[Nr. 926, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 11, 17. März 1889, S. 4 f.]
:: Aus Norddeutschland, 13. März. Woran vor einer Woche kaum Jemand dachte, ist drei Tage später geschehen: der deutsche Kaiser ist gestorben. Der alte Herr war in den letzten Jahren so oft von Krankheitsfällen heimgesucht, erholte sich aber immer wieder, das man seiner letzten Erkrankung keine besondere Bedeutung zumaß. Das Schicksal hat es anders gewollt, nachdem der verstorbene Kaiser noch in vollem Maße die Wahrheit des Solonischen Ausspruches: Niemand ist vor seinem Ende glücklich zu nennen, gekostet hat. Seit dem Jahre 1866 ein verwöhntes Kind dess Glückes, dem alle Wünsche über Erwarten in Erfüllung gingen, von Jahr zu Jahr sich immer größerer Popularität erfreuend, zu der das hohe Greisenalter wesentlich beitrug, schien es, als sei er der glücklichste der Menschen, für den kein Schmerz, keine Enttäuschung vorhanden sei. Aber die Stunde schlug, wo das Schicksal an die Tür klopfte und zeigte, das auch der Mächtigste nur ein Mensch ist. Mit der schweren Erkrankung des einzigen Sohnes schien „das Glück von Edenhall“ zerschellt zu sein. Es starb ihm kürzlich er Neffe im Badener Land, mit dessen Tod zugleich die Kunde von der Kränklichkeit von dessen Bruder, des künftigen badischen Thronfolgers, in die Öffentlichkeit drang, begleitet von der weiteren Nachricht, das auch die Throninhaberin von Baden, des verstorbenen Kaisers einzige Tochter, an einer schweren Augenerkrankung leide. Nimmt man hinzu, das der künftige Thronerbe auch nicht in der festesten Haut stecken soll, und dass die Zustände in Europa einen Ausblick gewähren, der für die Spitzen der Gesellschaft nichts Trostreiches verheißt, so ist nur natürlich, das die letzten Tage des alten Kaisers sehr trübselige waren und ihm das Herz schwer machten.
„Der Kaiser ist tot, es lebe der Kaiser.“ Der Kranke von San Remo hat, wie der Brauch es mit sich bringt, als Nachfolger des Verstorbenen, den Thron seiner Väter als Friedrich III. bestiegen. Die politischen Parteien befinden sich diesem plötzlichen Wechsel gegenüber in einer merkwürdigen Verwirrung; der größte Teil der maßgebenden Klassen hat eine solch entschiedene Schwenkung nach rechts vollzogen, dass sie in einiger Verlegenheit vor einem Kaiser stehen, der den Ruf genießt, ein „liberaler“ Kaiser zu sein. Nur eine Partei ist, die ihm aufrichtigst zujubelt, weil sie ihn als „ihren“ Kaiser betrachtet, das ist die deutsch-freisinnige Partei. Die nationalliberale Partei, der Kern der deutschen Bourgeoisie, steht zweifelnd beiseite und weiß nicht, ob sie sich über diese Wendung freuen oder erschrecken soll. Die deutsche Bourgeoisie befindet sich stets in verkehrter Position; sie war liberal, als der Throninhaber und seine Regierung streng konservativ waren, und sie ist konservativ, wo sie einen liberal gesinnten Throninhaber besitzt und eine liberale Regierung haben könnte.
Der Fall ist einzig. In jedem anderen Staate der Welt würde die Bourgeoisie einen solchen Wechsel mit Jubel begrüßen, aber die deutsche Bourgeoisie fürchtet sich heute vor dem, was sie einst heiß ersehnte. Der Fall ist nicht undenkbar, dass am Ende des 19. Jahrhunderts ein deutscher Kaiser dieselbe Erfahrung macht, die vor hundert Jahren ein Josef II. in Österreich machte; er kann erleben, dass die Verwirklichung gewisser Grundsätze von denen zurückgewiesen wird, die Jahrzehnte für dieselben kämpften.
Um nicht missverstanden zu werden, sei hinzugesetzt, dass, um liberal zu sein, heute in Deutschland nicht viel gehört. Wenn der neue Kaiser in seiner Proklamation an den Reichskanzler sich aufs Entschiedenste für die Religionsfreiheit und die Gleichheit aller religiösen Bekenntnisse vor dem Gesetz ausspricht, also tut, was man von jedem human gebildeten Mann heute als selbstverständlich erwartet, so sind das Grundsätze, die ein großer Teil der liberalen Partei in den letzten 16 Jahren mit Füßen trat. Die Kulturkampf- Ausnahmegesetze und die Judenhetze, die bis tief in die liberalen Reihen Sympathien genießt, sind redende Zeugen dafür.
Die liberale Presse begrüßt mit Genugtuung, das der neue Kaiser in seiner Proklamation auch erklärte: er werde das wirtschaftliche Gedeihen der verschiedenen Gesellschaftsklassen zu heben, widerstrebende Interessen derselben zu versöhnen und unvermeidliche Missstände nach Kräften zu mildern suchen, aber ohne doch die Erwartung hervorzurufen, als ob es möglich sei, durch Eingreifen des Staates allen Übeln der Gesellschaft ein Ende zu machen.
Die Naivität unserer Liberalen macht einem lachen, man sollte glauben, es seien bisher entgegengesetzte Grundsätze vertreten worden, oder als erwarteten die deutschen Sozialisten, dass nunmehr auch die soziale Frage gelöst werde. Von solchen Illusionen wissen sich die deutschen Sozialisten frei, sie gehören auf keinen Fall zu den Enttäuschten.
Wider Erwarten hat der deutsche Reichstag den Antrag auf Beschränkung der Sonntagsarbeit auch in dritter Lesung erledigt und angenommen. Der von Haus aus schon schwächliche Antrag wurde durch die Beratung der Kommission und des Plenums noch weiter abgeschwächt, so dass die sozialdemokratischen Abgeordneten erklärten, er sei für sie unannehmbar und sie würden dagegen stimmen. Dem Bundesrat dürfte er auch in seiner jetzigen Fassung noch zu „radikal“ sein.
Der eingetretene Tod des Kaisers hat den beabsichtigten Schluss des Reichstages verhindert, er wurde vertagt und wird nächste Woche seine Schlusssitzungen halten.
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