[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 21. Jahrgang, Nr. 4, 21. November 1910, S. 49 f.]
Wer eine Aussaat schneidet, die kaum in die Halme zu schießen beginnt; wer die Axt an den gesunden Stamm eines Baumes legt, welcher Frucht tragen soll: der macht sich eines Wahnsinns schuldig. Darüber wird unter leidlich vernünftigen Menschen kein Streit sein. Nun wohl! Dieser Wahnsinn, zum Verbrechen gesteigert, ist tagtäglich die Schuld der kapitalistischen Ordnung und ihrer Nutznießer. Oder sollte vielleicht mütterliches und kindliches Leben weniger wert sein als Getreide und Obstbäume? Schier will es so dünken, wenn man vergleicht, wie kaltblütig, skrupellos der Kapitalismus Hekatomben von Müttern und Kindern opfert, und wie sorgsam bedacht er sein kann, um von Halm und Strauch reiche Ernte zu gewinnen, die Schweinewirtschaft und die Zucht edler Rassepferde zu heben. Und die Verwüstung lebendiger Kräfte da, die Schonung hier hat eine gemeinsame Wurzel: das Drängen nach Profit. Die kapitalistische Ordnung ist und bleibt die Gesellschaft der unvereinbaren Gegensätze auch im Einzelnen, weil an ihrer Grundlage mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln der eine allgemeine, große Gegensatz liegt zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, der seine letzte und klassische geschichtliche Form in dem Klassenantagonismus zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat gefunden hat. Dieser Grundsatz bewirkt es, dass der tote Besitz den lebendigen Menschen knechtet und mordet, und eine der scheußlichsten Arten dieses Mordes ist unstreitig die Hinschlachtung der Mütter und Kinder für den kapitalistischen Profit. Die Geschichte des Kapitalismus ist mit Proletarierblut geschrieben, aber am reichlichsten von allem ist doch das von Frauen und Kindern geflossen. Warum? Weil Frauen und Kinder die billigsten und wehrlosesten der Opfer sind. Die Blüte ganzer großkapitalistischer Industrien ist auf einem Boden gewachsen, den weibliche und kindliche Gebeine gedüngt haben.
Gewiss: wo der Kapitalismus über den stürmischen Überschwang seiner Flegeljahre hinaus ist, da hören wir nicht mehr von jenem bethlehemitischen Morden ausgebeuteter Kleinen, von jenem Massenwürgen weiblicher Leiber und Seelen, wie es der Triumphzug der Maschine und des Großbetriebs zum Beispiel in der englischen, französischen und deutschen Textilindustrie begleitet hat. Das sich aufbäumende Menschentum der Ausgebeuteten und die Furcht der Ausbeutenden vor dem Mangel an Maschinenfutter und Kanonenfutter sind endlich dem profittrunkenen Kapital in den Arm gefallen. Jedoch, wie wenig ist sein Gelüsten gezügelt! Noch geht eine Vernichtung mütterlichen und kindlichen Lebens ihren entsetzlichen Gang, die die Zukunft der Arbeiterklasse, der Menschheit bedroht. Genossinnen, blättert die Berichte der Fabrikinspektion durch, die Statistik der Arbeiterkrankenkassen, die umfangreiche fachwissenschaftliche Literatur von Ärzten, Hygienikern, Sozialpolitikern. Häuft sich da nicht zu furchtbarer Höhe das Anklagematerial, das den Würger Kapitalismus seines Verbrechens überführt? Wandert durch die Hütten der Arbeit und sucht die Armenkirchhöfe auf! Klingt es da nicht von Siechbetten und Gräbern: „Wir klagen an!“
Da sind Frauen, die die Fruchtbarkeit ihres Leibes qualvoll verhehlend bis kurz vor ihrer schweren Stunde bei harter Fron für Bettelpfennige aushalten. Müde Wöchnerinnen, die ungepflegt und fiebernd sich bald nach der Niederkunft erheben, weil sie weinende Kinder und einen Haushalt versehen müssen. Bresthafte [gebrechliche] Weiber, die nie das tückische Leiden überwinden, das Überbürdung während der Schwangerschaft und mangelnde Fürsorge während des Wochenbettes über sie verhängt haben. Unglückliche, die ihre Liebe und ihres Leibes Frucht verfluchen, denn sie denken all der Pein, die ein Esser, ein Pflegebedürftiger mehr bedeutet. Da sind Geschöpfchen, die schwächlich und krank nur geboren werden, um bald dahinzuwelken oder schmerzbeladen zu vegetieren. Säuglinge, denen der Hunger von Geschlechtern die mütterliche Nahrungsquelle versiegen ließ, denen die Natur der Arbeitsstoffe, mit denen die Mutter hantiert, sie in Gift verwandelt. Da ist ein trostloser Zug kindlicher Verdammter, die sterben und verderben, weil die mütterliche Betreuung fehlt, weil der Zwang des Verdienenmüssens ihren Körper und Charakter meuchelt, ehe sie zur Reife kommen. Am Schlusse das junge Mädchen, das, ohne das Recht der Kindheit auf Freude und Erziehung genossen zu haben, dank der Auswucherung seiner Kräfte physisch gebrochen, seelisch unvorbereitet der Mutterschaft entgegengeht. So schließt sich der Ring, ein Ring des Todes!
Kann die kämpfende Arbeiterklasse ihn unangetastet lassen? Mitnichten! Das hieße den Wahnsinn der kapitalistischen Ordnung selbstmörderisch übergipfeln. Der würgende Ring muss um der Befreiung der Klasse willen gesprengt werden, und nur des Proletariats eigene Kraft vermag ihn zu sprengen. Die Zukunft ist der Acker, auf dem die Saaten der Arbeiterklasse reifen. Die Zukunft aber liegt in einer körperlich, geistig, sittlich gesunden proletarischen Jugend beschlossen. Eine solche Jugend bedarf der Mütter, die kraftstrotzenden Leibes Kinder tragen, gebären und nähren, die hellen, kühnen Geistes und starken, treuen Herzens Nachkommen erziehen. So sind Mutter und Kind in ihrer Schutzbedürftigkeit gegen den Kapitalismus unlöslich verbunden, der in seinem Goldhunger die Grenzen der Vernunft wie der Menschlichkeit überrennt. Ein zweiter Kreis schließt sich gegen den Feind, ein Kreis des Lebens!
Genossinnen! Ihr kennt die von uns geforderten sozialen Reformen, die sich Glied für Glied zu diesem Schutzkreis für Mutter und Kind zusammensetzen. Für einen Teil von ihnen gilt es jetzt ernsthaft zu kämpfen. Es sind das die Forderungen, die in das Gebiet der Reichsversicherungsordnung fallen, welche in der nächsten Zeit zur Verhandlung im deutschen Parlament steht. Dürftig sind die Ansätze zu Mutter- und Säuglingsschutz durch die Versicherungsgesetzgebung. Sie müssen vorwärts getrieben werden, und das kann nur das Werk der proletarischen Massen sein. Die Sozialdemokratie ruft die Proletarierinnen in die ersten Reihen des Kampfes, der – wir haben darauf hingewiesen – bitter nottut und wie kaum ein zweiter eigenste Angelegenheit der Frauen ist. Genossinnen, sorgt dafür, dass der Ruf gehört und verstanden wird. Je bescheidener die Forderungen sind, um die jetzt zunächst gekämpft werden muss, um so dringlicher ist es, dass sie rasch ihre Erfüllung finden. Der gen Himmel schreiende kapitalistische Frevel an Mutter und Kind muss bald die Losung diktieren: „Weiter!“ Die katholische Kirche hat Mutter und Kind in ihren Himmel erhoben; die kapitalistische Ausbeutungsordnung hat sie in ihre Hölle hinabgestoßen; der proletarische Klassenkampf setzt sie auf Erden in ihre Rechte ein. Also will es sein gewaltiges geschichtliches Ziel, die Befreiung des Proletariats, die der Menschheit Zukunft ist.
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