August Bebel: Aus Norddeutschland

[Nr. 929, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 13, 31. März 1889, S. 5 f.]

:: Aus Norddeutschland, 27. März. Die neue Ära in Preußen-Deutschland hat bisher noch nichts erblicken lassen, was sie von der alten unterscheidet. Der Optimismus der Deutschfreisinnigen, der den Himmel voller Geigen sah, einen Ministerwechsel, eine Auflösung des Reichstags, kurz einen vollständigen Umschwung in der ganzen inneren Politik als bevorstehend ankündigte, hat schmähliches Fiasko erlitten. Nichts von alledem ist eingetroffen und nichts lässt glauben oder vermuten, das es noch eintreffen könne. Sogar die von allen Seiten angekündigte Amnestie ist bis heute ausgeblieben, und wenn sie überhaupt noch kommt, dürfte sie durch die Sorgfalt und Vorsicht, mit der die Kategorien von Vergehen und Verbrechen ausgewählt wurden, überraschen. Das System Bismarck hat auf der ganzen Linie gesiegt. Und es musste siegen, weil dieses System den Interessen der Bourgeoisie in allen ihren Schattierungen vollkommen entspricht und diese Interessen die maßgebenden sind.

In Deutschland ist ein „liberales“ Regiment für alle Zeiten vorbei, es hat keinen Boden, auf dem es eine Stütze findet. Die Klassenkämpfe, die seit zwei Jahrzehnten sich entwickelten und immer heftiger und intensiver sich gestalten, haben den Liberalismus der Bourgeoisie abgestumpft und ertötet In der Sorge um ihre Existenz als herrschende Klasse hat sie all ihr bisschen Idealismus geopfert, sie kennt heute nur ein Bestreben, die besetzte Position inne zu halten, und um diesen Zweck zu erreichen, greift sie zu jedem dienlichen Mittel. In erster Linie zu jenen, die sie einstmals, als sie noch gegen sie selbst angewandt wurden, bitter tadelte und befehdete, zu den Mitteln der Gewalt und Unterdrückung Die sozialistische Bewegung ist das Schreckgespenst, das Tag und Nacht unserer Bourgeoisie vor Augen steht, das ihr den ruhigen Genuss des Erbeuteten stört, das sie dem Willkürregiment in die Arme treibt Ein wirklich „liberales“ Regiment würde sie als ein Pronunziamento gegen ihre Lebensinteressen, als frivolen Angriff auf ihre soziale Macht ansehen. Der Begründer eines solchen Regiments wäre in ihren Augen ein Affilierter der Sozialdemokratie und sie würde ihn bitterer hassen und giftiger befehden als diese selbst, des bösen Beispiels halber, das er in seiner bevorzugten Stellung gäbe.

Wer das nicht wusste, oder nicht glaubte, den konnten die letzten Wochen seit dem Thronwechsel eines Besseren belehren. Dem größten Teil der sich in Deutschland liberal nennenden Presse lag der Thronwechsel wie ein Alb auf der Brust. Dem Thronfolger und insbesondere auch seiner Frau ging der Ruf starker und ehrlich liberaler Neigungen voran, englische Regierungsgrundsätze sollten zur Geltung kommen, wenn beide den Thron bestiegen, also das, was unsere Bourgeoisie Jahrzehnte lang als das Ideal der Staats- und Regierungskunst angesehen hatte. Nun die Verwirklichung bevorzustehen schien, graute ihr vor diesen Aussichten aus den angeführten . Gründen. Diese Furcht und das daraus folgende Unbehagen zeigte sich nicht nur in der Presse, das sprach sich noch deutlicher aus in den Privatäußerungen der bezüglichen Kreise. In den konservativen Kreisen herrscht Missmut und stiller Grimm, dass es nicht anders gekommen ist, hier gibt sich insbesondere eine große Antipathie gegen die Kaiserin, die „Engländerin“, wie man sie nennt, kund, der man die verhassten liberalen Neigungen in besonderem Grade zuschreibt. „Die Art, wie in diesen Kreisen kritisiert und räsoniert wird, lässt auf sehr wenig loyale Gesinnung, die man dort für gewöhnlich gepachtet hat, schließen. In den rechtsliberalen Kreisen schämt man sich ein wenig in Rücksicht auf das einst von einem Thronwechsel selbst Erwartete und Erhoffte, seiner unfreundlichen Stimmung offen Ausdruck zu geben, aber man beobachtet misstrauisch und verschlossen jede Handlung des neuen Herrschers und atmet allmählich wieder auf, da sich zeigt, das Fürst Bismarck das Heck noch in der Hand hat und sein Einfluss der herrschende ist. Auch ist kein Zweifel, dass Bismarcks Macht und Ansehen dadurch noch weiter wächst, das er versteht, die an den Thronwechsel geknüpften Hoffnungen und Befürchtungen zuschanden zu machen. Bismarck ist die Personifikation der Bourgeoisinteressen, er ist der Mittelpunkt, um den sich die grundbesitzende wie die geldbesitzende Bourgeoisie railliert. Alle Schattierungen der Bourgeoisie, wie sehr immer im Einzelnen ihre Interessen auseinandergehen, sehen in ihm den Heros, der für Alle mit gleicher Liebe sorgt, wie er denn auch in seiner Person, als Großgrundbesitzer, Branntweinbrenner, Papierfabrikant und großer Kapitalist alle Schattierungen der Bourgeoisie in sich vereinigt, gewissermaßen der Normalbourgeois ist. Altadeliger Abstammung und guter bürgerlicher Geschäftsmann, der mit seinem Pfund zu wuchern versteht, versöhnt er in seiner Person Aristokratie und Bourgeoisie. Hierin liegt das Geheimnis seiner Macht. Und warum soll ein Kaiser diese Macht, die auch seine Macht ist, nicht anerkennen und sich ihr fügen?

Monarchie, Aristokratie und Bourgeoisie sind heute mehr als in einer früheren Periode gegenseitig auf sich angewiesen, ihre Interessen sind durch tausend Fäden miteinander verknüpft, sie stehen und fallen miteinander. Das weiß man aber ganz genau, denn die Größe der Interessen, die auf dem Spiele stehen, machen den Idealisten wie den beschränkten Kopf gleich weitsichtig und empfindlich, nur unten täuscht man sich nur zu häufig. Die Ernüchterung wird sehr rasch kommen.

In Leipzig scheint wieder ein großer Sozialistenprozess bevorzustehen.In Folge der Massenverbreitung eines Flugblattes zum 18. März wurden 26 der Verbreiter polizeilich abgefasst und in Haft genommen und stieg die Zahl der Inhaftierten in den folgenden Tagen auf fünfzig. Die Ursache zu dieser Massenverhaftung scheint einesteils der Inhalt des Flugblattes gegeben zu haben, anderenteils scheint man einen Geheimbundsprozess inszenieren zu wollen.

Bei dem früheren sozialistischen Abgeordneten Kayser ist auf den Luftröhrenschnitt nunmehr die Operation des halben Kehlkopfs gefolgt. Welchen Verlauf die Operation in ihren Folgen nehmen wird, lässt sich heute noch nicht sagen, auf keinen Fall wird der Operierte mehr Reden halten können. Das ist umso bedauerlicher, als Kayser zu den gewandtesten und schlagfertigsten Rednern in der Partei gehörte. Die Partei hat seit zehn Jahren eine große Anzahl der tüchtigsten und besten Köpfe verloren. Die Einen starben, Andere verdarben, wieder Andere wanderten aus. Die Lebenskraft der Partei ist trotzdem nicht gebrochen, wie selbst die gegnerischen Zeitungen anerkennen, die ihre Überraschung nicht verbergen können, dass die Partei, wie eine dieser Tage erfolgte Veröffentlichung zeigt, trotz aller Hindernisse und Verfolgungen in den Monaten Dezember, Jänner und Februar an 25.000 Mark an die sozialdemokratische Fraktion für die verschiedensten Zwecke ablieferte, ungerechnet die Opfer, welche die Genossen der einzelnen Orte für die lokalen Zwecke aufbrachten. Zu solchen Opfern ist unser Bürgertum unfähig.


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