des menschlichen Wissens aus. Jeder Zuwachs der Erfahrung, jede Vermehrung des Wissens brachte neue Dinge, die nicht in das vorhandene System passten: so wurde dies geschwächt und schließlich zerstört, um einem anderen Platz zu machen.
Im Laufe der Entwicklung lernte das Menschengeschlecht alle mannigfaltigen Natur- und Welterscheinungen besser begreifen, sie immer mehr als einen zusammengehörigen Organismus betrachten: Und nicht nur dies: es lernte die Weltdinge auch immer mehr gebrauchen, denn darin besteht ja gerade die geschichtliche Entwicklung, alle vorfindlichen Stoffe und Kräfte dem menschlichen Bedürfnis in immer höherem Grade dienstbar zu machen. Selbstverständlich haben in diesem geschichtlichem Prozess zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten immer andere Dinge und Eigenschaften eine hervorragende Stelle eingenommen: Pflanzen, Tiere, Gestirne, Menschen oder Gesetze, sowie menschliche Eigenschaften, wie Mut, Kraft, Treue, Schlauheit oder Biederkeit. Abwechselnd sind sie dem Menschen über alle Maßen hoch und wert erschienen.
Solche Dinge und Eigenschaften nun haben die Menschen vergöttert, unmäßig geschätzt. „Die Essenz der Religion besteht darin, diejenige Erscheinung des Natur- oder Menschenlebens, welche je nach Zeit und Umständen von eminenter Bedeutung ist, zu personifizieren und im Glauben auf eine so hohe Säule zu stellen, dass sie über alle Zeit und Umstände hinwegsieht.“ Gott, das ist der Inhalt der Religion, hat also keinen bleibenden, ewigen, sondern einen veränderlichen, zeitlichen Charakter.1) Erst in einer demokratischen Gesellschaft, welche alles und jedes zu schätzen weiß, alle Dinge und Qualitäten menschlicher Dienstbarkeit unterstellt, wird die unmäßige Schätzung des einen oder anderen und damit die Religion verschwinden. Diese geht ihrer Auflösung entgegen, je mehr die Wissenschaft vom Zusammenhang aller Dinge Fortschritte macht. Die Religion ist ein Substitut der menschlichen Unwissenheit; je geringfügiger das menschliche Wissen, desto größer der Umfang der Religion, desto intensiver ihr Dasein, desto unmittelbarer und mächtiger ihr Einfluss auf das profane Leben, desto leibhaftiger, konkreter ihr Inhalt. Umgekehrt: je mehr Wissen und Kultur vorgeschritten sind, desto abstrakter und schattenhafter werden die Vorstellungen der Gottheiten, desto mehr schrumpft ihre Rolle im gesellschaftlichen Leben zusammen, bis in unseren Tagen, in der fortschrittlichen Gesellschaft der Gegenwart, die Religion nur noch als ein bloßer Schein ihre Existenz fristet, und ihre ganze Rolle sich darauf beschränkt, die sogenannte sittliche Weltordnung zu stützen, das heißt, den herrschenden Klassen ein Mittel zu liefern, die Volksmassen im Zaum zu halten.
Die Grenze zwischen dem was religiös und nicht religiös, ist durchaus unbestimmt und auch unbestimmbar. Wie alle anderen Dinge ist die Religion eine Spezialität, welche geschichtlich aus der Natur hervorgeht; sie ist empor getaucht aus dem universellen Leben und wird darin wieder untertauchen.2) Den Punkt zu bestimmen, wo sie sich vom Naturganzen als eine besondere: Erscheinung loslöst, als Spezialität auftritt, steht dem menschlichen Ermessen ebenso frei, wie den Punkt anzugeben, wo das Kalte aus dem Warmen hervorgeht.3) Beschränkt man den Begriff der Religion auf die Verehrung eines großen, allmächtigen, außerhalb und oberhalb der Natur stehenden Geistes, so findet sie erst dort ihre Grenze, wo der Menschengeist sich über seine eigene Natur, über die Natur der Erkenntnis, genügend aufgeklärt hat, um zu wissen, dass es keinen höheren als den menschlichen Geist, keine übernatürliche Erkenntnis geben kann. Fasst man den Begriff des Gottesdienstes aber enger, beschränkt man ihn auf die Vergötterung irgend einer besonderen Naturerscheinung, oder irgend eines bestimmten Tieres, so wird auch jenen die Vergänglichkeit der Religion in diesem Sinne klar, welche sich sonst viel über deren Unvergänglichkeit einbilden.4)
Jedoch nicht dadurch, dass wir zu ihren nebelhaften Anfängen oder auch zu ihren völlig überlebten Formen heruntersteigen, bekommen wir vom Wesen der Religion eine treffliche Vorstellung; sondern dadurch, dass wir die Sache sozusagen an ihrem Mittelpunkt begreifen, dort, wo die religiöse Spezialität einen charakteristischen Punkt erreicht hat. Dies tun wir zum Beispiel, wenn wir sagen, die Religion ist die Vorstellung eines übernatürlichen Geistes, der die Natur regiert.5)
Fasst man die Religion in diesem Sinne auf, als eine scharf definierte, begrenzte Sache, so ist es das Ziel jeder aufklärenden Erkenntnis sie zu bekämpfen. Dass dieser Kampf gegen die aus dem Fluss der Entwicklung genommene, dogmatisch definierte Religion immer gleichzeitig ein Kampf für die Religion war, ist nur richtig, wenn man ihren Begriff ins Unendliche ausdehnt, was der geistigen Klärung nicht vorteilhaft ist. Religion ist System, ist Bedürfnis des Menschen einen Standpunkt zu gewinnen, von wo er die ganze Welt überschaut; in diesem Sinne ist auch die Sozialdemokratie religiös. Jedoch ihre „Religion“ ist nur dem Namen nach mit der „Religion“ im landläufigen Sinne wesensgleich ; ihr System des dialektischen Monismus bildet die Überwindung aller früheren idealistischen Systeme. Auch sie teilt mit der Religion aller Zeiten und Völker das Bewusstsein, einem „höheren“ Regiment untertan zu sein. Jedoch unter diesem „höheren Regiment“ versteht die Sozialdemokratie nicht den Willen eines fantastischen Monstergeistes, sondern das Naturgesetz, die unverbrüchliche Notwendigkeit.6)
Die „Besitzenden und Gebildeten“, die herrschenden Klassen, widersetzen sich diesem Streben der sozialdemokratischen Aufklärung und behaupten, dass von religiösen Dingen nichts zu wissen sei. Selbst in einem widerwärtigen Indifferentismus befangen, müssen sie dennoch suchen, die Religion dem Volke zu erhalten, weil ihre religiöse Sucht eine mächtige Stütze ihrer sozialen Herrschaft bildet.
Heute ist die gesellschaftliche und geistige Entwicklung so weit vorgeschritten, dass die Aufklärung nicht mehr nur die eine oder andere Form von Vorstellung eines von allen Naturgesetzen losgelösten, das Universum regierenden Obergeistes bekämpft, sondern diese Vorstellung überhaupt. Die Sozialdemokratie kann nicht ihrer spezifischen „Religion“ zum Siege verhelfen, ohne die landläufige Religion zu zerstören. Sie kann nicht die Erkenntnis von dem universalen Zusammenhang aller Dinge begründen, ohne jene „höhere Welt“ zu verneinen, die in der Vorstellung ihrer Gläubigen außer- und oberhalb dieses Zusammenhangs steht. Sie kann den Intellekt nicht darstellen als eine natürliche Erscheinung, ohne die Vorstellung eines übernatürlichen Geistes zu bekämpfen. Sie kann nur dartun, wie es zum Heile der Menschheit jetzt an der Zeit ist, das Höchste und Heiligste in der Zusammengehörigkeit aller Dinge und Menschen zu suchen, indem sie den Glauben an die ausschließliche Verehrungswürdigkeit irgendeiner besonderen Eigenschaft, Sache oder Persönlichkeit zerstört.
Die Religion im alten, bestimmten Sinne des Wortes muss folglich aufgelöst, die alte Denkweise gänzlich umgekehrt werden, damit die neue Religion, das Evangelium der Neuzeit, sich durchsetzen könne. Der Inhalt dieses neuen wissenschaftlichen Evangeliums ist der Dienst der Menschheit.7) Die philosophische Aufklärung über die Weltzusammenhänge ist nicht da um ihrer selbst willen, sondern sie bezweckt den Dienst der menschlichen Entwicklung, das menschliche Heil. Die materiellen Interessen der Menschheit sind es, welche erheischen, dass ein treffliches Bild der natürlichen Erscheinungen zustande kommt.8)
Die Erlösung der Menschheit vom Jammer des irdischen Lebens: das war von jeher der eigentliche Zweck jeder Religion. Bisher versuchte sie freilich nur, die Erlösung im Geiste durchzuführen; erst heute sind Wissen und Aufklärung so weit vorangeschritten, hat die Menschheit alle Weltdinge in ihrem Zusammenhange so weit begreifen und anwenden gelernt, dass ihre wirkliche, tatsächliche Erlösung zur Möglichkeit geworden ist.
Es ist die Sozialdemokratie, welche sich die Erfüllung dieser religiösen Aufgabe zum Zwecke gesetzt hat; denn auch was sie erstrebt, ist eine religiöse Aufgabe, das heißt eine Sache, welche ihre Gläubigen mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Gemüt ergreift. Sie – die Sozialdemokratie – schätzt jede Denkart, jedes Gesetz, insoweit es den Bedürfnissen dieser Aufgabe dienen kann. Die alte Religion stützte sich auf Autorität und untätigen Glauben, sie verlangte vom Menschen Geduld und Ergebung in sein Leiden.
Die neue Religion setzt anstelle des Glaubens die bewusste Werktätigkeit, anstelle der Autorität das revolutionäre Wissen, sie fordert Energie und Tatkraft. Die Sozialdemokratie erstrebt das reale, sinnliche Heil des Menschen, seine wahrhaftige leibliche Befreiung, das heißt die Unterwerfung der Natur unter die Botmäßigkeit seines Geistes, die Erlösung der Masse vom Joche sklavischer Arbeit, von Not, Elend und Sorge, von Hunger, Kummer und Unwissenheit, die Befreiung von der Plage Lasttier der „höheren Gesellschaft“ zu sein.9)
Das Christentum, die Religion der Ergebung und der Geduld, hat jahrhundertelang die Leiden der darbenden Massen mit dem Balsam der göttlichen Resignation gelindert; es hat aber noch mehr getan: es hat die grobe Sinnlichkeit, den naiven Egoismus der Barbarei gebrochen und den Geist der Massen kultiviert, sie vorbereitet für die „sinnige Verstandesarbeit“ der Kultur.10) Sie, die Religion, war den Massen eine triftige Zuchtrute. Aber die Religion stellt die Wahrheit auf den Kopf, dadurch, dass sie das zeit- und stellenweise Schätzbare überschwänglich verhimmelt. Sie nimmt irgend eine natürliche Eigenschaft aus dem lebendigen Flusse des Lebens heraus und erhebt diese zum einzigen wahren Gott, zur einzigen Tugend. So hat sich das Christentum der Nächstenliebe bemächtigt und die gesellschaftliche Natur der Menschen, ihr Bedürfnis einander zu lieben, in überspannter und übertriebener Weise ausgelegt. Das Christentum sagt zum Menschen : „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.“ Nicht nur predigt es die Liebe, sondern es schließt auch das Gegenteil aus, es verdammt den Hass. Die neue wissenschaftliche Religion dagegen, der Sozialismus, obgleich die Brüderlichkeit nicht bloß predigend, sondern auf ihr fußend, schießt nicht über das Ziel hinaus, sondern weiß sich zu beschränken, weil sie einsieht, dass alles je nach Zeit und Umständen dem Menschen nützlich sein kann. Für die Sozialdemokratie schließt die Liebe nicht den Hass aus, sondern im Gegenteil, als ein stellenweise notwendiges Mittel ein, denn um das Gute zu lieben, müssen wir das Böse hassen und beseitigen.11) Eben weil die neue Religion ausgeht vom Zusammenhang aller Dinge, weiß sie Liebe und Hass, Reines und Unreines, Genuss und Entsagung, kurz alle menschlichen Eigenschaften, alle Dinge und Qualitäten zu schätzen; denn alle können in bestimmten Umständen mehr oder minder nützlich und verwendbar sein.12)
1) Die Religion der Sozialdemokratie, S. 38 (Kl. philos. Schriften).
2) Erkenntnis und Wahrheit, S. 244.
3) Das Akquisit der Philosophie, S. 61 (1903).
4) Das Akquisit der Philosophie, S. 63 (1903).
5) Daselbst, S. 61.
6) Erkenntnis und Wahrheit, S. 269.
7) Die Religion der Sozialdemokratie (Kl. philos. Schriften), S. 32.
8) Das Akquisit der Philosophie, S. 63 (1903).
9) Die Religion der Sozialdemokratie (Kl. philos. Schriften), S. 18.
10) Die Religion der Sozialdemokratie a. a. O., S. 24.
11) Daselbst, S. 50.
12) Daselbst, S. 51.
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