Clara Zetkin: August Bebel

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 20. Jahrgang, Nr. 10, 14. Februar 1910, S. 145 f.]

Manche sind kühn, deren Schwert

nicht rot vom Blute aus Feindesbrust.

Ein Feiertag fällt für das kämpfende Proletariat der ganzen Welt inmitten den Ernst der Arbeit, den Schlachtenlärm dieser Zeiten. Eines von jenen Festen, die keine kirchliche Satzung, kein obrigkeitliches Gebot vorgeschrieben hat, die mit der drängenden Gewalt natürlichen Geschehens aus der Seele der einzelnen empor jubeln, die sich zu vielen wissen, zu Millionen, die eins in ihrer Freude sind. Solch Empfinden kann nur dann ausgelost werden, wenn nicht bloß der Kopf, wenn auch das Herz vornehmlich spricht. Und so ist es. Am 22. Februar vollendet August Bebel das 70. Jahr seines Lebens, dessen beste Kraft er – ohne um persönliches Glück zu markten und zu feilschen – dem Befreiungskampf des sonnensehnsüchtigen Proletariats gegeben hat. Ihn wollen in diesem Blatte die grüßen, die dem großen Vorkampfer, dem hochsinnigen Menschen dankbarste Verehrung entgegenbringen: die sozialistischen Frauen.

August Bebel! Der Name ist ein bedeutsames Stuck Geschichte, und der Name kündet einen Mann. Wenn man das Lebensschicksal Bebels nachblättert, ist es da nicht die Geschichte des kämpfenden deutschen Proletariats selbst, der Sozialdemokratie insbesondere, die sich aufrollt, eine Geschichte, die ihre Wellen auch Kreise ziehend in die Arbeiterbewegung anderer Länder hinüber geworfen hat? Es gibt kein wichtiges Kapitel dieser Geschichte, keine entscheidende Wendung, kein unwiderrufliches Vorwärts im Ablauf des geschichtlichen Lebens der deutschen Arbeiterklasse, die nicht die starken und unverwischbaren Spuren von Bebels schöpferischer und wegweisender Hand trugen. Das gilt seit fast einem halben Jahrhundert, von den ersten schüchternen und verworrenen Anfängen an, da das deutsche Proletariat sich auf seine geschichtliche Existenz und die ihm damit gesetzte Aufgabe besann, wo es auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet seinen Aufmarsch als selbständige Klasse begann, bis heute, wo es nach allen Richtungen hin stürmend gegen die bürgerliche Gesellschaft vordringt. Bebel ist mit der erste Rufer zu diesem Aufmarsch gewesen, wie er noch jetzt, nach Jahrzehnten nimmer rastender Arbeit und reifer Erfahrungen, zu den unermüdlichen Vorwärtsdrängern der proletarischen Sturmkolonnen zählt. Wir finden ihn an erster Stelle unter den Rüstigen, denen die deutsche Sozialdemokratie ihre feste Organisation verdankt, und die sich vor eine sehr schwierige Aufgabe gestellt sahen: unter Berücksichtigung der geschichtlichen Gestaltung in den einzelnen Bundesstaaten, unter wechselnden politischen Situationen und behördlichen Kniffen einen Organismus zu schaffen, der die erforderliche Einheit und Geschlossenheit mit der ebenso nötigen Bewegungsfreiheit verbindet, dem – der weiter ausgreifenden und sich vertiefenden Betätigung der Partei entsprechend – neue Glieder einverleibt werden können, und der jederzeit die rasche Entfaltung der höchsten Stoßkraft ermöglicht Und keiner hat mehr als Bebel getan, um den Parteiorganismus mit dem höchsten geschichtlichen Leben des Proletariats zu erfüllen und ihn dessen Zwecken dienstbar zu machen. Ein scharfäugiger Steuermann, hat er das Schiff der Sozialdemokratie unter Gewitter und Wogendrang an den Klippen und Riffen der sozialistengesetzlichen Zeit vorüber geleitet; führt er es in der Windstille, die großen Stürmen vorangeht, an den Untiefen der faulenden Gewässer des bürgerlichen Parlamentarismus vorbei. Mit dem untrüglichen Instinkt des geborenen Kämpfers und dem klaren Blick des verantwortungsbewussten Führers schöpfte er aus einer wissenschaftlich fest verankerten grundsätzlichen Auffassung die richtige Beurteilung des scheinbar oft unentwirrbaren Durcheinanders der Tageserscheinungen. Er hat in der Folge jederzeit erkannt, wie notwendig die Beweglichkeit der Taktik des politischen Kampfes ist, die Veränderlichkeit und Erneuerung seiner Methoden und Waffen. Als die Bedeutung des Wahlrechts noch von hervorragenden Führern der jungen Arbeiterbewegung Deutschlands verkannt wurde, als ganze Bruderparteien des Auslandes es als ein Mittel zur Prellerei der Massen verfemten: war es Bebel, der mit starkem Arm das von Lassalle aufgepflanzte Banner mitten unter die „stumpfen“, „unreifen“, „unorganisierten“ Massen trug, von der sicheren Einsicht geführt, das die Geschichte ihre eigene Lehrmeisterin ist, und das die Massen selbst durch die Praxis über die Fragen der Massenaktion entscheiden. Und wieder stand er an der Spitze, als es sich darum handelte, in wagender Beachtung der tatsächlichen Umstande und kühler Nichtachtung rechtlicher Formeln die gleiche geschichtliche Berechtigung der ungesetzlichen wie der gesetzlichen Kampfmittel zu proklamieren. Er blieb gleich weit von einer irrlichternden Revolutionsromantik entfernt, die die fest gegründete, dauernde Erde unter den Füßen verliert, wie von einer genügsamen Staatsmännelei, die auf dem glatten Parkett des Parlaments ausgleitet. Darum verstand er es, die parlamentarische Aktion allen Tagesbedürfnissen des leidenden und kämpfenden Proletariats nutzbar zu machen, deren Wahrung die Massen wirbt, wie auch jener unerbittlichen grundsätzlichen Kritik an der kapitalistischen Ordnung, welche die Massen zum Kampfe für das sozialistische Endziel zusammenschweißt und schult. Schließlich war es Bebels Wort, das gewichtig in die Waagschale fiel, als die deutsche Sozialdemokratie den Massenstreik unter die Waffen aufnahm, die unter bestimmten Voraussetzungen angewendet werden können, ja gebraucht werden müssen.

Die Entwicklung der sozialdemokratischen Taktik beruht in letzter Linie auf der in der Praxis sich entfaltenden und wirkenden Theorie. Wir finden folglich Bebel auch jedes mal mitten im dichtesten Streit der Meinungen um theoretische Erkenntnisse, um den grundsätzlichen Kern der sozialistischen Auffassung. Seit dem Nürnberger Vereinstag der Arbeitervereine, wo das kühne Bekenntnis zu den Grundsätzen der Internationalen Arbeiterassoziation erfolgte, bis zum Dresdener Parteitag, der die Prinzipien des revolutionären Sozialismus bekräftigte, nahm Bebel tätigsten Anteil an allen Phasen, die das theoretische Reifen der Sozialdemokratie durchlaufen hat. Sie spiegeln getreulich seine eigene stufenweise Entwicklung wider, denn Bebel ist mit der Partei, mit dem proletarischen Klassenkampf geworden und gewachsen. Den Problemen aber, die dieser aufwirft, steht er nicht als Gelehrter gegenüber, dessen Schreibpult mit fertigen Losungen vollgestopft ist, sondern als Mann der Tat, der die Massen bewegen will, der arbeitend und kämpfend heiß um neue Einsichten ringt und dabei die resignierte Kunst begreifen muss, es genug sein zu lassen, das jeder Tag seine eigene Plage habe. So kann er den Massen voranschreiten, ohne dass der kalte Schein auf ihn fällt, als wolle er sie rechthaberisch schulmeistern; so kann er bahnbrechend wirken, ohne sie aus den Augen zu verlieren und sich von ihnen zu isolieren – es sei in dieser Beziehung nur an seine unvergleichliche Tat für die Befreiung des weiblichen Geschlechts erinnert, die an dieser Stelle vor kurzem gewürdigt worden ist; so mutet seine grundsätzliche Unbeugsamkeit in Prinzip und Taktik nicht als starrer, trockener Dogmenglauben an, sie berührt vielmehr wie die urwüchsige Frische des Lebens selbst.

Und in der Tat: Bebels Wesen und Wirken ist mehr als eine bloße Widerspiegelung der zeitgenössischen Geschichte des proletarischen Befreiungskampfes. Es ist das Fleisch und Blut gewordene proletarische Klassenleben, dessen unbezwingliche Wesensäußerung eben diese Geschichte ist. Daher wurde Bebel mehr als ein Träger, er wurde ein Gestalter dieser Geschichte. Darum kann er der Agitator wie der Parlamentarier von großem Zuge sein, der feurige Führer der Massenaktionen im Lande und der kluge Rechenmeister im Reichstag. So hat er aber auch immer wieder das richtige Verhältnis gefunden zwischen der unentbehrlichen grauen politischen Alltagsarbeit und dem erhebenden Kampfe für das sozialistische Endziel; die Erkenntnis, welche das werktägliche Wirken adelt, weil sie den festen Blick auf das sozialistische Ziel gerichtet hält und in seiner Beziehung zu diesem erfasst; die Kraft, auch die kleinste Erleichterung des proletarischen Gegenwartsschicksals mit einem Eifer zu suchen, als stände der große geschichtliche Feiertag der Befreiung auf dem Spiele, und dieses hehre Ziel den Massen mit der heiligen, ernsten Inbrunst voraus zu tragen, als müsse es heute noch verwirkliche werden. Bebel ist die persönliche Verkörperung des höchsten geschichtlichen Seins der zeitgenössischen Arbeiterklasse, ist der lebendige Ausdruck der Erkenntnis, des Willens, der Tat der Namenlosen, Zahllosen, welche die entscheidenden Schlachten des proletarischen Befreiungskampfes schlagen. Dieses sein Einssein mir dem historischen Leben der Massen ist die letzte und tiefste Wurzel seiner Macht über sie und hat ihn zu ihrem einflussreichsten und geliebtesten Führer gemacht; von diesem Einfluss empfangt Bebels Beredsamkeit ihre zündende Kraft, seine Überzeugung ihre unerschütterliche Festigkeit, ihr jugendliches Feuer. „Der Menschheit Odem, die rastlos nach Befreiung lechzt“, weht aus seinem Wesen und Wirken. Es konnte daher nicht anders sein: Bebels Wesen und Wirken musste ganz vom Sozialismus erfüllt werden.

In dem Wie aber, mit dem sich diese geschichtliche Notwendigkeit persönlich durchsetzt, offenbart sich der unversiegbare Schatz wertvollster Kräfte, die in dem noch nicht umgebrochenen und bestellten Erdreich der Massen schlummern. Diese persönlichen Kräfte taten das Ihre dazu, das Bebel aus den Niederungen der Gesellschaft bis zu ihren Höhen emporgestiegen ist. Im innigsten Zusammenhang mit den „Herdentieren“ der Namenlosen hat er sich seines Lebens Wert selbst erschaffen. Was ästhetisierende Zwerge sich in massenverachtender Weltflüchtigkeit anzuquälen trachten – die Eigenart einer starken, geschichtlichen Persönlichkeit –, ist ihm im Leben mit den Massen und für die Massen erwachsen. Ein Mann und ein Werk steht mit Bebel vor uns; ein Mann, der ganz in seinem Werke ist, und ein Werk, das ganz der Mann ist. In früheren Zeiten zwangen die geschichtlichen Bedingungen die Massen, Throne denen zu bauen, die ihnen führend bei der Eroberung neuer Heimatgefilde voranzogen. Die proletarischen Massen unserer Tage, deren Aufgabe es ist, die letzten Throne zu stürzen, von denen aus Menschen geknechtet werden, schenken ihren Führern ihre Dankbarkeit und Liebe. Keinem aber fliegen diese Gefühle reicher und glühender zu als Bebel, dem Mose, der die durstenden Seelen auf dem Marsche durch die Wüste der kapitalistischen Ordnung immer aufs Neue mit der Verheißung des gelobten Landes der Freiheit erquickt. Die Blätter mögen vergehen und verwehen, auf denen verzeichnet steht, was August Bebel dem empor drängenden Proletariat war, was er ihm gab. Dauerhafter als Erz wird davon die sozialistische Gesellschaft zeugen, das stolze Werk der Massen, deren Willen er auf die gewaltigste Tat der Menschheitsgeschichte richten half.

Klara Zetkin.


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