[Nr. 923, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 10, 10. März 1889, S. 3 f.]
:: Aus Norddeutschland, 6. März. Der Geheimbundsprozess gegen die acht angeklagten Berliner Sozialisten hat einen Ausgang genommen, von dem das System Puttkamer sehr wenig erbaut ist. Die Angeklagten wurden zwar verurteilt, aber nur zu niedrigen Gefängnisstrafen von 2 und 3 Monaten, von welchen obendrein 2 Monate als durch die ungefähr vier Monate dauernde Untersuchungshaft für verbüßt erklärt wurden. Das Gericht nahm an, dass die Angeklagten einer geheimen Verbindung angehörten, deren Zweck zugleich sei, das Sozialistengesetz durch ungesetzliche Mittel außer Wirksamkeit zu setzen, das sie aber nicht zu den Leitern und Führern dieser Verbindung gehörten. Von großer Wichtigkeit aber sind die weiteren Entscheidungsgründe. Im Gegensatz zu der Anklage, welche behauptete, das über ganz Deutschland eine geheime Organisation bestehe, deren Leitung die sozialdemokratische Fraktion des Reichstages bilde, erklärte das Gericht, zu der Überzeugung gekommen zu sein, das eine solche geheime Verbindung nicht existiere, dass, so weit eine Organisation überhaupt bestehe, diese sich von der anderer Parteien nicht unterscheide. Das Gericht erklärte ausdrücklich, mit Bezug hierauf, den Aussagen des Abg. Bebel vollen Glauben beizumessen. so weit geheime Organisationen bestünden, seien diese nur lokaler Natur und da sei zweifellos, sowohl aus Bekanntmachungen im „S.-D.“ wie durch die Aussagen des Zeugen Bebel und durch die Aussagen der Polizeiorgane erwiesen, das eine solche auch in Berlin bestehe, zu der die Angeklagten gehörten. Dagegen lehnte das Gericht es ab, den Aussagen sogenannter Vertrauensmänner, auf welche verschiedene der zeugnisgebenden höheren Polizeibeamten sich stützten, deren Namen anzugeben aber diese im Interesse des Dienstgeheimnisses sich weigerten, irgend welche Bedeutung beizulegen, da das Gericht außerstande sei, in eine Nachprüfung über die Glaubwürdigkeit der bezüglichen Personen einzutreten.
Dieser Satz des Erkenntnisses hat in der ganzen anständigen Presse den lebhaftesten Beifall gefunden. Diese Ausführungen stehen in erfreulichem Gegensatze zu den Erkenntnissen der Gerichte zu München, Breslau und Posen, die den Aussagen der unsichtbaren Hintermänner der Polizei eine übermäßige Bedeutung beilegten und die Verurteilungen wesentlich darauf stützten.
Nur in der Vorahnung, dass es noch Gerichte in Deutschland geben möchte, die den Denunziationen solcher Unsichtbaren keinen Glauben schenken und um die geheimen Denunzianten und das ganze nichtswürdige Angebertum vor der öffentlichen Brandmarkung zu schützen, hat die Reichsregierung bei dem Reichstag einen Gesetzentwurf eingebracht, der es den Gerichten ermöglicht, einzelne Teile eines Prozesses oder auch die ganze Prozessverhandlung in das tiefste Geheimnis zu hüllen durch absoluten Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Gerichte sollen in diesem Falle verpflichtet sein, Alles, was die Staatssicherheit, die öffentliche Ordnung oder die Sittlichkeit gefährdet – drei sehr dehnbare, kautschukartige Begriffe – aus der Urteilsveröffentlichung fern zu halten oder die Veröffentlichung des Urteils überhaupt zu unterlassen. Ferner soll das Gericht allen Beteiligten den sogenannten Schweigebefehl auferlegen können, wonach selbst dem Verurteilten es bei Androhung einer strafe biss zu 6 Monaten Gefängnis verboten wird, über die Prozessverhandlung seinen nächsten Angehörigen ein Wort mitzuteilen. Ein unglaublicher, unerhörter Zustand, wie er in keinem Kulturlande der Welt existiert. Die Reichsregierung suchte den Glauben zu erwecken, dass diese alles bis jetzt Dagewesene übertreffenden Bestimmungen der Geheimhaltung nur in Hoch- und Landesverratsprozessen schwerster Art angewandt werden sollten, in der Kommission gab aber der Regierungskommissar, von mehreren Seiten gedrängt, zu, dass es sich namentlich auch darum handle, in politischen Prozessen die Geheimpolizisten und ihre Hintermänner zu schützen. Also gerade in den Prozessen, für welche bisher alle anständig denkenden Menschen die weiteste Öffentlichkeit für notwendig gehalten haben, um den Missbrauch der richterlichen Gewalt zu verhüten, soll künftig die strengste und für den Angeklagten gefährlichste Geheimniskrämerei am Platze sein. Das beschließen zum Teil dieselben Parteien im Reichstag, die selbst einst unter der bittersten politischen Verfolgung gelitten, welche die Schmach und den Nachteil des geheimen Denunziantentums und der falschen Polizeizeugen am eigenen Leibe kennen lernten. Ein großer Teil unserer „Liberalen“ hat alles Scham- und Ehrgefühl gegenüber solchen Zumutungen verloren, er heißt heute gut, was er einst auf das Bitterste bekämpfte, er tritt alle seine früheren Grundsätze mit Füßen. Und warum? Weil nach seiner Meinung die Zeit vorüber ist, wo er unter dem Missbrauch solcher Gesetze leiden könnte, weil diese Gesetze nur gegen seine politischen Gegner angewandt werden.
Ein deutsches Sprichwort sagt: „Es wird nichts so heiß gegessen, als es gekocht wird“, und so hoffen wir, das die guten Absichten der Reaktion doch zuschanden gemacht werden. So lange die deutsche Arbeiterklasse noch die Parlamentstribüne im Besitz hat, ist ihr auch ein Mittel gegeben, alle vorkommenden Niederträchtigkeiten an den Pranger zu nageln. Die Freunde des Gesetzes geben selbst zu, das der Schweigeparagraf ein Unsinn ist, aber ihn abzulehnen, erfordert einen gewissen moralischen Mut gegen die Regierung und den besitzen die Herren nicht mehr. Nachdem sie bei dem Sozialistengesetz ein ganz ungewöhnliches Maß von Opposition gezeigt haben, ist ihre Manneskraft gebrochen, man kann nunmehr Alles von ihnen verlangen.
Von mehreren Seiten kommen Nachrichten, dass die Militärverwaltung die im Jahre 1879 erlassenen Verordnungen ihren Unterbehörden ins Gedächtnis ruft, wonach kein Unternehmer, der im Geruch sozialdemokratischer Gesinnung steht, irgend welche Arbeiten oder Lieferungen für das Militärdepartement übertragen bekommen darf. Außerdem müssen sich alle Unternehmer und Lieferanten verpflichten, weder Arbeiter noch sonstige Hilfspersonen in ihrem Dienste zu beschäftigen, die Sozialdemokraten sind. Bei den enormen Anschaffungen und Lieferungen, die gegenwärtig die Militärverwaltung in allen Dienstzweigen mit größter Eile effektuiert, glaubt sie mit ganz besonderer Strenge auf der Erfüllung ihrer früheren Bedingungen bestehen zu müssen. O heilige Einfalt!
Die Militärverwaltung hat offenbar keine Ahnung, dass, wenn sie auf die Hilfe sozialdemokratischer Arbeiter verzichten sollte, sie in der terminlichen Fertigstellung, wie in der Qualität ihrer Bestellungen und Lieferungen enorm geschädigt würde. Heute ist in Deutschland keine größere Werkstatt, keine Fabrik denkbar, ohne dass nicht Sozialdemokraten unter den Arbeitern sind, nur lassen diese oft aus Klugheitsrücksichten es nicht merken. Und der Unternehmer, der dem Wortlaut der Kontraktbestimmungen der Militärverwaltung entsprechen wollte, müsste Bedingungen stellen, welche die Militärverwaltung nicht eingehen kann. Kurz und gut, so wenig es im dritten Jahrhunderte nach Christo im römischen Reiche noch eine Kohorte gab, in der nicht offen oder verkappt zahlreiche Christen – diese „Staatsfeinde“ des römischen Reiches – sich befanden, so wenig ist heute, im dritten Jahrzehnt der sozialdemokratischen Bewegung, in Deutschland noch eine größere Werkstatt oder Fabrik denkbar, in der das sozialistische Gift nicht steckt.
Die Militärverwaltung wird mit dieser unbestreitbaren Tatsache rechnen müssen und sie wird gut tun, Maßregeln zu unterlassen, die sie nur der Lächerlichkeit auszusetzen geeignet sind. Die Unternehmer selbst sind gezwungen vor der Tatsache, dass sie sozialdemokratische Arbeiter beschäftigen, und es sind sehr oft ihre tüchtigsten und zuverlässigsten Leute, die Augen zu schließen; sie unterschreiben den Kontrakt der Militärverwaltung, sich und die Militärverwaltung absichtlich täuschend, weil sie nicht anders können. So gebiert dass heutige System überall zu seinem eigenen Schaden – die Heuchelei und fordert den Spott seiner Gegner heraus.
Die politische Welt Deutschlands ist ohne Unterschied der Partei in diesen Tagen in merkwürdiger Weise überrascht worden. Im pommerschen Wahlkreis Greifenberg-Camin, einem der stockkonservativen Wahlkreise der preußischen Monarchie, ist bei der Nachwahl an Stelle des hochkonservativen Kandidaten der deutsch-freisinnige Kandidat gewählt worden. Vor acht Tagen hätte Jedermann in Deutschland trotz des ungewöhnlich günstigen Ausfalls der Wahl im ersten Wahlgang für den deutsch-freisinnigen Kandidaten Kopf und Kragen verwettet, dass eine solche Wahl unmöglich sei und heute ist sie offizielle Tatsache. Diese Wahl gehört zu den Vorgängen, die zuweilen blitzartig die situation beleuchten. Sie zeigen einen Umschwung der Stimmung in breiten Volksschichten, von dem bisher Niemand eine wirkliche Kenntnis hatte. Wieder einmal ein Beweis, wie wenig die Führer und Leiter der Nationen selbst zu bedeuten haben, wie die entscheidenden Dinge sich nicht von Oben, sondern von Unten vollziehen. Der Umschwung der Stimmung in einem der verrottetsten pommerschen Wahlkreise lässt einen Schluss zu auf die Stimmung im Volke überhaupt. Die nächsten allgemeinen Wahlen im Jahre 1890 dürften Überraschungen bringen, die jene über den Ausfall der jetzigen Wahl in Pommern weit in den Schatten stellen. Und die Kartellmehrheit, die jetzt so eifrig beschloss, die Legislaturperioden von drei auf fünf Jahre zu verlängern, dürfte sich in der Rolle des dummen Jungen befinden, der eine derbe Ohrfeige erhielt statt eines exquisiten Lobes, das er erwartete.
Es geht vorwärts! trotz alledem und alledem! Die Reaktion ruft mit Naturnotwendigkeit ihren Antipoden, die Revolution, hervor. Das begreifen unsere Staatsweisen noch immer nicht. „Du glaubst nicht, mein Sohn, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird“, dieses Wort Oxenstiernas fällt einem immer wieder ein, so oft man die herrschenden Klassen an der Arbeit sieht; sie sind in ihrer „auf Rettung vor dem Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Tätigkeit“, nur für sich selbst gemeingefährlich.
Für den 7. d. M. ist der Abgeordnete Bebel auf Antrag des Militärgerichts des 14. Armeekorps vor das Berliner Amtsgericht geladen, um in Sachen des Hauptmannes a. D. von Ehrenberg Zeugenaussagen zu machen. ,Die Voruntersuchung gegen v. Ehrenberg scheint auf Landesverrat gerichtet zu sein, andere Vergehen und Verbrechen liegen näher.
Der arme Reichstag kommt mit Bewilligungen für Kriegszwecke nicht zur Ruhe. Obgleich er auf dem Sprunge steht, nächster Tage auseinander zu gehen, und er der Militärverwaltung mit vollen Händen alles bewilligte, was diese verlangte, kommt die Nimmersatte abermals mit einer weiteren Anleihe in der Höhe von gegen zwanzig Millionen Mark. Es sollen im Osten Deutschlands zum Schutz gegen unseren „Erbfreund“ einige strategische Bahnen gebaut, beziehentlich vervollständigt werden, welche die genannte Summe erfordern. Natürlich wurde sie mit Hurrah bewilligt. Gnade für die arme Menschheit, wenn diese ganz ungeheure nie dagewesene Rüstung eines Tages in Aktion tritt.
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