[Nr. 936, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 37, 15. September 1889, S. 6 f.]
:: Aus Norddeutschland, 5. September Der Ausfall der Berliner Wahl hat, so weit sich bis jetzt übersehen lässt, bei den Arbeiterparteien aller Länder einen wahren Jubel erregt. Und die Wahl kam in der Tat ganz à propos. Sie zeigte unseren herrschenden Klassen, die sich jetzt an den Berichten über glänzende und geräuschvolle Kaiserreisen, große Militär- und Flottenmanöver und ähnlichem Brimborium berauschen und darüber die arbeitenden Klassen, denen sie ihre üppige Existenz verdanken, ganz vergessen, das der Löwe Sozialdemokratie nicht schläft. Die Berliner Wahl war nur ein Mähnenschütteln dieses Löwen, wehe, wenn er die Pranken erhebt und zum Schlage gegen seine Bändiger ausholt.
Hätten unsere Herrschenden noch Scham, sie müssten sich all der kleinlichen und erbärmlichen Mittel, die man zur Unterdrückung des Volkswillens während der Berliner Wahlagitation anwandte, in der Seele schämen; hätten sie noch Verstand, sie müssten begreifen, das die Ära der Ausnahmegesetze an dem entschlossenen Willen der Arbeiterklasse nichts vermag, und dass der Hass, den diese Zustände immer von Neuem erzeugen, das ganze bestehende System untergräbt und eines Tages die Träger dieses Systems unter seinem Zusammenbruch begräbt. Doch, wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit.
Welche Blüten das infame Ausnahmegesetz immer wieder treibt, zeigen folgende Tatsachen: Im Widerspruch mit der Deklaration des Reichstages verbietet die Elberfelder Polizei die Sammlungen für die Familien der dort unter der Anklage der Geheimbündelei verhaftet gewesenen oder noch verhafteten Genossen. Die Polizei weiß ganz sicher, das sie damit gegen das Gesetz verstößt, aber sie lässt es auf eine Entscheidung der höheren Verwaltungsbehörde ankommen, ist doch in der Zwischenzeit die Sammlung unmöglich. In Aachen zwingt die Polizei einen dortigen Bürger und Geschäftsmann, der als Sozialdemokrat bekannt ist und wegen Verbreitung verbotener Schriften vor Jahr und Tag eine elfmonatliche Gefängnisstrafe verbüßen musste, sich fotografieren zu lassen, indem sie ihn auf das Amt bestellt und dort wider seinen Willen die Prozedur an ihm vornimmt.
Mit diesen polizeilichen Unverschämtheiten wetteifert die Unverschämtheit der Bourgeoisie. so erlässt der Aufsichtsrat und die Direktion der Maschinenbau-Aktiengesellschaft „Union“ in Essen ein Zirkular, worin dieselben den auf ihren Werken beschäftigten Arbeitern das Lesen und Halten des „Rhein.- Westf. Volksfreund“ und der Essener „Volkszeitung“ verbieten und namentlich die in ihren Häusern wohnenden Arbeiter davor warnen.
Das ist der moderne industrielle Feudalismus. Nicht genug, dass man die Arbeitskraft des Arbeiters zum eigenen Vorteil aufs Äußerste ausnützt, man wirft sich auch zum Herrn seiner Gedanken, zum Herrn des ganzen geistigen Menschen auf und macht aus dem freien Arbeiter des 19. Jahrhunderts einen spartanischen Heloten. Zugleich illustriert dieser Ukas, was es bedeutet, wenn der Arbeiter in den Häusern des Fabrikanten Wohnung erhält. Es ist in der Tat eine recht hübsche Illustration zur Lösung der Wohnungsfrage und der Fabrikanten-Philanthropie.
Ein sehr interessantes Geständnis, das für die Beurteilung unserer sozialen Zustände vom größten Werte ist, hat jetzt der Generalsekretär des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller in der Zeitschrift „Stahl und Eisen“ veröffentlicht. Der genannte Herr teilt auf Grund der Aufzeichnungen, welche die Unfall-Berufsgenossenschaften über den Wechsel der Arbeiter laut gesetzlicher Vorschrift vorzunehmen haben, mit, dass der Wechsel der Arbeiter ein außerordentlicher sei, und das die Zahl der gelernten Arbeiter immer mehr abnehme, dagegen die Zahl der Arbeiter, die bisher dieser Industrie gänzlich fern standen, immer größer werde. Ferner macht der Herr das Geständnis, das es in Folge dieses Wechsels ganz unmöglich sei, auf Grund der unfallberufsgenossenschaftlichen Organisation auch die Alters- und Invalidenversicherung aufzubauen. Das sind hochwichtige, von berufenster Seite gemachte Eingeständnisse, die wider Willen die Auffassung der Sozialdemokratie von dem großartigen Zersetzungsprozess innerhalb der alten Gesellschaft nur bestätigen.
Und diesen Zersetzungsprozess wird auch der „kommende Mann“, der jetzt zum Oberpräsidenten der Provinz Hannover ernannte Herr v. Bennigsen und seine Klientel nicht aufzuhalten vermögen. Kommt mit ihm, wie die bezügliche Parteipresse bereits hoffnungsselig verkündet, wirklich der Nationalliberalismus an die Regierung, so bedeutet das nur die Herrschaft der Bourgeoisie „purement et nettement“. Die Klassenherrschaft und der Klassenkampf erhalten dann ihren reinsten Ausdruck, die Arbeiterklasse hat von diesen unbezweifelten Vertretern der Bourgeoisie nichts zu erwarten, der Ausnahmezustand bleibt, und das ist gut so. Die Arbeiterklasse kann nur durch sich selbst befreit werden.
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