[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 10. Jahrgang, Nr. 19, 12. September 1900, S. 145 f.]
Dem bevorstehenden Parteitag liegt ein reiches, fast überreiches Arbeitsprogramm vor, das obendrein im Hinblick auf die Eröffnung des internationalen Kongresses zu Paris spätestens bis Sonnabend Mittag bewältigt sein sollte. Dass dies tatsächlich der Fall sein wird, hängt wesentlich von der Breite der Beratungen über die einzelnen Punkte ab, die ihrerseits wieder durch mehr oder minder große Gegensätze in der Auffassung bedingt wird. Nun fehlt es sicherlich nicht an Beratungsgegenständen, über welche die Meinungen geteilt sind und sich im schroffen Ja und Nein gegenüberstehen. Allein der Verlauf der Parteiversammlungen, welche Stellung zu dem Parteitag genommen haben, wie die Erörterung der strittigen Fragen in der Presse lassen keine weit ausholenden, mit leidenschaftlicher Zähigkeit verfolgten Debatten vermuten Die Frage „unserer Taktik bei den Landtagswahlen“ ist bereits so eingehend erörtert worden, dass zum Für und Wider kaum neue, weittragende Gründe und langwährende Verhandlungen zu erwarten sind. Was aber unsere Stellung zur „Verkehrs- und Handelspolitik“ anbelangt, so ist ihr unseres Erachtens in breiteren Kreisen der Partei noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt worden. Eine sehr eingehende Erörterung ist deshalb kaum wahrscheinlich, trotz der hohen Wichtigkeit der Materie, und trotz der Meinungsunterschiede, die zur Frage der Handelspolitik auf dem Stuttgarter Parteitag und in Artikeln einzelner Parteigenossen zu Tage getreten sind.
Die ausgiebigste Beratung wird vermutlich Punkt 5 der Tagesordnung zuteil werden: „Die Organisation derPartei.“ Die wichtigste der Fragen, welche durch die möglich gewordene Reform unserer Organisationssatzungen angeschnitten werden, ist unseres Erachtens die: sollen geschlossene Vereine oder Vertrauenspersonen Träger des Parteilebens sein, mit anderen Worten, soll das Schwergewicht unseres Parteilebens in festen Organisationen oder in öffentlichen Versammlungen liegen? Wir haben bereits in der letzten Nummer der „Gleichheit“ ausführlich die Gründe dargelegt, welche mit Rücksicht auf das Wirken und die Rechte der Frauen in der Partei für die bisherige lose Organisationsform sprechen. Aber auch noch andere als die einschlägigen Erwägungen wenden sich unserer Meinung nach dagegen, den Schwerpunkt unseres Parteilebens aus der Volksversammlung in Vereine zu verlegen. Zunächst bedingen eine Reihe von Umständen – Macht der Behörden und des Unternehmertums zur Schikanierung und Boykottierung der sozialdemokratischen Vereinsmitglieder etc. etc. –, dass feste Organisationen nie auch nur annähernd die Masse unserer Parteigenossen umschließen werden. Unter Umständen können sogar sehr eifrige und opferfreudige Parteigenossen nicht einer politischen Organisation angehören, ja ist die Gründung eines solchen in Orten unmöglich, wo wir eine gute Zahl von Anhängern besitzen. Geschlossene Vereine werden deshalb stets nur die Kader unserer Partei bilden und nicht die Massen ihrer Gefolgschaft umfassen.
Vor Allem aber finden wir, dass die von manchen Seiten befürwortete ausschlaggebende Rolle der festen Organisationen im Gegensatz steht zu dem demokratischen Charakter unserer Partei, zu ihrem Wesen als Trägerin einer Massenbewegung, die eine Kulturbewegung im höchsten und vielseitigsten Sinne des Wortes ist. Das Leben einer Partei, die mehr als zwei Millionen Wähler zählt, der immer reichere, mannigfaltigere Aufgaben zufallen – und zwar nicht bloß auf politischem Gebiet, sondern im Bereich des gesamten sozialen, kulturellen Lebens – lässt sich nicht in den engen Rahmen fester, geschlossener Organisationen fassen, denen im günstigsten Falle Hunderttausende angehören. Und die Volksversammlung, die für reif und würdig befunden wird, über die bürgerliche Gesellschaft, über die wichtigsten Vorgänge des politischen und sozialen Lebens zu Gericht zu sitzen, ihr Urteil über eine ganze Welt- und Geschichtsauffassung abzugeben, sich für das sozialdemokratische Programm zu erklären: der kann man nicht die Mitentscheidung in Fragen des Parteilebens versagen. Unseres Erachtens steht es einer Partei wie der unseren nicht an, nach bewährten Mustern der Einteilung der Massen in „begeistertes, von den edelsten Gefühlen getragenes Volk“ und „rohen, stumpfsinnigen Pöbel“ die Volksversammlungsbesucher einmal zu bewerten als „überzeugte Parteigenossen“, „klassenbewusste Proletarier, die berufen sind, eine neue Welt aufzubauen“, dann aber als eine „zusammengelaufene Volksversammlung“, der die Berechtigung vorzuenthalten ist, einen Delegierten zum Parteitag zu wählen.
Gewiss, dass das Übergewicht der Volksversammlung über die geschlossene Organisation in unserem Parteileben mancherlei und nicht leichtzunehmende Unzulänglichkeiten zeitigt. Allein dieselben dünken uns geringer wie die Vorzüge des jetzt geltenden Organisationssystems. Wir sind überzeugt, dass die Frische, Elastizität, strotzende Gesundheit und Kraft unseres Parteilebens ganz wesentlich mit auf die Rolle der öffentlichen Versammlung innerhalb desselben zurückzuführen ist. Dass die lose Organisationsform, die feste, innere Geschlossenheit und Schlagfertigkeit der Partei nicht geschädigt, ihre materielle Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt hat, beweist unserer Ansicht nach die Geschichte der sozialdemokratischen Bewegung. Allerdings gilt auch in dieser Beziehung das Wort: „Das Bessere ist des Guten Feind.“ Wir glauben jedoch nicht, dass die Übertragung der Parteigeschäfte auf geschlossene Vereine die mancherseits prophezeite große Stärkung der Parteiorganisation mitsamt der bedeutenden Steigerung ihres materiellen Leistungsvermögens zur Folge haben würde.
In der Frage der „Weltpolitik“ dürften kaum tiefe gegensätzliche Auffassungen sich äußern. Handelt es sich doch unserer Ansicht nach nicht darum, sich mit einer im luftleeren Räume theoretischer Spekulationen schwebenden Welt- oder Kolonialpolitik „an und für sich“ zu befassen. Es gilt vielmehr Stellung zu nehmen zu der sehr konkreten Weltmachts- und Weltraubpolitik, wie sie der Kapitalismus in dem gegenwärtigen Stadium seiner Entwicklung in allen großen sogenannten Kulturstaaten treibt. Unzweifelhaft herrscht Einmütigkeit darüber, dass die Sozialdemokratie in scharfer grundsätzlicher Feindschaft der abenteuerlichen Weltpolitik der gepanzerten Faust gegenüber steht, die sich mit einer arbeiterfeindlichen Sozialpolitik paart, neben der gewalttätigen Eroberung neuer Absatz- und Interessengebiete die Absperrung des heimischen Marktes durch Wucherzölle erstrebt, an Stelle des Wettbewerbs das Monopol setzen will, bei uns in Deutschland mit starken Ansätzen zum absolutistischen Regiment verquickt ist und die Gefahr schwerster internationaler Verwicklungen, ja des Weltkriegs in sich trägt. Ebenso werden die Meinungen nicht darüber auseinandergehen, dass das Proletariat eine Weltpolitik fordert, die sich auf eine gesunde, freiheitliche Sozialpolitik stützt, Frieden zwischen den Nationen und freie Entwicklung des Handels und der Industrie sichert und als höchstes Ideal die Verbrüderung der Völker auf Grund der Solidarität des Proletariats und der Gemeinsamkeit der Kulturinteressen erstrebt. Dass sich aber die Sozialdemokratie nicht mit der bloßen Erklärung ihrer Stellungnahme begnügt, sondern den Kampf gegen die Weltpolitik des Evangeliumkurses und für eine freiheitliche Weltpolitik mit aller Energie führt, das verlangt das Interesse des Proletariats, dazu fordert der gemeingefährliche Ægirkultus, der mit Nichtachtung der Volksvertretung inszenierte Chinazug heraus, das verbürgt die Vergangenheit der Partei und ihr Wesen.
Im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Stellung der Partei zur Weltpolitik steht die Behandlung der Frage „Verkehrs- und Handelspolitik„. Angesichts der bevorstehenden Erneuerung der Handelsverträge werden die einschlägigen Beratungen und Beschlüsse von höchster Bedeutung sein. Schon sind die krautjunkerlichen Hochschutzzöllner an der Arbeit, mit den demagogischsten Mitteln Wucherzölle zu erpressen. Einflussreiche Kreise von Industriellen, die Monopole oder Liebesgaben besitzen oder fordern, sind mit ihnen im Bunde. Wie die Vorbereitungsarbeiten zeigen, eignet der Regierung weder die Kraft noch der Wille, dem hochschutzzöllnerischen Ansturm zu trotzen. Nachdem die Agrarier „die grässliche Flotte“ bewilligt haben, wird sie ihrerseits auf die „Kähne“ den „Kanitz“ folgen lassen. Da gilt es denn, dass die Sozialdemokratie als Vertreterin der proletarischen Klasseninteressen, als Vorkämpferin für eine gesunde Entwicklung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens dem Klüngel der begehrlichen Hochschutzzöllner streitbar entgegentritt und gestützt auf eine einheitliche, feste Grundauffassung für Beseitigung beziehungsweise Herabsetzung der Zölle und für Handelsverträge mit gegenseitigen Konzessionen zwischen den einzelnen Ländern kämpft.
In der Frage unserer „Taktik bei den Landtagswahlen“ wird es ab und an wohl zu einem hitzigen Zusammenprall zwischen den Befürwortern und Gegnern unserer Beteiligung unter allen Umständen und mit allen Konsequenzen kommen. Allein die Entscheidung des Parteitags scheint uns jetzt schon nicht zweifelhaft, ebenso wenig aber die Einheitlichkeit unserer künftigen Aktion. Der Parteitag wird mit überwältigender Mehrheit die allgemeine Beteiligung beschließen. Der dadurch in manchen Bundesstaaten unvermeidlich gewordene Kompromiss zwischen Sozialdemokratie und bürgerlicher Opposition schreckt uns nicht, da es in nichts die feste Grenzlinie zwischen uns und den bürgerlichen Parteien verwischt, in nichts unsere Stellungnahme zur bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung abschwächt. Über die strenge Wahrung unseres Parteicharakters, unserer Grundsätze entscheidet das Wie der Wahlagitation und nicht das gelegentliche Wahlbündnis. Wie die geschichtliche Entwicklung in Deutschland die Verhältnisse und die Menschen geformt hat, erachten wir die Beteiligung an den Landtagswahlen auch unter dem reaktionären Dreiklassenwahlsystem mit all seinen gemeinen Rücken und Tücken für das wirksamste Mittel, die arbeitenden Massen zum Ansturm gegen das Wahlunrecht zu mobilisiere und zu schulen. Die siegreiche Schlacht für das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht zu den Einzellandtagen kann aber nur durch die arbeitenden Massen geschlagen werden, kann nur die Frucht des „Druckes von außen“ auf die Parlamente und Regierungen sein.
In den übrigen stehenden Beratungsgegenständen eines jeden sozialdemokratischen Parteitags wird es dem überströmenden, kraftvollen Leben der Partei entsprechend nicht an Kritik, Anregungen, Wünschen und Beschlüssen fehlen. Die Arbeiten des Parteitags zu Mainz werden in ihrer Gesamtheit dartun, dass die Partei des klassenbewussten Proletariats inmitten der Zersetzung der bürgerlichen Welt, inmitten der Stürme der Reaktion kerngesund, kampfgerüstet, pflichttreu ihren Tagesaufgaben gerecht wird, ihrem hehren Endziel zustrebt.
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