[Die Neue Zeit, IX. Jahrgang 1890-91, II. Band, Nr. 49, S. 718-723]
Stolpmünde, den 24. August.
Ein flacher Strand, eine stille See, niedrige Dämme, in deren Sande einige kümmerliche Anpflanzungen unter dem prunkenden Namen von „Strandanlagen“ ein trostloses Dasein führen, ein enger und immer wieder versandender Hafen für die Küstenschifffahrt, dazu ein Flecken mit einem oder ein paar Tausend Einwohnern, Fischern, Lotsen, Krämern, die alle schon auf die Bewirtung von Badegästen dressiert, aber durch die Bewucherung derselben noch lange nicht so degeneriert sind, wie etwa die Bewohner von Borkum oder Helgoland, endlich eine neuerbaute Kirche und einige Hotels nebst Strandpavillons -. das ist Stolpmünde (Es ist lange nicht so fashionable wie an den Bädern der pommerschen Ostseeküste, wie etwa Kolberg, Misdroy, Sassnitz, aber dafür um so feudaler., Bis hierher dringen die „Berliner Juden,“ die zum Kummer der Junker auch Kolberg „überschwemmen,“ noch nicht vor; das blaue Blut von Hinterpommern ist hier noch ganz unter sich. Man kann um keine Ecke biegen, ohne auf einen Puttkamer oder einen Zitzewitz zu stoßen. Diese eng versippten Geschlechter herrschen im hinterpommerschen Adel vor, Insbesondere die Puttkamer. Sie leiten ihre Abkunft von den slawischen Herren von Swenza ab, die einmal in aschgrauer Vorzeit diese Gegend beherrscht haben; dann wollen sie unter den wendischen Herzogen von Pommern eine Art erblicher Kanzler- oder Marschallwürde bekleidet haben; aus dem Titel subcamerarius soll der Name Puttkamer entstanden sein. Wie viel von ihrem „alten und befestigten“ Grundbesitze auch schon ihren Händen entglitten ist: sie sitzen noch dicht gesäet auf den Latifundien zwischen Wipper und Weichsel.
Auch der berühmteste Sprosse dieser berühmten Familie, dessen Andenken jeder deutsche Proletarier in ach! wie treuem Herzen bewahrt, führte diesen Sommer seine flatternden Bartkoteletten und seine ehrenvolle Armut in Stolpmünde spazieren. – sein Gut Carzin, das, ursprünglich ein Lehen der Zitzewitze, im Erbgange auf ihn gekommen ist, liegt ein paar Meilen weiter südöstlich; es ist ein stattlicher Besitz von viertausend Morgen, etwa die Hälfte Forst, ein Drittel unter dem Pfluge, der Rest Hutung und Wiese: auch ein sehr begehrliches Junkerlein könnte sich in der Ära der Holz- und Kornzölle recht und schlecht davon ernähren, Aber für Herrn v. Puttkamer hat’s nicht gelangt, nicht einmal zusammen mit den fünftausend Talern Ministerpension; noch musste das Oberpräsidium der Provinz Pommern mit sechs- – oder wie viel? – tausend Talern Gehalt dazu kommen, um dem Nachfahr der slawischen Zaunkönige ein „standesgemäßes“ Dasein zu sichern. Nunmehr endlich darf sich das Vaterland dem beruhigenden Bewusstsein hingeben, dass der Held des Sozialistengesetzes, der auf die Berichte seiner Ihring-Mahlow und Naporra hin so viele Hunderte von Arbeitern in Elend, Hunger und Tod getrieben hat, auf seine alten Tage wenigstens nicht zu darben braucht. Ehedem war Stolpmünde auch das Lieblingsseebad von Bismarck; von hier sind einige der „epochemachenden“ Briefe datiert, in denen er seinen näheren Parteifreunden die Blut- und Eisenpolitik mundgerecht zu machen suchte. Varzin war damals noch nicht in seinem Besitze; er kam von Reinfeld herüber, dem Gute seines Schwiegervaters, einem reichen Lehen der Puttkamer. Jetzt vergrößert Reinfeld freilich auch nur den bismärckischen Grundbesitz; es war nach 1866 eine der ersten und segensreichsten Reformen, das pommersche Lehensrecht mit seiner männlichen Erbfolge und ähnlichen, höchst veralteten Schnickschnack zu revidiere.
Das süße Nichtstun des Badelebens wird einigermaßen durch die hochgehenden Wogen der Wahlagitation gestört. Das Reichstagsmandat des Herrn v. Puttkamer ist durch seine Ernennung zum Oberpräsidenten hinfällig geworden und der Reichstagswahlkreis Stolp-Lauenburg muss von Neuem wählen. Zu diesem Behufe hielt hier vor einigen Tagen der deutsche Bauernbund eine Versammlung von etwa hundert Personen ab, vor denen Herr v. Below-Saleske sehr schön bewies, dass Großgrundbesitzer, Bauer und Tagelöhner ein und dieselben Interessen haben, mit andern Worten, das in der Nacht einer konservativen Wahlagitation alle Katzen grau sind. Edelmütig erbot er sich auch, um dem Mangel an Bauern im Reichstage abzuhelfen, sein Mandat zum Landtage in die Hände des ersten, besten Bauern niederzulegen, der darnach verlange, aber es meldete sich Niemand, ihm die ehrenvolle Last abzunehmen, nicht einmal der Schullehrer der die Büdner und Kossäten von Saleske, welche den Stamm der Versammlung bildeten. In Stolp aber wird morgen der deutsche Bauernverein durch seinen Vorsitzenden, den Reichstagsabgeordneten Wisser-Windischolzhausen pauken, natürlich gleichfalls für Wahlzwecke, obgleich er diese Absicht ebenso sorgfältig verheimlicht, wie seine „liberalen“ Grundsätze; man kennt ja die eigentümliche Vorsicht des Freisinns, der um so sicherer zu mausen gedenkt, je sorgfältiger er sich die Schelle abgehängt hat. Es wird ihm aber in diesem Falle so wenig helfen, wie in anderen Fällen; seitdem der Wahlkreis Stolp im Jahre 1848 Lothar Bucher in die preußische Nationalversammlung wählte, hat er, von tiefer Reue ergriffen, zum Land- wie zum Reichstage immer stockkonservativ gewählt und wird es auch diesmal tun. Es ist nur ein anmutiger Schnörkel um diesen feststehenden Punkt, wenn der konservative Bauernbund und der liberale Bauernverein sich mit gleicher Kraft der Überzeugung gegenseitig des Bauernfangs zeihen.
Derweil regnet der Regen jeglichen Tag; in sieben Wochen sind kaum sieben regenfreie Tage verzeichnet worden; seit mehr als zwanzig Jahren ist hier ein ähnlicher Sommer nicht dagewesen. Die Getreideernte hat unter dieser Witterung schwer gelitten; der Roggen ist vielfach ausgewachsen; der Weizen steht meist zwar nicht mehr auf dem Halme, aber doch noch auf dem Felde, und der Himmel, auf den Herr v. Caprivi seine Wechsel gezogen hat, mag wissen, ob er noch zur Not unter Dach und Fach kommt. Dies ist aber weitaus noch die geringere Sorge, Im Westen von Stolpmünde zieht sich bis Rügenwalde und darüber hinaus ein fruchtbarer Küstenstrich von ziemlicher Breite hin, das sogenannte Rügenwalder Amt, meist altes Kirchen- und Klostergut; feudaler und fiskalischer Großbesitz liegen hier mit Ansiedelungen deutscher Bauern, den sogenannten Hagen-Dörfern, im Gemenge, Hier ist die Getreideernte noch so ziemlich ausgefallen, aber dafür ist bei der ewigen Nässe und dem schweren Boden ein völliges Missraten der Kartoffelernte um so sicherer. Und die Kartoffel ist für die Landarbeiter auf den hinterpommerschen Latifundien nicht minder als für die Kleinindustriellen im Meininger Oberlande, wenn nicht das einzige, so doch das hauptsächlichste Nahrungsmittel, Roggen verzehren sie wenig und auf Weizen sie zu vertrösten, ist schon ein grausamer Hohn. Auf manchen – nicht auf allen – Gütern ist den Tagelöhnern die Ährenlese auf den Weizenfeldern gestattet, wohlgemerkt, nachdem die Hungerharke ihr gründliches Werk getan hat, aber was sie an ein paar Körnern erbeuten, backen sie nicht zu Brot, sondern brennen sie zu einem Surrogate für Kaffee. Ein Missraten der Kartoffelernte bei unerschwinglichen Getreidepreisen ist tatsächlich die Erklärung eines furchtbaren Notstandes, Die agrarische „Zeitung für Hinterpommern“, die in Stolp erscheint und in ihren Leitartikeln immer abwechselnd die „Sozialdemokratie vernichtet“ und die „Notwendigkeit“ hoher Kornpreise „begründet“, frischt heute eine Verordnung Friedrichs Il. auf, worin er der Landbevölkerung empfahl, „die Kartoffel in kleine Stücke zu zerschneiden, im Backofen zu dörren, mahlen zu lassen und mit wenig Roggenmehl (etwa ¼ Zusatz) zum Brotbacken zu verwenden“ und sie fügt folgenden, in seiner seltsamen Mischung von Trotzen und Verzagen die Situation scharf kennzeichnenden Satz hinzu: „Eine Aushilfe, die man bei der heutigen Teuerung vielleicht auch ergreifen könnte, wenn nicht die Kartoffeln selbst so teuer wären.“ Allerdings! In derselben Nummer berichtet dieselbe, sicherlich keiner Übertreibungen zu Ungunsten der Agrarier verdächtige Zeitung, dass in Schlawe der Zentner Roggenmehl bereits 18,75 Mk. kostet (der Zentner Weizenmehl 18 Mk.) und dass in Kolberg der Zentner Kartoffeln mit 5-6 Mk. bezahlt wird. Preise von geradezu entsetzlicher Höhe!
Jene aus Trotzen und Verzagen gemischte Stimmung, welche ihr Organ verrät, kennzeichnet auch die Agrarier selbst. Sie wissen recht wohl, das schwere Zeiten bevorstehen, schwere Zeiten auch für sie, aber päpstlicher als der Papst wollen und können sie am Ende auch nicht sein und die „hohen Herren in Berlin müssen es ja am besten wissen,“ Gelegentlich entschlüpft ihnen auch wohl das Geständnis? „Caprivi muss sein Spiel verlieren, “ wobei dann ein bisschen Schadenfreude über die in ihrer Art wirklich auch „geniale“ Politik des „neuen Kurses“ . durchbricht, Am meisten ängstigt sie die drohende Kartoffelnot. Hat der Tagelöhner keine Kartoffeln mehr, seinen Hunger zu stillen, so empfängt selbst ihr naives Klassenbewusstsein einen schweren Stoß, Die Naivität dieses Bewusstseins unterscheidet sie von der Bourgeoisie, welche in Berlin und andern großen Industriezentren die erste Geige spielt. sie gibt ihnen den Mut, in ihrer Art Prinzipien zu haben und diese Prinzipien rücksichtslos zu vertreten. Die Junker glauben wirklich, was der Bourgeois für seinen Teil nur sich und andern vor heuchelt: nämlich, dass sie die Grundsäulen von Gesellschaft und Staat sind, das alle Welt zufrieden ist, sobald es ihnen gut geht. Die Jahrhunderte alte Überlieferung einer herrschenden Klasse ist ihnen gewissermaßen in Fleisch und Blut Übergegangen; sie wagen zu sein, was sie sind, und sie werden sicherlich auch dadurch nicht schlechter, das sie das feige, scheue und verräterische Spiel der Bourgeoisie mit „Freiheit“ und gar mit „Sozialreform“ verschmähen Das gilt nicht von allen Junkern, beispielsweise von den Puttkamer und auch den – Bismarcken nicht, aber es gilt noch von dem Zaunjunker alten Schlages, der auf seiner Scholle groß geworden ist und sein Dasein verbringen möchte, wie seine Vorfahren ihr Dasein seit unvordenklichen Zeiten verbracht haben. Dass seine Klassenherrlichkeit sich ebenso, wie die Klassenherrlichkeit der Bourgeoisie, auf einem notleidenden Proletariate baut, glaubt er allen Ernstes nicht. Die Knechte und Tagelöhner haben ja ihr Auskommen, wie es sich für ihren Stand schickt; gibt man ihnen mehr, als sie verlangen, so macht man sie nur „unzufrieden, “ und verlangen sie mehr, als man ihnen gibt, so müsste es ja mit dem „Teufel zugehen,“ wenn die Knechte auf dem Hofe kommandieren sollten, und nicht der Herr. Der Grundton dieser Klassenanschauung leuchtet zwischen den Zeilen selbst in den Schriften von Rodbertus hervor und ebenso in den Dichtungen Fritz Reuters. Es gehört zu den heitersten Einfällen des Herrn v. Treitschke, in seinen gegen den Sozialismus gerichteten Aufsätzen der begehrlichen Sozialdemokratie den plattdeutschen Dichter als den Poeten eines genügsamen und patriotischen Proletariats entgegenzustellen. Es ist wahr: als Reuter noch ein armer Teufel war, hat er in „Kein Hüsung“ den Klassengegensatz zwischen „Herr“ und „Knecht“ zum Vorwurf genommen, und es gereicht seinem braven Herzen zu aller Ehre, dass er diese Dichtung bis an sein Lebensende für seine beste hielt. Aber der „Herr,“ den er schildert, ist ein ganz ausnahmsweiser Unmensch, und der „Knecht,“ der ihn in berechtigter Notwehr erschlägt, begeht ein sittlich unsühnbares Verbrechen; seine Geliebte, die proletarische Klassengenossin, um derentwillen er zum „Mörder“ wird, wendet sich in unüberwindlichem Abscheu von ihm ab, In Reuters späteren Werken, so namentlich in der „Stromtid,“ spielt das ländliche Proletariat nur nebensächlich mit; es muss zufrieden sein, und ist auch zufrieden, wenn es sein richtiges Deputat bekommt; der ländlichen Arbeiterfrage steht der Dichter so gegenüber, wie sein Jung-Jochen: „’t is all so, as dat Ledder is; wat sall Einer dorbi dauhn?“ Womit die köstliche Naturwahrheit, mit welcher Reuter die Typen des pommerschen Landlebens schildert, wie es nun einmal ist, nicht bestritten, vielmehr nur bestätigt werden soll.
Wie es nun einmal ist, oder vielmehr! wie es vor dreißig oder vierzig Jahren war, Denn seitdem hat die ökonomische Entwicklung ihren revolutionierenden Einfluss auch auf die Landbevölkerung geltend gemacht, auf die „Herren“ wie auf die „Knechte.“ Es erübrigt, an. dieser Stelle die Ursachen zu entwickeln, welche eine intensivere Kultur des Bodens ebenso möglich wie notwendig machten: umfassende Drainierungen, immer wachsender Gebrauch mineralischer Düngemittel, Arbeitsmaschinen der mannigfaltigsten Art gestalteten den landwirtschaftlichen Betrieb von Grund aus um, entschieden auch hier den Sieg des Großbetriebs. „Insbesondere auf den fiskalischen Domänen traten die kapitalistischen Pächter in die Erscheinung, und es mag nicht leicht eine borniertere und zugleich reaktionärere Utopie geben, als den „sozialreformatorischen“ Gedanken, durch Parzellierungen dieser Domänen der „notleidenden Landwirtschaft“ aufzuhelfen oder einen „leistungsfähigen Bauernstand“ zu schaffen. Unter den Junkern forderte die neue Zeit zahlreiche Opfer. Manchen von ihnen fehlte das nötige Kapital, andern die nötige Einsicht; Musterwirtschaften finden sich auf feudalem Grund und Boden, den die Besitzer selbst bewirtschaften, verhältnismäßig noch immer seltener als bei den bürgerlichen Pächtern privater oder staatlicher Domänen. Saleske ist solch eine Musterwirtschaft; schon der Strohschober, welcher sich vor den großartigen, massiv aufgeführten Wirtschaftsgebäuden am Wege von Stolpmünde erhebt, zeichnet sich durch seine elegante Symmetrie aus; die Tagelöhnerhäuser sind neu erbaut, aus Stein und Ziegel, wie denn Herr v. Below den begründeten Ruf eines wohlwollenden Gutsherrn genießt. Aber gleich die benachbarte Herrschaft Schlackow, ein Puttkamersches Majorat von vier oder. fünf großen Gütern, befindet sich in dem traurigsten Zustande. Halsbrechende Wege; die nicht drainierten Felder unter blankem Wasser; hier eine verfallene Schäferei und dort eine verwüstete Ziegelei; um Park und schloss des Hauptguts Tagelöhnerkaten, deren Strohdächer von wucherndem Unkraut übersponnen und deren Lehmfachwerk zerfallen ist; gleichsam erstickt von Jauche und Schmutz, von Rauch und Ruß, sind sie mehr Höhlen für Tiere, als Wohnungen für Menschen; hier hält nur die Größe des Besitzes den unaufhaltsamen Verfall auf. Eine dritte Art junkerlicher Wirtschaft mag die Herrschaft Varzin darstellen, welche von ihrem Besitzer mit aller Dampf, aber auch mit aller Exploitationskraft des Großkapitals betrieben wird. Fürst Bismarck gehört zu den verhasstesten Grundherren der Provinz. Wie sein Wirken als Staats-, so ist auch sein Wirken als Landmann eine Leidensgeschichte des Proletariats. Die tausend Geschichten, die darüber von Mund zu Mund gehen, mögen hier unberührt bleiben; es sei nur ein von Poschinger neuerdings veröffentlichtes Aktenstück angezogen, in welchem Fürst Bismarck, natürlich nur als ein in seinen heiligsten Interessen gekränkter Privatmann, einen ebenso geharnischten, wie weitläufigen Protest an die Regierung in Cöslin richtete, weil dieselbe den Holzflößern der auch durch das Varziner Gebiet strömenden Wipper, ärmsten Proletariern, gestattet hatte, ihre Nachtrast auf den Uferwiesen zu halten, statt auf dem mehr im, als auf dem Wasser schwimmenden Floß, Auch die Akten des früheren Kreis-, jetzigen Amtsgerichts in Schlawe enthielten manch absonderliches Kapitel bismarckischer Gutsherrlichkeit, Man hat sich oft gewundert, weshalb Bismarck sich im Reichstage wiederholt über das „Übelwollen“ der Gerichte gegen seine Person beschwerte, sintemalen doch die Strafurteile, welche auf seine lithografierten Strafanträge wegen Bismarckbeleidigung zu erfolgen pflegten, selbst eine unersättliche Rachsucht zu befriedigen geeignet waren, Die Lösung des Rätsels ergibt sich daraus, das die verfolgte Unschuld in ihren wirklich nicht schönen Prozessen mit ihren „Hintersassen“ manchen Denkzettel von dem früheren Kreisgerichte in Schlawe erhalten hat, bis sie die „Klinke der Gesetzgebung“ ergriff und die Herrschaft Varzin in einen andern Kreis legen lies.
Es versteht sich von selbst, das die größere oder geringere Humanität der „Arbeitgeber“ nur einen bedingten Einfluss auf die Klassenlage der ländlichen Arbeiter hat. Im Ganzen und Großen kann sie dieselbe nicht beeinflussen. Der englische Nationalökonom, E, G. Wakefield, schrieb vor fünfzig Jahren: „Der Landarbeiter Südenglands ist kein Sklave, er ist kein freier Mann, er ist ein Pauper.“ Eben dasselbe mag man mit Recht von dem heutigen hinterpommerschen Landarbeiter sagen. Er ist kein Sklave, denn er kann an dem 1. Oktober des Jahres dem Gutsherrn zum 1. April des nächsten Jahres kündigen. Er ist aber auch kein freier Mann, denn lässt er den 1. Oktober ohne Kündigung vorübergehen, so ist er wieder für ein Jahr an die Scholle gefesselt, nicht rechtlich, aber tatsächlich wie ein halber Höriger. Daran haben alle die glorreichen Reformen der „Selbstverwaltung,“ die Provinzial- und Kreis-und Landgemeindeordnung, wenig oder nichts geändert, Die beiden Rechte, welche dem industriellen Arbeiter trotz alledem mächtige Waffen im Kampfe um seine Emanzipation geworden sind, kennt der ländliche Arbeiter gar nicht oder nur dem Namen nach. Die Koalition ist ihm nach einem Gesetze der preußischen Landratskammer von 1854 bei schwerer Gefängnisstrafe untersagt; das Wahlrecht ist ihm jenes Reutersche Gericht von Pflaumen und Klößen, das ihm sehr schön schmecken würde, wenn er es nur kriegte. Bei den Wahlen zum Landtage hat er einfach den Gutsherrn zum Wahlmann zu ernennen, bei den Wahlen zum Reichstage den Zettel, den ihm der Hofmeister in die Hand drückt, in die Urne zu werfen, Der angeblich „geniale“ Griff Bismarcks, das allgemeine Wahlrecht einzuführen, war tatsächlich die pfiffige Berechnung eines hinterpommerschen Junkers, der in der Konfliktzeit mit Entsetzen und Trauer sämtliche hinterpommersche Landtagswahlkreise – mit einziger Ausnahme von Stolp – fortschrittlich wählen sah. Für Hinterpommern hat das Mittel wirklich angeschlagen, wenn auch nur für Hinterpommern und auch hier vielleicht nicht für immer.
Und endlich: Der ländliche Arbeiter ist ein Pauper, Der Tagelohn beträgt für den Mann 40, für die Frau 30 Pf., dazu kommen an Naturalien freie – bestenfalls notdürftige, meistens unzureichende, häufig elende – Wohnung und freier Torf, zwei Morgen Ackerland, ein halber Morgen Gartenland, ein Stückchen Rübenland, einige Fuder Heu, um eine Kuh zu füttern, ein bestimmter Prozentsatz vom Ertrag der Getreideernte, der sich für die Gesamtheit der Arbeiter eines Guts auf den zwanzigsten oder auch siebzehnten Scheffel zu belaufen pflegt, und noch eine oder die andere Kleinigkeit, Hie und da steigt der Geldlohn auf 50, bez. 40 Pf., aber dann sind auch die Naturalien entsprechend gekürzt. Der Arbeitstag beginnt im Sommer um sechs Uhr Morgens und währt bis Sonnenuntergang, mit einer anderthalbstündigen Mittags- und je einer halbstündigen Frühstück- und Vesperpause; im Winter richtet er sich nach dem Tageslichte, Es ist bemerkenswert, das die ländlichen Arbeiter trotz des ihnen fehlende Koalitionsrechts fest an dem Arbeitstage und den angegebenen Grenzen halten. Die Fälle sind nicht selten, in denen die Tagelöhner eines Guts gleichzeitig gekündigt haben, weil ihnen etwas an der Mittagsrast abgeknappst werden sollte ober weil der Beginn der Arbeit schon auf halb sechs Uhr angeordnet wurde.
Sonst freilich ist den ländlichen Arbeitern der Kampf un bessere Arbeitsbedingungen aufs Äußerste erschwert oder ganz unmöglich gemacht; als einziges Mittel, sich ihrem drückenden und hoffnungslosen Schicksale zu entziehen, bleibt ihnen nur die Ab- und Auswanderung, Es ist bekannt, wie reichlichen Gebrauch sie von diesem Mittel machen. Ob dadurch wirklich, wie die Agrarier behaupten, die Klassenlage der Zurückbleibenden sich erheblich gebessert hat, ist sehr fraglich, und da sie noch immer so elend ist, wie oben geschildert wurde, schließlich auch sehr gleichgültig; was sich als ein wirklicher, obgleich nicht besonders erhebender Fortschritt bezeichnen lässt, ist eine menschlichere Behandlung der „Knechte“ durch die „Herren,“ Ein jüngerer Historiker der Schule Sybel-Treitschke rühmt es als einen wundervollen Einklang der altpreußischen Geschichte, das der Lieutenant in der Kaserne dieselben „Kerls“ als Rekruten gefuchtelt habe, die er als Junker auf dem Gutshofe schon zu prügeln gewohnt gewesen sei, aber diese schöne Harmonie ist leider zerrissen. In der Kaserne mag weiter gefuchtelt werden, aber auf dem Gutshofe wird kein Stock mehr gegen die selten gewordenen Arbeitskräfte geschwungen, Die ökonomische Entwicklung hat wieder einmal in aller Stille bewirkt, was alle sittliche Entrüstung in den unzähligen seit hundert Jahren gegen die Soldatenmisshandlungen erlassenen Verordnungen aber auch nicht im Entferntesten zu bewirken vermocht hat.
Der Notstand, welcher der ländlichen Arbeiterbevölkerung für den nächsten Winter droht, wird die dumpfe Gärung, die seit lange in ihr herrscht, vollends enthüllen. Und diesen „Demagogen“ haben die Junker sich feierlichst selbst auf den Hof geladen, sie, welche die sozialdemokratischen Agitatoren mit Hunden nieder hetzen zu wollen erklären. Beiläufig – welch groteske Fantasie, mit dem Gekläff ihrer Köter zu drohen, derweil schon der Wolf des Hungers um ihre Gehöfte schleicht!
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