Clara Zetkin: Der Breslauer Parteitag

[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 5. Jahrgang, Nr. 22, 30. Oktober 1895, S. 169 f.]

In einer Woche ernsten, fleißigen Schaffens hat der Breslauer Parteitag seine Tagesordnung erledigt. Erledigt natürlich, ohne die Prophezeiungen zu erfüllen, welche in der bürgerlichen Welt mit der Regelmäßigkeit des Mädchens aus der Fremde wiederkehren, um „den unvermeidlichen Zerfall der Sozialdemokratie“ mit der Glaubenssicherheit eines Schäfer Thomas zu verkünden. Im Gegenteil. Der Breslauer Parteitag bezeugt sinnenfällig die innere Kraft der Sozialdemokratie, ihren frischen Drang nach Entwicklung und Ausdehnung. Welche bürgerliche Partei hätte eine Diskussion durchführen können, wie sie sich in Breslau um das Agrarprogramm entspann, ohne ihre Einheitlichkeit, ja ihre Existenz schwerstens zu gefährden? Die Sozialdemokratie konnte furchtlos, rückhaltlos vor der breitesten Öffentlichkeit die strittige Frage der Taktik debattieren, sie konnte die Geister in schroffer Gegensätzlichkeit aufeinander platzen lassen, die Situation klären und dadurch eine fruchtbare Aktion auf dem Lande einleiten.

Ihrer eminenten Wichtigkeit entsprechend nahm die Erörterung des Agrarprogramms den größten Teil der Zeit und das regste und tiefste Interesse des Parteitags in Anspruch. Wenn hier und da die Gegensätzlichkeit der Meinungen auch zu persönlichen Ausfällen führte, so ward doch im Allgemeinen von den Befürwortern und den Gegnern der Kommissionsvorschläge mit großer Sachlichkeit gefochten. Weder im Für noch im Wider wurden neue Gesichtspunkte und Gründe geltend gemacht. Die sehr eingehende Erörterung, welche die Frage seit langen Wochen in der sozialdemokratischen Presse gefunden, hatte wohl so ziemlich erschöpft, was für den Augenblick – und ohne das Problem zu erweitern und zu vertiefen – von dem einen und dem anderen Standpunkt aus vorgebracht werden konnte. Immer klarer trat es dagegen im Laufe der Debatten in Erscheinung, dass sich die Erörterung unserer Haltung gegenüber der ländlichen Bevölkerung und ihren Interessen mehr und mehr zuspitzt zu der Frage, welche Taktik überhaupt für die Sozialdemokratie die zweckentsprechendste sei. Wir begrüßen es deshalb mit besonderer Freude, dass der Parteitag der Resolution Kautsky mit einer starken Zweidrittelmajorität zustimmte. Denn diese Resolution lehnt nicht bloß den Programmentwurf der Kommission entschieden ab, sie legt vielmehr in der Begründung die Gesichtspunkte fest, unter denen wir unsere Haltung gegenüber der ländlichen Bevölkerung zu prüfen haben, sie zeichnet damit der Sozialdemokratie für die Eroberung des platten Landes einen Weg vor, welcher ihrer bisherigen allgemeinen Taktik entspricht.

Irrtümlich ist unseres Erachtens die Annahme, dass der Beschluss des Parteitags in Betreff des Agrarprogramms bestimmt wurde durch trockenen „Dogmenfanatismus“, unfruchtbaren „Buchstabenglauben“, Liebe zum „alten Schlendrian“. Was über den Ausgang der einschlägigen Verhandlungen entschied, war der proletarische Klasseninstinkt, war das proletarische Klassenbewusstsein. Mit Unrecht auch unterstellen gegnerische Blätter der Sozialdemokratie, sie habe sich durch den Beschluss des Breslauer Parteitags als Partei der nichts-als-revolutionären Phrase erklärt, der bloßen Negation zugeschworen, jedes positiv-praktische Eingreifen in die heutigen Verhältnisse, jede Sozialreform zurückgewiesen. Es ist uns unerfindlich, wie man die Verneinung eines staatssozialistelnden Bauernschutzes für gleichbedeutend erachten kann mit der Verneinung jeder Sozialreform überhaupt. Wie unbegründet eine solche Auslegung des Breslauer Parteibeschlusses ist, erhellt aus dem zweiten Teil unseres Programms, erhellt aus der bisherigen Aktion der Partei. Sozialreformatorisch war die Sozialdemokratie die ganzen Jahre hindurch tätig, lange ehe an die Arbeiten der Agrarkommission und ihre Vorschläge gedacht wurde, sozialreformatorisch wird die Sozialdemokratie auch fernerhin tätig sein. Aber ihre positiven, praktischen Programmforderungen sollen nur für Sozialreformen gelten, welche den Klassenkampf erleichtern, erweitern, vertiefen und verschärfen. Der Breslauer Parteitag verwahrte sich also dagegen, dass die Sozialdemokratie in Sachen des Bauernschutzes sich zu einer Haltung verpflichtet, welche im Gegensatz zu dem Wesen der Partei steht, im Gegensatz zu ihrer Stellungnahme in der Handwerkerfrage. Er wollte nichts wissen von Sozialreformen, welche den Todeskampf der Kleinbauern nutzlos verlängern, der Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung zur sozialistischen Gesellschaft entgegenarbeiten, den Eigentumssinn der bäuerlichen Kleinbesitzer stärken, den Großgrundbesitzern und der gesamten Ausbeuterklasse recht erhebliche Vorteile zuwenden und die Machtmittel des Staates der Kapitalisten gegen das Proletariat vermehren.

Nichts weniger als dass die Sozialdemokratie mit dieser ihrer Beschlussfassung auf die Eroberung des platten Landes verzichtet und sich den Weg dorthin verlegt hätte. Umgekehrt erklärte der Parteitag, dass die Sozialdemokratie nach wie vor entschlossen sei, ihr Banner inmitten der ländlichen Bevölkerung zu entrollen. Aber er betonte auch, dass sie dieser Bevölkerung als Partei des Klassenkampfes gegenüberzutreten habe; er begrenzte die der Sozialdemokratie gestellte Aufgabe, indem er hervorhob, dass in erster Linie die ländlichen Proletariermassen und die mehr und mehr der Proletarisierung anheimfallenden Zwergbesitzer und überschuldeten Kleinbesitzer politisch zu schulen und dem Heere der proletarischen Klassenkämpfer einzureihen seien. Wenn der Parteitag die von der Agrarkommission vorgeschlagene Taktik zurückwies, so kam das aus der Überzeugung heraus, dass andere Wege dem Charakter der Partei mehr entsprechen, wenn auch langsamer, aber dafür um so sicherer zum Ziele führen. Entgegen der Ansicht, dass „Probieren über Studieren geht“, gab der Parteitag durch die Annahme der Resolution Kautsky seiner Meinung Ausdruck, dass die Sozialdemokratie nicht eine Partei sozialreformatorischen Experimentierens sein dürfe, und dass ein gründliches Studium der ländlichen Verhältnisse unerlässliche Voraussetzung für eine planmäßige Aktion auf dem Lande sei. Der Beschluss des Breslauer Parteitags schneidet mithin die Erörterung der Agrarfrage nicht ab, sondern er hält sie in Fluss; er bedeutet nicht das Ende eines Vorstoßes der Partei in neuer Richtung, sondern den Anfang eines solchen.

Durch die Annahme der Resolution Kautsky haben die Vertreter der Partei den Standpunkt des Klassenkampfes stark und scharf betont. Wir erblicken darin einen doppelten Vorzug. Einmal mit Rücksicht auf die von der Partei zu befolgende Taktik, dann aber auch mit Rücksicht auf die Haltung der bürgerlichen Sozialreformler gegenüber der Sozialdemokratie. Je schwieriger diese wird, je mehr ihnen in lichten Momenten ihre Schwäche unverhüllt durch ideologische Phrasen zum Bewusstsein kommt, um so angenehmer wäre es ihnen, mit der in strotzender Lebenskraft stehenden Sozialdemokratie „innige Fühlung“ zu gewinnen, wenn die Sozialdemokratie, ja wenn sie ihren revolutionären Charakter etwas abschwächen möchte. Mit der Partei des Klassenkampfes zu Paktieren, fi donc [schäm‘ dich], das kompromittiert bei den bürgerlichen Sippen und Magen. Arm in Arm dagegen marschiere mit einer Partei, welche das Hauptgewicht ihrer Tätigkeit auf „ernste Sozialreformen im Interesse der allgemeinen Kultur“ legt, das ist politisch vorteilhaft und gegenüber der bürgerlichen Welt noch comme il faut [wie es sich gehört]. Solange die bürgerlichen Sozialreformler als Freunde der leidenden Arbeiterklasse außerhalb der Sozialdemokratie stehen, kann diese ihrem Tun und Treiben ruhig zusehen, es trägt Unklarheit, Verwirrung, Zersplitterung in das bürgerliche Lager. Ihre „innigere Fühlung“ mit der Partei kann sie nicht schroff genug ablehnen, sie würde dazu führen, das Klassenbewusstsein der Masse zu trüben, den proletarischen Klassenkampf sentimental bürgerlich anzukränkeln. Mit dem Agrarprogramm hat der Breslauer Parteitag den Klüngel der guten Menschen und schlechten Musikanten für die nächste Zeit von der Sozialdemokratie abgeschüttelt, und das ist sehr gut.

Die übrigen Punkte der Tagesordnung wurden schnell erledigt. Der Parteitag anerkannte, dass der Vorstand im Punkte der Geschäftsführung und die Reichstagsfraktion in ihrer parlamentarischen Tätigkeit in treuester Pflichterfüllung und zum Nutzen der Partei ihren Aufgaben nachgekommen waren. Die Anträge und Debatten, welche sich auf die verschiedenen Seiten der Parteitätigkeit bezogen, brachten manche frommen Wünsche und manche fruchtbaren Anregungen. Sie galten zum größten Teil der Erweiterung und Vertiefung der Agitation, dem weiteren Ausbau des gesetzlichen Arbeiterschutzes, der Herbeiführung größerer Bewegungsfreiheit für das Proletariat etc. Unter anderem lagen dem Parteitag mehrere Anträge vor, welche darauf abzwecken, die Masse der proletarischen Frauen immer mehr für die Ziele des Sozialismus zu gewinnen, sie als geschulte und klare Streiterinnen an dem Klassenkampfe des Proletariats teilnehmen zu lassen. Die betreffenden Anträge wurden von den Genossinnen Rohrlack, Lutz, Steinbach und Zetkin vertreten und gelangten einstimmig zur Annahme. Einen entschiedenen Fortschritt bedeutet der Beschluss des Parteitags über die Maifeier; von dem regen internationalen Solidaritätsgefühl der deutschen Sozialdemokratie zeugt die Resolution betreffs des nächsten internationalen Kongresses. Zur Frage „Hausindustrie, Schwitzsystem und Arbeiterschutz“ bekundete der Parteitag, dass die Sozialdemokratie überall und allezeit für Reformen kämpft, welche den dauernden Klasseninteressen des Proletariats entsprechen.

Mit Befriedigung kann die Sozialdemokratie auf ihren letzten Parteitag zurückblicken. Er zeigt die Partei des klassenbewussten Proletariats inmitten der Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft und des Ansturms der Reaktion gefestigt und kerngesund, kampfbereit, voll feuriger Jugendkraft von Aufgabe zu Aufgabe schreitend, ihres endgültigen Sieges gewiss.


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