„Das Universum ist identisch mit der Natur, mit dem Weltall und der absoluten Wahrheit. Die Naturwissenschaft teilt die Natur in Stücke, in Gebiete, in Disziplinen, aber weiß oder ahnt, wie solche Teilung nur eine formelle, wie die Natur oder das Weltall trotz aller Teilung ungeteilt, trotz aller Verschiedenheit und Vielnatur, doch nur eine unteilbare, universelle und generale Natur, Welt oder Wahrheit ist.“5)
Das All bildet eine zusammenhängende Einheit; es enthält alles was da war, ist und sein wird, es ist unerschöpflich und vollkommen, die lebendige Welt-Wahrheit, das Wesen aller Wesen, die Ursache seiner selbst. Geist und Materie haben die gemeinschaftliche Natur als natürliche Erscheinungen zu existieren: die geistige Natur nimmt keine Ausnahmestellung ein, sie ist von der Gesamtnatur nicht durchaus, nicht überschwänglich verschieden, sondern gehört bei aller Verschiedenheit mit ihr in einen Verband. Die Welt ist geistig und der Geist ist weltlich; beide gehören zueinander, beide haben teil am allgemeinen, unendlichen Dasein, beide hängen miteinander und allem anderen zusammen, beide sind im letzten Grunde eins.
Der allgemeine Zusammenhang aller Weltteile schließt ihre unendliche Differenzierung und Mannigfaltigkeit nicht aus. Das allgemeine Dasein ist nicht nur da in blauer Allgemeinheit, sondern auch in unendlich mannigfarbiger Besonderheit, und die Generalnatur oder Verwandtschaft der Dinge ist nicht wesentlicher als ihre Individualisation. Im Universum ist jede Gruppe gleichzeitig ein Individuum, das heißt, jede Vielheit ist gleichzeitig eine Einheit, jeder Teil ist ein Ganzes im Verhältnis zu Kleinerem, es kann in neue Teile aufgelöst werden. Umgekehrt ist jedes Individuum eine Gruppe, das heißt jede Einheit ist auch eine Vielheit, jedes Ganze ein Teil im Verhältnis zu Größerem. Der Wald ist eine Einheit, jedoch auch der Baum, oder der Ast, oder das Blatt. Die Wüste ist eine Einheit, jedoch auch jedes einzelne Sandkörnchen. Es ist die widerspruchsvolle Natur des Universums, sowohl unendlich allgemein, als auch unendlich gesondert zu sein. Es ist die widerspruchsvolle Natur der Dinge, sowohl aneinander zu hängen, als auseinander zu liegen, welche die Erkenntnis des Universums besonders erschwert. Die Dinge haben in Wahrheit keinen Anfang und kein Ende; wo das eine endigt, fängt das andere an. Anfang und Ende, wenn sie auch begrifflich auseinanderliegen, hängen doch in Wirklichkeit zusammen.
Die Welt ist ein endloses Ganzes, das aus endlichen Stücken besteht; ein ewiges Verändern, das sich als Ganzes immer gleich bleibt, ein lebendiger Entwicklungsprozess. Die Dinge in ihr tauchen zeitweise aus dem Unendlichen auf, um wieder darin zu verschwinden. In diesen Erscheinungen, diesen Stücken der Welt, äußert sich die ungeteilte Weltwahrheit. In den unvollkommenen Einzelheiten oder Bruchstücken erscheint die vollkommene Allnatur, die unendliche Natursubstanz. Sie ist das durchaus bewegte Element, darin alles Feste auftaucht und untergeht und deshalb wohl vorübergehend etwas Festes und zugleich nichts Festes ist.6)
Die Natur alles Bestehenden ist zwieschlächtig, widerspruchsvoll: die Wahrheit schließt die Lüge nicht aus, das Nichtsein gehört zum Sein, die Nacht zum Tag und der Tod zum Leben. Zum Beispiel kennt die Welt keinen Tod: sie ist das ewige Leben. Der Widerspruch, dass auch der Tod lebt, löst sich durch die Erkenntnis, dass auch zwischen Tod und Leben kein unüberbrückbarer, sondern nur ein gradueller, formeller Unterschied besteht, der wie groß und wichtig an sich, doch nur relative Bedeutung hat. Wie weit die Gegensätze, aus denen die Welt zusammengesetzt ist, auch auseinanderliegen, so sinken sie alle durch die Einheit der Welt, durch das kosmische Leben, zu untergeordneter Bedeutung herab, denn ihr gemeinsames Sein bildet eben die Welt.
Die formale Logik lehrt, dass es unvermittelbare Widersprüche und essentielle unüberbrückbare Unterschiede gebe, dass ein Ding unmöglich gleichzeitig es selbst und etwas anderes sein könne. Sie betrachtet die Dinge als gefrorene Eiszapfen, als starre Größen. Gewiss hat eine solche Betrachtungsweise ihre relative Berechtigung, sie ist sogar unerlässlich zur gemeinsamen Verständigung im täglichen Leben; jedoch sie schöpft die Natur des Alls nicht aus und soll sich dessen bewusst sein. Die Natur der Dinge verwandelt sich für unseren Blick, wenn wir sie unter dem weiteren Gesichtswinkel der kosmischen Zusammenhänge betrachten; wir sehen sie dann nicht mehr unveränderlich und starr, sondern veränderlich und flüssig. Wir sehen, wie sie werden und vergehen, wie sie gleichzeitig sie selbst sind und andere, wie sie in keiner Sekunde ihres Daseins völlig die gleichen sind. Wie gesagt, wir sind berechtigt, die Identität der Dinge anzunehmen; mit der ausschließlichen Hervorhebung ihres flüssigen Charakters kommen wir nicht aus. Jedoch sollen wir nie vergessen, dass ihre Einerleiheit mit ihrer unendlichen Veränderung untrennbar zusammenhängt. Wir sind berechtigt, die Welt einzuteilen und wieder einzuteilen „bis in die Puppen“, aber immer im Bewusstsein, dass alle Klassifikation nur Formel ist, alles Unterscheiden keine absolute Richtigkeit, sondern nur den Wert hat, den Menschen über seine Erfahrungen zu orientieren, indem sie ihm eine systematische Ordnung und eine übersichtliche Beherrschung der so mannigfaltigen und widerspruchsvollen Einzelerfahrungen ermöglicht, dass also die Klassifikation den Zusammenhang der Dinge nicht aufhebt. „Wir sind wohl berechtigt, Oben und Unten, Links und Rechts, Anfang und Ende, Gold und Blech, Gutes und Böses auseinanderzuhalten, aber wir müssen uns auch darüber instruieren, wie die Mannigfaltigkeit eine Einheit, das Veränderliche beständig und das Beständige veränderlich ist.“7) Gold und Blech sind zu unterscheiden, gewiss; jedoch wir sollen uns hüten, sie als nicht zu vermittelnde Widersprüche aufzufassen, denn beiden ist z.B. die metallene Natur gemeinsam, so wie Öl und Wasser die flüssige Natur gemeinsam ist.
Die Welt besteht aus unzähligen Individuen oder Einzelwesen, die alle in jedem Augenblicke ihres Daseins andere sind, aus räumlich nebeneinander existierenden und auch zeitlich nacheinander folgenden Veränderungen des Stoffes. Die Individualisation des Weltalls ist doppelt unendlich: im Raum und in der Zeit; sie ist an jedem Ort und zu jedem Augenblick eigentümlich und nie dagewesen. „Nichts bleibt sich gleich, beständig ist nur der ewige Wechsel, und auch der Wechsel ist verschieden.“8)
Der nicht dialektische Materialismus hat den Irrtum begangen, einen überschwänglichen Unterschied zu machen zwischen Form und Stoff. Die Form wurde aufgefasst als das Wechselnde, das Flüchtige, der Stoff als das Feste und Bleibende, das Beständige an den Dingen. Jedoch ein ewig wesensgleicher, unveränderlicher, die Form überdauernder Stoff besteht nirgends in der Sinnlichkeit, sondern nur als vom Menschengeist gebildete Abstraktion. Das Universum, die ganze Wirklichkeit besteht nur als Summe ihrer vergänglichen Erscheinungen, deren Wechsel das einzig Bleibende ist. „Der Stoff ist unvergänglich, kann nur heißen: zu allen Zeiten ist überall Stoff. So wahr, wie wir sagen, die Veränderungen bestehen am Stoffe, der Stoff ist das Bleibende, nur die Veränderungen wechseln, so wahr mögen wir die Sache umdrehen und sagen: der Stoff besteht in Veränderungen, der Stoff ist das, was wechselt, und nur der Wechsel ist das, was bleibt. Die stoffliche Veränderung und der veränderliche Stoff sind nur verschiedene Phrasen.“9)
Die Wirklichkeit besteht also aus Veränderungen oder Erscheinungen. Erscheinungen bilden den Inhalt der Welt, wie die einander jagenden Wellen den Strom und die einander jagenden Gedanken das Bewusstsein bilden. Das Allgemeinste, das Universum setzt sich aus dem unendlich Besonderen zusammen. Unbegrenzte Mannigfaltigkeit, absolute Flüchtigkeit ist das Wesen des Alls. Alles taucht auf aus der unendlichen Natursubstanz und geht wieder darin unter; deshalb sind alle Dinge „wohl vorübergehend etwas Festes und zugleich schließlich doch nichts Festes“. Deshalb hat Nichts feste, unverrückbare Grenzen. Von keinem Ding kann man Anfang und Ende genau bestimmen. Weder die Erde, noch der Mensch, noch das Bewusstsein, noch die Sprache hat ein fixes Geburtsdatum. Das Setzen von Grenzen, das Annehmen von Daten, das Einteilen in Arten und Unterarten: kurz, jegliches Unterscheiden ist berechtigtes und notwendiges Hilfsmittel für die Orientierung des Menschen über seine Erfahrungen; aber es soll geschehen in dem Bewusstsein, dass in der Wirklichkeit selbst alles flüssig ist.
Nichts anderes als ein derartiges Hilfsmittel des Menschen zur Orientierung über seine Erfahrungen ist auch die Annahme der Kausalität als Kategorie oder Einteilung des Denkens, welche in jeder Erscheinung die Wirkung einer Ursache, in jeder Ursache das eine Erscheinung Bewirkende sieht. Es ist diese Kategorie für den modernen wissenschaftlichen Menschen von der höchsten Bedeutung geworden. Mittels ihr hat er vorwiegend versucht, sich über das Wesen der Erscheinung klar zu werden. Die Annahme von Ursachen ist heute für uns eine notwendige Denkregel oder Kategorie, uns zurecht zu finden in dem Nacheinander der Ereignisse. Jedoch sollen wir uns im Wesen der Ursache nicht täuschen und uns immer bewusst sein, dass wir Ursachen nicht sinnlich gewahr werden, sondern mit dem Kopfe, wiewohl sie vom Denkvermögen in Verbindung mit sinnlichem Material erzeugt werden.
Ursachen nennen wir dasjenige, was im Allgemeinen vorhergeht, Wirkung dasjenige, was im Allgemeinen folgt. Das Wehen des Windes betrachten wir als die Ursache der Bewegung des Waldes. Zittert jedoch das Rohr von einem Windhauch, der zu schwach ist, die Bäume in Bewegung zu bringen, so nennen wir umgekehrt die Biegsamkeit des Rohres die Ursache seines Schwankens. Wird eine ganze Vogelschar aufgescheucht von einem fallenden Schuss, so gilt der Schuss als die Ursache ihres Auffliegens. Fliegt jedoch nur ein Vogel, und die anderen bleiben sitzen, so gilt die Schreckhaftigkeit des Einen als die Ursache seiner Flucht. Wir sehen also, dass die Ursache nicht einseitig ist, dass sie nicht der Kraft eines bestimmten wirkenden Faktors entspringt, sondern Gesamtwirkung ist, Zusammenhang, immanente Methode der Nacheinanderfolge.
In unseren logischen Weltbildern hat jedes Ding seine besondere Ursache, seinen Grund. In der Wirklichkeit hat jedes Ding unendlich viele Gründe, ist durch unendliche Zusammenhänge mit der ganzen Welt verknüpft. Der Baum ist die Ursache des Blattes, jedoch nicht er allein, sondern auch der Boden und Regen, die Sonne und der Wind, der Wechsel von Tag und Nacht und der Wechsel der Jahreszeiten sind es. Vater und Mutter sind die Ursache des Kindes, jedoch nicht nur sie, sondern auch ihre Eltern und deren Eltern in endloser Reihe, ihre Lebensgewohnheiten, ihre Beschäftigungen, ihre Nahrung, die Erde, auf der sie leben, die Sonne, welche die Erde bescheint, kurz die ganze Natur. Kein Ding, kein Prozess, keine Veränderung ist der zureichende Grund eines anderen, vielmehr begründet sich alles und jedes als Mittel des Universums, welches absolut ist.10) Oder mit anderen Worten: jedes Besondere ist im Allgemeinen, im Kosmos begründet, dieses aber nur in sich selbst. Die Welt, der Zusammenhang aller Dinge, ist die alleinige wahre Ursache aller Wirkungen.
Ebenso wie mit Ursache und Wirkung verhält es sich mit Prädikat und Subjekt, auch mit Form und Materie. Das Verhältnis von Subjekt und Prädikat ist durchaus variabel. Jedes Subjekt ist gleichzeitig Prädikat eines anderen allgemeineren Subjekts: Nur die Welt, das All der Dinge, ist die einzige Gattung oder Substanz, welche nicht zugleich Prädikat, Eigenschaft eines anderen ist. Von den Einzeldingen ist jedes zugleich Subjekt und Prädikat, je nach dem Zusammenhang, in dem man sie betrachtet, das heißt je nach dem Maßstab, den das Denkvermögen anlegt. Die Materie ist nicht mehr die Hauptsache, als ihre Eigenschaften nur nebensächliche Anhängsel sind. Jedes Ding ist und wirkt nur im Zusammenhang, im Verhältnis zu anderen Dingen; wenn dieses Verhältnis sich ändert, so ändert es sich selbst. Kein Ding besteht als unabhängiger, durch sich selbst wirkender Gegenstand. Das Wassertröpfchen ist verschieden, je nachdem es mit verschiedenem zusammenhängt: bei einer niedrigen Temperatur wird es zu Eis, zu Dampf bei einer hohen; in Fett bleibt es kompakt, je nach dem spezifischen Gewicht einer Flüssigkeit schwimmt es oben oder sinkt unter ; so ist es mit allem, mit jedem Einzelding. Bäume, Wolken, Tiere und Menschen, die Erde und die Gestirne, sie alle können nur sein, was sie sind, nur wirken, was sie wirken, im Gesamtweltzusammenhange als Teile des Gesamtdaseins. Je nach ihrem Verhältnis, ihrem Zusammenhang ändern sich Form und Inhalt der Dinge, je nach ihrem Zusammenhang nennt der Geist sie groß oder klein, Eigenschaft oder Substanz, Teil oder Ganzes, Ursache oder Wirkung. „Alles ist groß, alles ist klein, alles räumlich und alles zeitlich, alles Ursache und alles Wirkung, alles ganz und alles geteilt, eben weil alles der Inbegriff von allem ist, weil alles im All enthalten, alles verwandt, alles verbunden, alles zusammenhängend ist.“11)
5) Kleinere philosophische Schriften, S. 196.
6) Das Akquisit der Philosophie, 2. Aufl., S. 55.
7) Briefe über Logik, S. 146 (1903).
8) Das Wesen der Kopfarbeit, S. 70 (1907).
9) Daselbst, S. 71.
10) Das Akquisit der Philosophie, S. 56 (1903).
11) Daselbst, S. 80 (1903).
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