[Die Neue Zeit, IX. Jahrgang 1890-91, II. Band, Nr. 50, S. 745-749]
Berlin, den 31. August.
Es gibt wenige geflügelte Worte, die durch häufiges Zitieren so verbraucht sind, wie jene, bald dem Hofmeister eines badischen Markgrafen, bald dem Papste Julius IIl., zumeist aber dem schwedischen Kanzler Axel Oxenstierna zugeschriebene melancholische Frage: An nescis, mi fili, quantula prudentia mundus regatur? Weißt du nicht, mein Sohn, mit wie geringem Verstande die Welt regiert wird ? Aber ach! es gibt auch wenige Wahrheiten, die sich so häufig und so unerbittlich aufdrängen, die diese. Man muss ihrer insbesondere auch bei einem Rückblick auf die aktuellen Ereignisse und Zustände der vergangenen Woche gedenken, sei es nun, das man die Frage der Getreidezölle oder die neue Gesetzesvorlage gegen die Trunksucht oder aber die grelle Beleuchtung ins Auge fasst, welche der zwischen den drei „Nationalheroen“ Bismarck, Moltke und Noon entbrannte Geistes- oder – da die beiden Letzteren nur aus dem Grabe sprechen – Geisterkrieg auf jenes geflügelte Wort wirft.
Der Kampf um die Getreidezölle und die Kritik des Trunksuchtsgesetzes fallen mehr in das Gebiet der Tagespresse. Nur sie kann mit der nötigen Schnelligkeit und Schärfe die aus allen Ecken und Enden des Reichs auftauchenden Nachrichten über das drohende Hungerjahr sammeln und als eben so viele spitze Pfeile gegen die unheilvolle Verblendung richten, die trotz alledem an den Getreidezöllen festhält; als heitere Abwechslung in diesem düsteren und schweren Kampfe mag ihr auch die kritische Zerfetzung jener gesetzgeberischen Missgeburt überlassen werden, die einmal wieder eine notwendige Folge der kapitalistischen Produktionsweise mit den Spießen und Stangen derselben Polizei schützen will, welche die Ursache, eben die kapitalistische Produktionsweise, als das heiligste Palladium einer sittlichen Gesellschafts- und Staatsordnung schützt. Dass sich der kapitalistische „Freisinn“ entweder, wie beispielsweise die „Nation,“ mit schwachmütigen Redensarten des Kalibers, das „solche Mittel,“ die „freilich nicht immer zu umgehen“ wären, sich „niemals als sehr wirksam“ erwiesen, um das Trunksuchtsgesetz herumdrückt oder gar in einzelnen seiner „prominenten“ Gestalten die „bessernde Hand“ daran legen will, macht den komischen Widersinn nicht ernsthafter. Ganz im Gegenteile! Ernsthaft könnte er nur werden, wenn diese Nebelgestalt vorsintflutlicher Polizeifantasten wirklich sich in Fleisch und Blut verwandeln würde, aber bis dahin hat es wohl noch eine gute Weile Zeit, nicht von wegen des Triebsandes der bürgerlichen Opposition, wohl aber von wegen der ehernen Schranken, welche die schon erreichte Höhe der ökonomischen Entwicklung der polizeilichen Allmacht entgegenstellt.
Dagegen fallen einige Betrachtungen über die Fehde Bismarck-Moltke-Roon um so mehr in den Rahmen der „Neuen Zeit,“ als die Tagespresse der Arbeiterpartei die einschlägigen Fragen naturgemäß nur gelegentlich berühren kann. In Briefen Roons, welche die „Deutsche Revue“ veröffentlicht hat, wird eine herbe Kritik namentlich an Moltkes Feldherrntätigkeit vor dem belagerten Paris geübt; in dem eben erschienenen ersten Bande aus dem literarischen Nachlasse von Moltke kommt wieder Roon schlecht weg, insoweit es sich um seinen Rat und seine Tat in den Feldzügen gegen Österreich und Frankreich handelt; Bismarck endlich fährt in seiner offiziösen Presse grimmig gegen Moltke los, weil derselbe das ehrliche Zugeständnis gemacht hat, das der Krieg von 1866 kein Krieg der Notwehr um die Existenz des preußischen Staats gewesen sei. Gegen diese ketzerische Behauptung führt Bismarck namentlich aus dem königlichen Kriegsaufruf von 1866 den Satz an: „Wir müssen fechten um unsere Existenz,“ eine Beweisführung, die sich für das Urteil eines Hofmarschalls gegen Moltke richten mag, für das Urteil des Historikers aber, gleichviel ob Bismarck das beabsichtigt hat oder nicht, nur gegen den damaligen König von Preußen richtet. Überhaupt fährt der Letztere bei diesem Streit seiner „drei großen Paladine“ herzlich schlecht. Abgesehen von Bismarck, der von jeher als „kurbrandenburgischer Vasall“ seine Sünden auf Wilhelm I. abzuladen bemüht gewesen ist, so schildert Roon in seinen vertrauten Briefen den König als einen „Weibereinflüssen““ zugänglichen Mann, während Moltke nur für sich den Ruhm beansprucht, die Feldzüge von 1866 und 1870/71 an oberster Stelle geleitet zu haben, indem er ausführt, Wilhelm I. sei seinen Vorschlägen „ausnahmslos“ gefolgt; weder habe der König eigene Entschlüsse gefasst, noch anderen Kriegsrat gehalten, Hiergegen protestiert nun zwar wieder Bismarck, aber keineswegs im Interesse des Königs, sondern nur in seinem eigenen Interesse; er will auch in militärischen Dingen das alles überwältigende Genie gewesen sein, und nur aus Furcht, von ihm überstrahlt zu werden, sollen die Generale ihn von den militärischen Beratungen ferngehalten haben, was dann den König zu der Äußerung bewogen habe, das könne er ihnen auch gar nicht verdenken, denn in den wenigen Fällen, in denen er den militärischen Rat Bismarcks eingeholt habe, habe derselbe stets den Nagel auf den Kopf getroffen. Ist diese Darstellung richtig, so wäre dem Hauptquartier von Versailles, von dessen Beschlüssen das Blut und Leben von Millionen abhing, wirklich ein Historiker von der knappen und präzisen Ausdrucksweise des Kanzlers Oxenstierna zu wünschen.
Es muss natürlich der bürgerlichen Geschichtsschreibung überlassen werden, in diesem anmutigen Streit den Schiedsrichter zu spielen und die „weltgeschichtliche“ Frage zu entscheiden, wer von den drei „Nationalheroen“ ein „großer,“ ein „größerer“ und ein „allergrößter“ Mann gewesen ist. Dem profanen Verstande erscheinen die beiden Soldaten als gebildete und gelehrte Männer, auch in ihrer besonderen Art als Männer von Grundsätzen und Überzeugungen, während der Diplomat sich auch hier als der brutale und eigensüchtige Klopffechter erweist, welcher um irgend eines augenblicklichen Effekts willen mit Logik und Tatsachen umspringt, als wären es Anweisungen auf den Welfenfonds. Roon war ein namhafter Geograf und politisch etwa, was wohlgesinnte Geschichtenschreiber einen „preußischen Patrioten von altem Schrot und Korn“ zu nennen pflegen, d.h. ein Mann, der in dem Militarismus die glücklichste Versöhnung von Absolutismus und Feudalismus erblickte, und wenn dann etwa noch die protestantische Orthodoxie ihren Segen über diesen Bund gesprochen hatte, „Kaiser und Reich“ am liebsten zum Henker wünschte. Ein zugleich feinerer und weiterer Geist war Moltke, trotz seiner mecklenburgischen Abstammung frei von feudalen Schrullen und altkritischen Manieren, bewandert in allen technischen Wissenschaften, ohne besonders hervortretende politische Neigungen, aber ganz und gar in den Vorstellungen des heutigen Staates befangen, wie sich das Alles für den ersten Heerführer des industriellen Zeitalters schicken mag, in welchem der Krieg selbst eine große Industrie geworden ist, wenn auch nur eine Industrie, die Werte zerstört, statt sie zu schaffen. Demgemäß ist auch seine historisch politische Auffassung der Dinge von einer seltsamen Beschränktheit, und es macht nahezu den Eindruck der Hilflosigkeit, wenn er in der aus seinem Nachlasse herausgegebenen Schrift, die eine volkstümliche Darstellung des deutsch-französischen Krieges geben will und übrigens kaum etwas Neues bietet, auf die oberflächlichsten Analogien hin über die Dynastiekriege von ehedem und die Volkskriege von heute orakelt.
Ein Satz von Moltke, den die Bourgeoispresse mit besonderer Rührung bewundert, hat folgenden Wortlaut: „Es ist eine Pflicht der Pietät und der Vaterlandsliebe, gewisse Prestigen nicht zu zerstören, welche die Siege unserer Armee an gewisse Persönlichkeiten knüpfen.“ Ganz abgesehen von der Moral dieses Satzes und ganz abgesehen auch davon, dass Moltke in seiner Schrift das „Prestige“ Wilhelms I. gründlich zerstört, so ist die „Pflicht,“ die er statuiert, nur denkbar in einem monarchischen Militärstaat und nur möglich für Dynastiekriege. Ein monarchischer Militärstaat braucht allerdings „Paladine“ und „große Degen“ und militärische Legenden, wie das liebe Brot; es hat noch nie einen Militärstaat ohne diese kostbaren Raritäten gegeben. Aber ebenso wenig hat es ein Volksheer oder einen Volkskrieg gegeben, die „Prestigen“ fabelhaften Ursprungs bedurften, man nahm bisher vielmehr an, das es in Volksstaaten allemal als eine „Pflicht der Pietät und der Vaterlandsliebe“ betrachtet wurde, militärische „Prestigen“ so rasch als möglich zu zerstören. Washington dachte zum Beispiel so und er nahm die notwendige Operation selbst an seinem „Prestige“ vor. Noch hilfloser gebärdet sich die Logik Moltkes in der Behauptung: „Öfter wird man ein friedliebendes Staatsoberhaupt finden, als eine Versammlung von Weisen.“ so wie der Satz dasteht, mag er richtig sein, ist dann aber auch völlig nichtssagend. Was Moltke tatsächlich nach dem Zusammenhange meint, ist aber ein Kopfsprung der schlimmsten Art. Gerade was die Volksvertretungen der bürgerlichen Gesellschaft hindert, „Versammlungen von Weisen“ zu sein, nämlich ihre bürgerlichen Klasseninteressen, das hält sie auch von jedem frivolen Angriffskriege ab, während der antagonistische Charakter der heutigen Monarchie es bedingt, das ihre friedliebenden Träger schwache und untaugliche Charaktere zu sein pflegen, während ihre kräftigen und tüchtigen Elemente bei allem subjektiven Vorsatze der Friedensliebe doch unwillkürlich zum Militarismus und damit zur Kriegslust gedrängt werden. Für das Gedeihen von Charakteren und Talenten lassen sich kann ungünstigere Lebensbedingungen denken, als die sind, unter denen die europäischen Fürstengeschlechter leben und darüber hinaus macht sich die Ungunst dieser Verhältnisse auch noch darin geltend, das wenn einmal eine Ausnahme stattfindet, diese Ausnahme sich in der Regel nur im Kriege geltend zu machen weiß. Eben weil der fürstliche Beruf von allen Künsten und Wissenschaften nur der einfachsten und schlichtesten, nämlich der Kriegskunst, den nötigen Spielraum lässt, ja ihrer Ausübung noch besonders günstige Bedingungen sichert. Es hat nie einen Monarchen gegeben, der ein großer Dichter oder ein großer Maler oder ein großer Chemiker gewesen wäre, aber „große Feldherrn“ gab es unter den Kronenträgern die schwere Menge und verhältnismäßig mehr, als in irgend einem anderen Stande, Das macht: die Regeln der Kriegskunst sind einerseits so einfach, das jeder leidlich normale Verstand sie leicht begreift, andererseits wird Derjenige sie am besten ausüben, der möglichst ungehindert und möglichst unverantwortlich über Blut und Gut eines Volkes verfügen kann. Ganz zutreffend führt Herr Hans Delbrück, Professor der Geschichte an der hiesigen Universität, zur Erklärung der Tatsache, das „die Weltgeschichte unter den großen Generalen so außerordentlich viel Männer fürstlichen Standes aufweist, “ Folgendes aus: „Die hohe, unter allen Umständen gesicherte Stellung erleichtert es auch gar nicht so hervorragend. beanlagten Naturen, die großen Entschlüsse zu fassen, die die Kriegsführung bestimmen. Die fürstliche Geburt ist ein sozusagen künstliches Hilfsmittel für die Bildung eines tüchtigen Heerführers,“ Das klingt anders, als die Theorie von Moltke, aber Herr Delbrück als Prinzenerzieher a. D. muss es am Ende wissen.
Auf dem oben angedeuteten Zusammenhange beruht beiläufig auch die ganze Friedericianische Legende, was längst aufgedeckt worden wäre, wenn wir „sittlichen“ und „wahrheitsliebenden“ Deutschen dieser Legende nur mit dem zehnten Teile des Mutes auf den Leib gerückt wären, mit welchem die „verkommenen Franzosen“ die doch so viel jüngere und in ihrer Art grandiosere, napoleonische Legende zu zerstören begonnen haben. Friedrich war ursprünglich durchaus kein. militärisches Genie; bis zu seiner Thronbesteigung war ihm sogar alles Soldatenwesen verhasst, und als er in hellen Haufen mit halb Europa die wehrlose Maria Theresia überfallen hatte, floh er in der Schlacht bei Mollwitz vor seinem oder seiner Soldaten Siege. Aber als sich das Blatt gegen ihn wandte und seine Krone auf dem Spiele stand, gab ihm die Rücksichtslosigkeit, mit welcher er über Alles verfügte, was in seinem Machtbereich lag oder was er mit Recht und Unrecht in diesen Machtbereich ziehen konnte, die entscheidende Überlegenheit über die österreichischen, französischen und russischen Generale, die, von ihren Höfen abhängig, auf Schonung der kostspieligen Söldnerheere angewiesen, vor lauter Bedenken und Überlegen kaum zu einem kräftigen und schnellen Entschlusse gelangten. Andererseits aber waren die preußischen Generale von dem Despotismus Friedrichs noch viel abhängiger als Daun vom Wiener, Soubise vom Pariser oder Fermor vom Petersburger Hofe, und so verloren sie regelmäßig das Spiel, wenn sie selbständig kämpften. Die auffallende Tatsache, das die preußischen Truppen denselben Gegnern gegenüber unter Friedrich meistens siegten, unter seinen Generalen aber fasst immer geschlagen wurden, hat neuerdings die preußischen. Militärhistoriker, statt sie, wie billig, auf den Grund oder Ungrund der Friderizianischen Legende zu führen, vielmehr zu den wunderbarsten Fantasien begeistert; so veröffentlichte Theodor von Bernhardi, der sonst zu den besseren, bürgerlichen Geschichtsschreibern gehört und den Einfluss der ökonomischen Entwicklung auf die Kriegführung keineswegs völlig verkannte, auch im Kriege 1866 preußischer Militärbevollmächtigter beim italienischen Heere war, zwei dicke Bände, in denen er nachzuweisen sucht, das die preußischen Generale des siebenjährigen Kriegs mehr oder weniger unfähige Menschen gewesen seien und dass Friedrich nur deshalb gesiegt habe, weil er kraft einer Art übermenschlichen Genies mit Söldnerheer, Lineartaktik und Magazinverpflegung dieselbe Strategie durchgeführt habe, wie Napoleon mit dem Volksheer, der Tirailleurtaktik und dem Fouragesystem. Wer dies 1881 erschienene Werk von Bernhardi mit Charras‘ 1858 erschienenen „Waterloo“ vergleicht, kann eine interessante Parallele zwischen deutschem und französischem Chauvinismus ziehen.
Inzwischen rückt auch den deutschen Chauvinismus der Tag des Katzenjammers immer näher, und jene Wettkritik, mit welcher die „großen Paladine des neuen Deutschen Reichs“ sich gegenseitig zerfleischen, konnte in gar keinem passlicheren Augenblicke ertönen, als da eben die Loyalitätsfracks ausgebürstet werden, um übermorgen den dreimal siebenden Sedantag zu feiern. Übermorgen oder eigentlich morgen, denn Moltke verwundert sich sehr darüber, weshalb der Sedantag am zweiten September gefeiert wurde, da doch die Schlacht von Sedan auf den ersten September fiele. In der Chronologie hat er ganz recht, aber doch nicht in dem sozusagen nationalen Feingefühl. Denn wäre das Sedanfest wirklich ein so vollendeter Anachronismus, wie es ist, wenn es nicht obendrein auch noch auf ein falsches Datum gelegt worden wäre?
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