[Nr. 888, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 2, 14. Januar 1888, S. 8 f.]
:: Aus Norddeutschland, 10. Jänner. Es wird Licht. Obgleich die neue Sozialistengesetzvorlage noch nicht bekannt ist, bildet dieselbe bereits den Gegenstand der lebhaftesten Diskussion in der Presse und erregt die Aufmerksamkeit immer weiterer Kreise. Eine Hauptfrage ist bereits entschieden. Die Forderung der Regierungen, das Gesetz künftig auf fünf Jahre zu verlängern, statt wie bisher nur auf zwei, wird mit großer Majorität angenommen. Der Moniteur des Führers der nationalliberalen Partei im Reichstag, „Hannov. Courier“, spricht sich für die fünf Jahre aus und es unterliegt keinem Zweifel, dass dieser Artikel von Herrn v. Bennigsen selbst inspiriert ist. Charakteristisch sind die Gründe, die der Chef der charakterlosesten Partei im Reichstag anführt. Er sagt: der Reichstag habe stets darauf gehalten, das er wenigstens in jeder Legislaturperiode einmal die Frage der Verlängerung des Sozialistengesetzes zu erörtern gehabt habe, da aber nunmehr die Sicherheit bestehe, das die Legislaturperioden auf fünf Jahre verlängert würden, so stehe der Verlängerung des Sozialistengesetzes auf die gleiche Dauer nichts im Wege. Die Frage, ob die Sozialdemokratie ihre auf „den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen“ in kürzerer Zeit aufgeben werde, sei nach dem bisherigen Verhalten dieser Partei einmütig zu verneinen, ergo bewilligen wir die fünf Jahre. Über die zweite Frage, die Verschärfung, schweigt sich Herr v. Bennigsen a!s kluger Mann vorläufig aus. „Man kenne weder die Art der Verschärfungen, welche die Regierungen vorschlugen, noch die Gründe, die sie dazu bestimmten, und so verbiete sich die Diskussion dieser Frage von selbst.“ Gut gebrüllt , Löwe. Herr v. Bennigsen behält also freie Hand und wie wir ihn als politischen Handelsmann kennen, darf die Sozialdemokratie darauf rechnen, dass sie als Objekt irgend eines Schachers herhalten muss.
Noch eine andere sublime Idee ist in der nationalliberalen Presse aufgetaucht, die von der konservativen freudig begrüßt wird. Sie schlägt vor, an stelle der Expatriierung, die denn doch etwas sehr Gehässiges hat und leicht zu internationalen Verlegenheiten führen kann, die Internierung zu setzen. Das ist ein echt jesuitischer Vorschlag , würdig einer Partei, welche die geriebensten Rechtspfaffen, einen Miquel und Konsorten zu ihren Führern zählt. Ob wirklich Herr Miquel, wie die „Berl. Volkszeit.“ behauptet, der Vater dieses Gaunergedankens gewesen ist, lassen wir dahingestellt, möglich ist es. Die Internierung hat den Vorzug, das sie alle Vorteile der Expatriierung ohne ihre Nachteile in sich schließt Denn zwingt man die sogenannten Führer irgend ein abgelegenes Nest, wo sie weder Broterwerb noch Wohnung noch Kost erhalten und der Gegenstand der Anfeindung der Bevölkerung sind, zum Aufenthalt zu nehmen, so zwingt man sie das Ausland aufzusuchen und sich freiwillig zu expatriieren. Die patriotischen Tugendhelden ersparen sich dadurch den Vorwurf, die eigenen Landeskinder vaterlandslos gemacht und in die Fremde hinausgestoßen zu haben. Und weshalb diese Hatz? Weil die Verfolgten Gesinnungen haben, welche die tonangebenden Parteien für ihre Herrschaft gefährlich erachten. Das Scherbengericht der Athener, das seit dem Untergang Griechenlands ruhte, dann in den Verbannungsdekreten der römischen Cäsaren eine neue Gestalt annahm, lebt im neuen deutschen Reiche wieder auf. Warum auch nicht? Erinnert doch das neue deutsche Kaiserreich in mehr als einer Beziehung an die Zustände des verfallenden römischen Reiches unter der Cäsarenwirtschaft, wie sie Tacitus in seinen Annalen schildert. Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen. Wie der Verfaulungsprozess im römischen Reich sich dadurch kund tat, dass der Servilismus, die Knechtsseligkeit und Gesinnungsfeigheit die ganze herrschende Klasse ergriff, die Charakterlosigkeit das höchste Lob und die größten Vorteile erntete, Männerstolz und Überzeugungstreue aber geächtet und verfolgt wurden, so heute im Deutschen Reich. Und wie im Rom der Cäsaren der sich zuspitzende Klassengegensatz die Herrscher zu immer größeren Gewalttaten und Unterdrückungsmaßregeln gegen die Masse der Unterdrückten, die sich empörenden Sklaven nötigte, die proletarisierten Bürger durch das berüchtigte panem et circenses (Brot und spiele) zu korrumpieren suchte, so erzeugt der scharfe Klassengegensatz im Deutschen Reich und der immer weiter um sich greifende Verfaulungsprozess der oberen Klassen die drakonischen Ausnahmegesetze und die Äfferei mit der Sozialreform.
Die deutsche Bourgeoisie greift nach diesen Mitteln, um sich zu retten. Was sie als Rettungsanker ansieht, wird sich eines Tages als ein Mühlstein an ihrem Hals erweisen, der sie für immer in die Tiefe reißt.
Der Sozialistenprozess in Posen, der mit einem Drittel Öffentlichkeit und zwei Drittel Türenverschluss seit einer Woche sich abspielt, treibt recht artige Blasen. Die Korruption des Spitzeltums, das heute die wichtigste Staats- und Gesellschaftssäule bildet, kommt in ganzer Nacktheit zur Geltung. Die Häupter der geheimen politischen Polizei in Berlin sind in corpore anwesend, darunter Agents provocateurs, wie Ihring-Mahlow und Naporra. Von Letzterem wurde festgestellt, das er einen der Angeklagten bei der Abreise von Berlin nah Posen auf dem Bahnhof küsste und angeblich ein Kistchen Zigaretten einhändigte, das bei der Eröffnung ein Paket mit Exemplaren des verbotenen „Sozial-Demokrat“ enthielt. Immer das alte niederträchtige Spiel dieser „pflichtgetreuen Beamten“, diesmal extra feierlich durch einen echten und rechten Judaskuss eingeleitet. Trotz des heftigsten Widerspruchs der Verteidigung wurden diese beiden Ehrenmänner vom Gericht auf ihre Aussagen vereidigt. Was bei diesem Prozess herauskommt, kann man nah all dem voraussagen Dafür gibt es noch ein anderes Inzidenz. Einer der Zeugen zu Gunsten der Angeklagten war vereidigt worden, der Staatsanwalt, der dies übersehen hatte, protestierte, weil ein Mensch, der an keinen Gott glaube, wie der Zeuge ausgesagt, zum Zeugeneid nicht zugelassen werden dürfe. Das zu behaupten hatte der Staatsanwalt kein Recht und statt den Herrn gehörig in die Schranken zu verweisen, bemerkte der Vorsitzende beruhigend : „Ob der Gerichtshof einem Menschen Glauben schenken kann, der nicht an Gott glaubt, das ist Sache des Gerichtshofes.“
Wahrlich aufgeklärte Despoten wie Kaiser Josef II. von Österreich und König Friedrich II. von Preußen waren Riesen der Erleuchtung, der Einsicht und der Toleranz gegen dieses Epigonentum, das heute im bürgerlichen liberalen „Rechtsstaat“ sich breit macht und kraft seiner „Bildung“ das Heft in der Hand hat.
In einem Teil der Presse wird die Frage erörtert, welche Taktik die Sozialdemokratie einzunehmen habe, falls die Expatriierung angenommen werde. Alle diese Erörterungen sind zunächst nur rein akademischer Natur. Bis jetzt liegt kein Grund vor, sich ernsthaft mit einer Frage zu beschäftigen, die vorläufig nicht einmal gestellt ist. Wie immer das neue Sozialistengesetz ausfällt, die Sozialdemokratie wird diejenige Taktik einschlagen, die ihren Feinden die unbequemste und unangenehmste ist.
Vorige Woche waren die Reichstags-Abgeordneten Bebel und Singer in Zürich, um persönlich Einsicht in das Material zu nehmen, das bei der Entlarvung der Polizeispione Schröder und Haupt gefunden und durch zahlreiche Zeugenaussagen ergänzt und vervollständigt wurde. Die Berliner Polizei soll auf das Schwerste kompromittiert sein, doch gedenken die Abgeordneten erst im Reichstag bei der Beratung des Sozialistengesetzes mit ihren Anklagen und Enthüllungen hervorzutreten. Die Vertreter der „loyalen Handhabung“ des Sozialistengesetzes durch Herrn v. Puttkamer und seine Werkzeuge werden harte Nüsse zu knacken bekommen.
Der geistige Zustand Hasenclevers musste leider ärztlicherseits für unheilbar erklärt werden; es soll Gehirnerweichung konstatiert sein. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu Halle, die gegen Hasenclever und eine Anzahl Genossen einen Geheimbundprozess eingeleitet hat, soll am 16. d. M. das Entmündigungsverfahren gegen ihn vorgenommen werden. Damit wird er auch seines Mandates verlustig und hat dem entsprechend der sechste Berliner Wahlkreis eine Neuwahl vorzunehmen. Die Sozialdemokratie beabsichtigt Liebknecht aufzustellen, dessen Wahl gesichert ist.
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