Clara Zetkin: Die Organisation der Sozialdemokratischen Partei und die Frauen

[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 10. Jahrgang, Nr. 18, 29. August 1900, S. 137 f.]

Der diesjährige Parteitag der deutschen Sozialdemokratie hat über eine Frage zu beraten und zu beschließen, welche nicht bloß von großer Wichtigkeit für die Gestaltung des Parteilebens ist, sondern welche insbesondere die Interessen der Frauen, der Genossinnen unmittelbar und tief berührt. Es ist die Frage der Organisation der Partei.

Schon seit Langem wird in weiten Parteikreisen die Notwendigkeit empfunden, die Organisation fester zu gestalten, sie materiell zu kräftigen und ihr mit größerer Geschlossenheit in jeder Hinsicht eine höhere Leistungsfähigkeit zu sichern. Die seitherige äußerlich lose Form der Organisation beruht bekanntlich auf dem System der Vertrauenspersonen, die in öffentlichen Versammlungen gewählt werden und mit „Wahrnehmung der Parteiinteressen“ betraut sind, wie es im Organisationsstatut heißt. Diese Form der Organisation wurde vor Allem durch Eins bedingt: durch das Vereinsgesetz von Preußen und anderen Bundesstaaten, das politischen Vereinen verbot, miteinander in Verbindung zu treten. Die betreffende Bestimmung ist nun im letzten Jahre gefallen. Begreiflich genug wurde dadurch die Frage einer Reform der Organisation in den Vordergrund gerückt, vor Allem aber die Frage: liegt es im Interesse einer strammen, leistungsfähigen Parteiorganisation, das bisherige System der Vertrauenspersonen aufrecht zu erhalten oder aber vielmehr die diesen überwiesenen Aufgaben und Arbeiten fest gegliederten Vereinen zu übertragen?

An der Antwort auf diese Frage, an den einschlägigen Beschlüssen des Parteitags haben die Genossinnen ein ganz hervorragendes Interesse. Werden die Parteiangelegenheiten aus der Hand von Vertrauenspersonen in die von Vereinen gelegt, so bedeutet dies, dass in dem weitaus größten Teil des deutschen Reiches die Genossinnen von der Mitarbeit und Mitbestimmung an diesen Parteiangelegenheiten ausgeschlossen sind, und dass ihnen in der Folge ihr Wirken im sozialdemokratischen Lager beträchtlich erschwert wird. Das Vereinsgesetz von Preußen, Bayern, Anhalt, Braunschweig und noch anderen Bundesstaaten verbietet bekanntlich, dass Frauen Mitglieder politischer Vereine sind, und an deren Sitzungen und Versammlungen teilnehmen.

Der Entwurf zu einem Organisationsstatut, welchen die mit Abfassung betraute Kommission dem Parteitag vorlegt, hält denn auch das System der Vertrauenspersonen aufrecht. Es ist dies für die Frauen von wesentlicher, grundsätzlicher wie praktischer Bedeutung. Das System der Vertrauenspersonen ermöglicht es den Genossinnen in allen Bundesstaaten – auch in denen, wo die Frau auf dem Gebiete des politischen Vereinswesens entmündigt ist – durch ihre eigenen, in öffentlichen Versammlungen gewählten Vertrauenspersonen in regelmäßiger, fester Verbindung mit dem Leben der sozialdemokratischen Partei zu bleiben und als Gleichberechtigte innerhalb derselben mitzuarbeiten, mitzuberaten, zu entscheiden und zu handeln. Die einschlägige Bestimmung des Entwurfs beweist, dass die Sozialdemokratie an ihrer grundsätzlichen Stellungnahme gegenüber den Frauen festhält und ihnen als gleichberechtigten Mitstreiterinnen die Reihen öffnet. Von ihrer grundsätzlichen Auffassung der Frauenfrage getragen, betätigt sie gegenüber den politisch rechtlosen Frauen einen Gerechtigkeitssinn, wie ihn keine einzige bürgerliche Partei des deutschen Reichs kennt und übt. Sie allein von allen Parteien in Deutschland nimmt die Frauen als gleichberechtigte Mitglieder auf. Es dünkt uns selbstverständlich, dass der Entwurf in dieser Hinsicht nicht preisgibt, was einen der vornehmsten Grundsätze der Partei ausmacht und ihr gegenüber der Rückständigkeit, dem Vorurteil und der Ungerechtigkeit der bürgerlichen Parteien zur hohen Ehre gereicht. Wir zweifeln deshalb auch nicht daran, dass der Parteitag die einschlägigen Bestimmungen gut heißt. Sie zu verwerfen liegt um so weniger Ursache vor, als noch andere wichtige Gründe, auf die wir hier nicht eingehen können, für die Aufrechterhaltung des Systems der Vertrauenspersonen sprechen.

Wenn aber der Entwurf in der Hauptsache das Recht wahrt, das die Genossinnen beanspruchen müssen, um in jeder Hinsicht ihrer Pflicht gegen die Partei, gegen ihre Ideale genügen zu können, so enthält er doch des Weiteren eine Bestimmung, welche geeignet ist, Bedenken seitens der sozialdemokratischen Frauen hervorzurufen. Es ist die Bestimmung, laut welcher die Vertrauenspersonen nicht mehr wie seither ausschließlich von öffentlichen Versammlungen gewählt werden sollen, sondern auch von Vereinsversammlungen. Die Genossen der einzelnen Orte, bzw. Wahlkreise haben darüber zu entscheiden, ob sie ihre Beauftragten auf die oder jene Art ernennen. Die Bestimmung stellt einen Kompromiss dar zwischen dem System der Vertrauenspersonen und dem System der fest gegliederten Vereine als Träger der Parteigeschäfte Bei Wahl der Vertrauenspersonen in den Vereinsversammlungen sind es tatsächlich die Organisationen, die Vereinsleitungen, in deren Hand die „Wahrnehmung der Parteiinteressen“ ruht. Die meisten internen Fragen des Parteilebens werden in der Folge in Vereinssitzungen und -versammlungen entschieden und nicht mehr in Volksversammlungen.

In Ländern, wo das oben angezogene politische Vereinsunrecht gegen das weibliche Geschlecht besteht, wo diesem die Vereinsversammlung verschlossen und nur die Volksversammlung geöffnet ist, würden in der Folge die Frauen des Rechtes der Mitentscheidung über diese Fragen verlustig gehen, oder dieses Recht würde ihnen wenigstens durch die Macht der Verhältnisse beträchtlich eingeschränkt werden.

Gewiss, dass die Übernahme der Parteigeschäfte durch fest geschlossene Organisationen nicht gleichbedeutend ist mit dem Hinausdrängen der Frauen aus der sozialdemokratischen Partei, mit einer Lahmlegung ihrer Tätigkeit innerhalb derselben. So lange die Vereine nicht ausschließliche Träger der Parteigeschäfte sind; so lange die Parteiorganisation sich auf Vertrauenspersonen stützt, die in Vereinen, wie auf solche, die in öffentlichen Versammlungen gewählt werden und zwischen den Funktionen und der Stellung der einen wie der anderen kein Unterschied besteht; so lange insbesondere die Frauen das Recht besitzen, ihre eigenen gleichberechtigten Vertrauenspersonen zu wählen: so lange sind auch die Genossinnen der sozialdemokratischen Partei fest angegliedert und können sich innerhalb ihrer betätigen. Nicht das Recht auf Mitarbeit und Mitkampf der Genossinnen wird durch die Übernahme der Parteiaufgaben durch Vereine in einzelnen Bundesstaaten in Frage gestellt, wohl aber das Recht, das ein nötiges, unerlässliches Seitenstück dazu ist, ihr Recht auf Mitentscheidung.

Wenn die Genossinnen zu dem einen Recht das andere bewahren wollen, wenn sie den Grundsatz hochhalten: „Gleiche Pflichten, gleiche Rechte“, so ist das begreiflich und mehr als das, berechtigt. Wir wissen wohl, dass es nicht die spießbürgerliche Auffassung der Genossen ist, welche den Genossinnen als Frauen ihr Recht kürzen will. Was sich gegen sie wendet, ist die hässliche Logik der Tatsachen, welche sich aus dem reaktionären Vereinsgesetz einzelner Bundesstaaten ergibt. Wir sind auch überzeugt, dass sich trotz Allem bei gutem Willen mit der Zeit und durch Erfahrungen Mittel und Wege finden lassen werden, um den Genossinnen die Möglichkeit zu schaffen für Ausübung ihres Rechtes, dort mitzuraten, wo sie mittaten. Immerhin ist aber die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, dass eine Änderung der jetzt geltenden Bestimmungen des Organisationsstatuts die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Zusammenarbeitens der Genossinnen und Genossen hier und da zu stören vermag, dass in der Folge Reibereien, Zersplitterungen etc. eintreten.

Von diesen Gesichtspunkten aus ist die Resolution zu beurteilen, welche den Fortbestand des seitherigen Systems der Vertrauenspersonen in allen Ländern empfiehlt, wo die Frauen des politischen Vereinsrechts ermangeln, welche vor Allem den Kampf gegen die vereinsrechtliche politische Entmündigung des weiblichen Geschlechts fordert.

Die Resolution zielt nicht darauf ab, den Frauen eine bevorrechtete Sonderstellung zu erringen, ihnen „eine Extrawurst zu braten“, sie will nur deren bisherige Stellung in der Partei wahren, und das zum Zwecke möglichst vollkommener Pflichtleistung. Sie will den festen organisatorischen Zusammenhang zwischen der proletarischen Frauenbewegung und der sozialdemokratischen Bewegung aufrechterhalten, welcher der engen inneren Zusammengehörigkeit entspricht. Sie ist nicht von kleinlicher Prinzipienreiterei diktiert worden, sondern von dem Hinblick auf das praktische Tun, von der Überzeugung der Genossinnen, dass sie bei Fortbestand des bisherigen Systems der Vertrauenspersonen am kräftigsten und wirksamsten für die Partei arbeiten, kämpfen können. Mit allem Nachdruck werden daher die Genossinnen verteidigen, was ihnen als Recht und Pflicht heilig ist.

Wie immer jedoch die Entscheidung des Parteitags ausfallen mag: von der festen Überzeugung durchdrungen, dass die Proletarierinnen als gleichberechtigte Mitkämpferinnen ins Lager der Sozialdemokratie gehören, von dem festen Willen beseelt, ihre Pflicht zu erfüllen, werden die Genossinnen in Zukunft bleiben, was sie in Vergangenheit waren: freudige Mitstreiterinnen im Kampfe für die Befreiung der Arbeit, für die Befreiung des lebendigen Menschen von der Knechtschaft des toten Besitzes. So kostbar ihnen das Recht des Mitbestimmens im Parteileben ist, höher noch steht ihnen das Recht der Mitarbeit, des Mitkampfes, das die Bürgschaft für die Eroberung des Ersteren in sich trägt. Sollten im Interesse der Partei unumgängliche Bestimmungen des Organisationsstatuts sich Dank des reaktionären Vereinsgesetzes gegen das Recht der Genossinnen und ihr Wirken kehren, so nehmen sie den Kampf gegen die in der Folge geschaffenen Unzuträglichkeiten mit der Losung auf: „Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht.


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