Ted Grant: Russland – Reform oder politische Revolution?

[Bearbeitung der zeitgenössischen Übersetzung in der Voran-Broschüre „Sowjetunion – Reform oder politische Revolution? Ted Grant analysiert Gorbatschows „Reform“-Programm“, April 1987, S. 1-8]

Gorbatschows Rede auf dem 27. Parteitag der Kommunistischen Partei im letzten Jahr und jetzt die vor dem Plenum des Zentralkomitees der Partei im Januar 1987 gehaltene Rede stellen eine neue Stufe in der Entwicklung „Sowjet“-Russlands dar. Es bedarf einer aufmerksamen Analyse durch die Marxist*innen, um die in der sowjetischen Gesellschaft ablaufenden Prozesse zu verstehen.

Während Reden, die Korruption, Verschwendung, Ineffektivität usw. angreifen, in Russland nichts Neues sind, gehen Gorbatschows „Reformen“ weiter als alles andere in den letzten 30 Jahren, indem sie unter anderem mehr Demokratie, in bestimmten Fällen Wahlen von Fabrikmanager*innen und Wahlen innerhalb der „Kommunistischen“ Partei fordern.

Diese Vorschläge sind ein Versuch, die schlimmsten Hemmnisse in der fast stagnierenden Wirtschaft zu beseitigen. Jedoch riskiert Gorbatschow gerade wegen dieser Stagnation, dass allein das Reden von Reformen die Entwicklung einer Bewegung der unzufriedenen Arbeiter*innen und der Jugend beschleunigt.

Die Krise der sowjetischen Wirtschaft, Gorbatschows „Reformen“ und die dadurch zum Ausdruck kommende Spaltung innerhalb der Bürokratie sind Anzeichen, dass sich die Ära der politischen Revolution in Russland zu entfalten beginnt.

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Seit dem Sturz von Kapitalismus und Großgrundbesitz im Oktober 1917 sind jetzt siebzig Jahre vergangen. Die Russische Revolution hat die Weltgeschichte verändert und markierte eine völlig neue Stufe der Menschheitsentwicklung. Russland hat sich von einem Stand, wo Industrie und Gesellschaft sich auf einem tieferem Niveau als heute in Indien befanden, zu der zweiten Industrie- und Weltmacht entwickelt. 1985 war Russland weltweit führend in der Produktion von Erdöl (25% der Weltproduktion), Erdgas (35%) und Stahl (24%, fast doppelt so hoch wie der Anteil der USA), Die Elektrizitätsproduktion entspricht der der gesamten EG und kommt auf 17% der Weltproduktion. Die durch die Verstaatlichung von Produktionsmitteln, Verteilung und Austausch erreichten Erfolge sind gewaltig und unvergänglich. Das Staatseigentum hat sein Überlegenheitsrecht dem Kapitalismus gegenüber gezeigt, nicht in der Sprache von Marx‘ „Kapital“, wie Trotzki einmal sagte, sondern in der Sprache von Stahl, Zement und Produktion.

Aber die Isolation der Revolution und die Rückständigkeit Russlands führte zum Sieg der Bürokratie über die Demokratie der Revolution. Stalin konnte im Interesse und zum Nutzen der Bedürfnisse der bürokratischen Elite die Kontrolle erringen.

Geschichte verläuft jedoch immer in dialektischer Weise, in Widersprüchen, nie auf einem glatten und geraden Entwicklungsweg. Siebzig Jahre nach der Revolution gibt es mehr Ungleichheit und keine wirkliche Demokratie wie in den Jahren 1917-23.

Heute sind die Widersprüche zwischen der wirtschaftlichen Grundlage der Sowjetunion und der Rolle ihrer bürokratischen Führung nicht nur in den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern auch in der industriellen Entwicklung extrem geworden. Von einem relativen Mittel zur Entwicklung der Sowjetunion wird die Bürokratie jetzt zu einer reaktionären Bremse.

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Während der letzten zwanzig Jahre hat sich Russland nur im Schneckentempo weiterentwickelt. Es eilt nicht mehr vorwärts wie in den Jahren vor dem Krieg und ein oder zwei Jahrzehnte danach. So schoss von 1913 (den höchsten Zahlen vor der Revolution) bis 1963 die Industrieproduktion in der Sowjetunion um das 52fache in die Höhe, während sie sich in den USA versechsfachte und in Großbritannien verdoppelte. In den 50er Jahren wuchs die russische Wirtschaft durchschnittlich um 12% pro Jahr und übertraf damit fast jede kapitalistische Macht sogar auf dem Gipfel des Booms.

In der letzten Periode war jedoch die Entwicklungsrate der Wirtschaft niedriger als die des Kapitalismus in der Phase des Aufschwungs oder sogar in einigen Jahren des wirtschaftlichen Niedergangs. 1979 stieg das Bruttosozialprodukt um 0,8%, 1980 um 1,5% und in den Jahren 1981 und 1982 um 2,5%.

In den 60er Jahren hatte Chruschtschow vorausgesagt, dass es die Sowjetunion schaffen werde, die Vereinigten Staaten bis 1980 in der Arbeitsproduktivität, im Produktionsausstoß und im Lebensstandard zu überholen.

Dies wäre völlig möglich gewesen, wenn nicht die Bürokratie eine ungeheure Fessel für die weitere Entwicklung der russische Wirtschaft geworden wäre. Es war keine unsinnige Prahlerei Chruschtschows. Das Niveau der Kultur, das Bildungsniveau und die zahlenmäßige Stärke der Arbeiter*innenklasse, die Ressourcen Russlands – wenn all das in wissenschaftlicher und geplanter Weise bei gesellschaftlicher Kontrolle durch die Masse der Bevölkerung genutzt worden wäre, hätte dieses Ziel erreicht werden können. Unter den Bedingungen des totalitären Stalinismus war es ein unerfüllbarer Traum.

Marx erklärte, dass der Übergang von einer Gesellschaft zu einer anderen durch die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt wird. Warum gab es also trotz des gewaltigen Vorteils der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in den letzten Jahrzehnten diese sehr langsame Entwicklung in Russland? Ein Arbeiter*innenstaat, der sich in Richtung Sozialismus bewegt, braucht Demokratie und Arbeiter*innenkontrolle der Industrie, des Staates und des Wirtschaftsplans. Es ist unmöglich, einhunderttausend Industriebetriebe, von denen viele über 100.000 Menschen beschäftigen, einhunderttausend Baustellen, die wiederum bis zu 300.000 Menschen beschäftigen, durch das Kommando von Bürokrat*innen an der Spitze zu betreiben.

Die Bürokratie konnte relativ erfolgreich sein, als es in den Vorkriegs- und ein oder zwei Nachkriegsjahrzehnten um die Frage ging, die Errungenschaften der westlichen Wissenschaft und Technik auf eine relativ primitive Wirtschaft zu übertragen, obwohl Trotzki darauf hinwies, dass dies zu den dreifachen Kosten der Entwicklung der Industrie in der kapitalistischen Gesellschaft geschah. Heute ist die Rolle der Bürokratie in der russischen Gesellschaft völlig reaktionär geworden. Die Bürokrat*innen haben davon geträumt, für tausend Jahre zu herrschen. Heute, nach nur Jahrzehnten, hat das Regime der politischen Konterrevolution auf der Grundlage einer geplanten Wirtschaft eine Grenzen erreicht. Es kann nicht länger in der alten Art und Weise herrschen.

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Gemäß den Argumenten des Marxismus ist der Staat eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere Klasse. Er ist der Wächter von Ungleichheit und Privilegien. Die Sowjetunion war keine harmonische Gesellschaft und ist es immer noch nicht, obwohl sie harmonischer als die kapitalistische Gesellschaft ist.

Die nach Millionen zählende bürokratische Kaste hält die Staatsmaschinerie und die Wirtschaft umklammert. Jeder Teil der Staatsmaschine – die Armee, die Polizei- ‚und die „Kommunistische“ Partei – ist zum Zweck der Verteidigung der Interessen der herrschenden Elite geformt. Es ist wahr, dass die Bürokratie das Staatseigentum und die Planwirtschaft verteidigt, aber sie tut dies nicht im Interesse der gesamten Gesellschaft, sondern weil dies die Quellen der Privilegien für sie selbst sind. Wie die ganze Geschichte gezeigt hat, sind Korruption, Diebstahl, Betrug, Unterschlagung, Spekulation, Vetternwirtschaft und alle anderen Erscheinungen bürokratischer Herrschaft und Kontrolle in einem totalitären System unvermeidlich.

Jetzt hat Gorbatschow einen flüchtigen Blick auf die wirklichen Vorgänge in der sowjetischen Gesellschaft erlaubt. Er hat den Deckel eines siedenden Hexenkessels von Korruption und Verbrechen in allen Republiken der Sowjetunion angehoben.

Als ein intelligenter Vertreter der bürokratischen Kaste erkennt er, dass die jetzige Lage nicht ohne die Gefahr explosionsartiger Bewegungen in den Massen fortbestehen kann. Enorme Unzufriedenheit hat sich in der sowjetischen Gesellschaft angesammelt. Aussagekräftige Beispiele von Korruption wurden im Laufe des letzten Jahres in der sowjetischen Presse gegeben. Einige Bürokrat*innen haben tatsächlich Millionen Rubel geplündert, was Millionen Pfund entspricht. Ihre Gier und Korruption drohen alle Früchte der Revolution zu verschlingen.

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In seinem Bericht an den 27. Parteitag rühmte Gorbatschow berechtigterweise das in den letzten 25 Jahren Erreichte: „Die Produktionsgrundfonds unserer Wirtschaft sind auf das Siebenfache gewachsen. Tausende von Betrieben wurden errichtet, neue Wirtschaftszweige sind entstanden. Das Nationaleinkommen hat sich nahezu vervierfacht, die Industrieproduktion ist auf das Fünffache und die Agrarproduktion auf das 1,7fache gestiegen.

Schien das Niveau der US-Wirtschaft vor dem Krieg und in den ersten Nachkriegsjahren nur schwer erreichbar zu sein, so sind wir ihm, was das wissenschaftlich-technische und das wirtschaftliche Potential betrifft, schon in den 70er Jahren wesentlich näher gekommen und haben es bei der Produktion einiger überaus wichtiger Erzeugnisarten übertroffen.

Diese Leistungen sind auf enorme Anstrengungen unseres Volkes zurückzuführen. Sie haben es ermöglicht, den Wohlstand er Sowjetbürger beträchtlich zu heben. In den letzten 25 Jahren ist das Realeinkommen pro Kopf der Bevölkerung auf das 2,6fache gestiegen, und die gesellschaftlichen Konsumtionsfonds haben sich mehr als verfünffacht. Es wurden 54 Millionen Wohnungen gebaut, wodurch die Wohnverhältnisse der meisten Familien verbessert werden konnten, Der Übergang zur allgemeinen Oberschulpflicht wurde vollzogen. Die Zahl der Personen mit Hochschulabschluss hat sich vervierfacht, Allgemein anerkannt sind unsere Erfolge in Wissenschaft, Medizin und Kultur.“

Jedoch ist Gorbatschow gezwungen, folgendes zuzugeben:

„Indes nahmen die Schwierigkeiten in der Volkswirtschaft in den 70er Jahren zu, ging das Tempo des Wirtschaftswachstums merklich zurück. Dadurch konnten die im Programm der KPdSU gestellten Aufgaben zur Entwicklung der Wirtschaft und sogar die niedriger angesetzten Aufgaben für das neunte und zehnte Planjahrfünft nicht erfüllt werden. Das für diese Jahre vorgesehene soziale Programm konnte ebenfalls nicht in vollem Maße verwirklicht werden. Es wurde ein Zurückbleiben der materiellen Basis für die Wissenschaft, das Bildungswesen, den Gesundheitsschutz sowie die kulturelle und soziale Betreuung der Bevölkerung zugelassen, Die Volkswirtschaft, die über riesige Ressourcen verfügt, sah sich mit ihrem Mangel konfrontiert. Eine Diskrepanz zwischen den Erfordernissen der Gesellschaft und dem erreichten Produktionsniveau, zwischen der zahlungskräftigen Nachfrage und ihrer materiellen Deckung war entstanden.

Der Erfolg eines jeden Unternehmens wird in entscheidendem Maße dadurch bestimmt, wie aktiv und bewusst sich die Massen daran beteiligen. Die breiten Schichten der Werktätigen von der Richtigkeit des gewählten Weges zu überzeugen, sie moralisch und materiell zu stimulieren, die Psychologie der Kader umzuformen – das sind die wichtigsten Voraussetzungen für die Beschleunigung unseres Wachstums. Wir werden um so rascher vorankommen, je höher die Disziplin und Organisiertheit sowie das Verantwortungsgefühl eines jeden für die ihm aufgetragene Arbeit und ihre Ergebnisse sein werden.

Heute besteht die erstrangige Aufgabe der Partei, des ganzen Volkes darin, mit den ungünstigen Tendenzen in der Entwicklung der Wirtschaft entschieden aufzuräumen, ihr die gebotene Dynamik zu verleihen, der Initiative und dem Schöpfertum der Massen sowie den wirklich revolutionären Umgestaltungen Tür und Tor zu öffnen.“

Gorbatschow ist ein vollendeter Repräsentant der herrschenden Kaste und hat alle Beschränkungen eines Bürokraten. Er will die russische Gesellschaft umgestalten, ohne die grundlegende Struktur bürokratischer Kontrolle zu verändern. Wie bei den oberen Schichten der Bürokratie unterscheiden sich eine Lebensbedingungen völlig von denen der sowjetischen Arbeiter*innenklasse. Seine Frau trägt Kleider aus den teuren Modehäusern wie Cardin in Frankreich. Sie kauft die teuersten Parfüms.

Gorbatschow lebt wie ein Millionär oder ein amerikanischer herrschender Politiker. Aber durch die wirtschaftliche Stagnation und ihre Gefahren für die russische Gesellschaft alarmiert, in Angst vor der unvermeidlichen Reaktion der Arbeiter*innen versucht er auf der Grundlage bürokratischer Herrschaft die Lage zu ändern. Die Massenbewegung polnischer Arbeiter*innen um Solidarność und ihr revolutionäres Potential war eine unheilverkündende Warnung vor den Prozessen, die unweigerlich auch in Russland ablaufen würden. Sogar Breschnew geriet in Panik und maßregelte die sogenannten „Gewerkschaftsführer“, weil sie nicht die Interessen der russischen Arbeiter*innen vertreten, wobei er die Lüge von der Unabhängigkeit der Gewerkschaften in den stalinistischen Staaten aufdeckte.

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Gorbatschow versucht Reformen von oben zur Verhinderung einer politischen Revolution von unten einzuführen und ist bestrebt, einen Weg aus der bürokratischen Zwangsjacke zu finden, die den Fortschritt der russischen Wirtschaft lähmt.

Wirkliche Marxist*innen-Leninist*innen konnten all dies im Voraus erklären. Trotzkis Buch „Verratene Revolution“ ist, 50 Jahre, nachdem es geschrieben wurde, immer noch das frischeste Dokument, das die in der Sowjetunion ablaufende Prozesse erklärt.

In der Vergangenheit hat sich Stalin als bonapartistischer Militär- und Polizeidiktator gelegentlich auf die Arbeiter*innenklasse gestützt, um Schläge gegen die korruptesten Teile der Bürokratie zu führen. Bonapartismus ist ein System des Balancierens zwischen verschiedenen Gruppen und Klassen – zwischen den Arbeiter*innen, den Bäuer*innen und den Bürokrat*innen selbst. So ist Gorbatschow in der gleichen Art gezwungen, sich auf die Arbeiter*innenklasse zu stützen, um Schläge gegen einen Teil der bürokratischen Kaste zu führen, deren Einfluss, Lebensstandard und Parasitismus an der Wirtschaft enorm angestiegen ist. Gorbatschow will „kontrollierte Reformen“, aber es wird nicht möglich sein, auf diesem Weg weiterzugehen.

Stalin insbesondere hat Reformen fallen gelassen und war gezwungen, einen einseitigen Bürgerkrieg zur Säuberung der alten Bolschewiki zu beginnen. Er führte aus Angst vor dem Sturz der bürokratischen Elite keinerlei Reformen durch. Für Gorbatschow, der sich nun einmal auf den Weg der „Reformen“ eingelassen hat, wird es jedoch nicht so einfach, sein, wieder zur Unterdrückung zurückzukehren.

Während in den 30er Jahren die Arbeiter*innenklasse gerade 20% der russischen Gesellschaft ausmachte, liegt der Anteil heute bei nahezu 70%. Obwohl eine Reaktion wie heute in China unvermeidlich ist, ist Russland nicht mehr ein rückständiges Land, sondern eine ausgeklügelte Wirtschaft mit der weltweit größten und kulturell hochstehenden Arbeiter*innenklasse. Diese „Reformen“ werden die Arbeiter*innen noch enorm ermutigen. Sie können Gorbatschows begrenzten Zielen zum Trotz die Massen in Bewegung setzen.

Wenn die Arbeiter*innen einmal ein bestimmtes Maß an Kontrolle erlangt haben, werden unweigerlich Fragen und Forderungen aufkommen, warum die Bürokratie mehr als die Löhne für Aufsichtsführung bekommt. Warum sie ihre Datschas, Autos und spezielle Lebensmittelgeschäfte nur für Funktionäre beibehält.

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Wie Stalin kann auch Gorbatschow Maßnahmen gegen die unteren und mittleren, sogar gegen manche der höheren Bürokrat*innen als Sündenböcke für die Sünden des ganzen Systems ergreifen. So hat er in den ersten elf Monaten 46 von 156 regionalen Parteichefs abgesetzt. Aber in seinem Bemühen, die Zustände zu verbessern, hat er einige eklatante Beispiele für die Rolle der Bürokratie in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft gegeben:

„Der von sowjetischen Wissenschaftlern vor drei Jahrzehnten entdeckte Effekt der Verschleißfreiheit hat es ermöglicht, grundsätzlich neue Schmierstoffe zu entwickeln, die die Langlebigkeit der reibenden Baugruppen von Maschinen und Mechanismen um ein Vielfaches erhöhen und den Arbeitsaufwand stark verringern. Diese Entdeckung, die Einsparungen in Millionenhöhe verheißt, wird wegen konservativer Haltung einiger Leiter des Ministeriums für erdölverarbeitende und petrochemische Industrie der UdSSR und einiger anderer Ministerien und zentralen staatlichen Einrichtungen bis auf den heutigen Tag nicht umfassend angewandt.“

„Seit rund einem Jahrzehnt hat durch Verschulden des Ministeriums für Kraftfahrzeugindustrie und der Planungsorgane das neu entwickelte Lager mit Gleitzuschlag, das die Zuverlässigkeit und Funktionstüchtigkeit von Mechanismen unter den schwierigsten Bedingungen erhöht, keine umfassende Anwendung gefunden.“

„Wir werden die gestellten Aufgaben zur Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts nicht lösen können, wenn wir keine Hebel finden, die die Prioritäten nur jenen Forschungsstätten und Industriebetrieben sichern würden, deren Kollektive energisch all das Neue und Fortschrittliche einführen und nach Wegen zur Produktion von hochwertigen und effektiven Erzeugnissen forschen.“

Gorbatschow enthüllt außerdem einiges der bürokratischen Verschwendung im landwirtschaftlichen Sektor:

„Die am nächsten gelegene Quelle für die Auffüllung der Lebensmittelbestände bietet sich mit der Verringerung der Verluste an Erzeugnissen von Feld und Farm bei Bergung, Transport, Lagerung und Verarbeitung. Hierin liegen bei uns beachtliche Reserven, und das Mehr an Konsumptionsressourcen kann sich auf 20% und bei einigen Erzeugnisarten sogar auf 30% belaufen. Auch betragen die Kosten für die Beseitigung der Verluste bloß die Hälfte, ja sogar nur ein Drittel von denen, die für die zusätzliche Produktion der gleichen Mengen an anderen Erzeugnissen benötigt werden.“

Gorbatschows Lösung ist es, „eine allseitige Demokratisierung der Leistungstätigkeit zu verwirklichen, die Rolle der Arbeitskollektive in dieser Beziehung zu verstärken, der Kontrolle von unten, der Rechenschaftspflichtigkeit und der Publizität in der Tätigkeit von Wirtschaftsorganisationen größeren Nachdruck zu verleihen.“

In Wirklichkeit könnte dies nur mit echter Kontrolle durch die Masse der Arbeiter*innenklasse erreicht werden. Gorbatschow und die Bürokratie haben keinerlei Absicht, dies einzuführen. Ihre demokratischen Veränderungen sind kosmetisch, obwohl eine gewisse „Beratung“ mit den Arbeiter*innen erlaubt werden wird, um sie ohne die in den Tagen von Lenin und Trotzki existierende Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung in die Entscheidungen mit einzubeziehen. Gorbatschow fährt dann fort:

„Auch die gewählten Organe selbst sollten anspruchsvoller und strenger gegenüber dem eigenen Apparat sein. Man muss beachten, dass Mitarbeiter des Apparats, die längere Zeit nicht abgelöst wurden, oft genug das Gefühl für das Neue einbüßen und sich von den Menschen mit Vorschriften abschirmen, die sie selbst zu Papier gebracht haben, dass sie mitunter auch die Arbeit der gewählten Organe hemmen. Es ist wohl an der Zeit, eine solche Regelung auszuarbeiten, die es den staatlichen und auch allen gesellschaftlichen Organen ermöglichen würde, nach jeder Wahl eine Eignungsprüfung der verantwortlichen Mitarbeiter ihres Apparates durchzuführen und die herangereiften kadermäßigen Veränderungen vorzunehmen.“

„Die Zeit gebietet, dass die gesellschaftlichen Organisationen immer tatkräftiger in die Lenkung und Leitung des Staates einbezogen werden. Wenn man jedoch die Arbeit unserer gesellschaftlichen Formationen unter diesem Blickwinkel betrachtet, so wird offenkundig, dass die Initiative vieler von ihnen zu wünschen übrig lässt. Manchmal versuchen sie, vorwiegend mit den Kräften des hauptamtlichen Apparates zu agieren, gehen bürokratisch vor und stützen sich ungenügend auf die Massen. Mit anderen Worten, der volksverbundene, schöpferische, eigenständige Charakter der gesellschaftlichen Organisationen kommt bei weitem nicht vollständig zur Geltung.“

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Gorbatschow sprach sich auf dem 27. Parteitag sogar dafür aus, „die Wählbarkeit auf alle Brigadiere und dann schrittweise auch auf einige andere Kategorien von leitenden Mitarbeitern der Betriebe zu übertragen: auf Meister, Schicht- und Abteilungsleiter sowie auf die Leiter von Produktionsabteilungen in den Sowchosen.“

Die Tatsache, dass er in seiner Rede im Januar 1987 gezwungen war, die Frage der Wählbarkeit aller Posten innerhalb der Kommunistischen Partei aufzuwerfen, ist ein Anzeichen dafür dass es bei seiner Idee der Wahl von Brigadieren etc. wenig Erfolg gab. Die Bürokratie hat die Entwicklung dieses sogenannten Prinzips unterdrückt und verhindert. Delegationen russischer Politiker und Wissenschaftler haben in den letzten Wochen in Großbritannien und Amerika enthüllt, dass es gewaltigen Widerstand gegen Gorbatschows Programm der „Demokratie“ gibt.

Die sogenannte Kommunistische Partei der Sowjetunion ist mit ihren 19 Millionen Mitgliedern Teil einer totalitären Einparteienmaschine und ein Werkzeug der Bürokratie, Sie ist nicht einmal eine „Partei“ im Sinne der europäischen „Kommunistischen“ Parteien. Nun hat Gorbatschow also geheime Wahlen der Parteifunktionäre als Waffe gegen die Bürokratie in der Partei selbst befürwortet. Dies ist ein verzweifelter Versuch, ihren Widerstand gegen Veränderungen zu brechen.

Natürlich haben seine Vorschläge nichts mit der Demokratie Lenins und den vier festgelegten Bedingungen für den Beginn der Arbeiter*innenmacht, nichts mit dem Sozialismus gemeinsam. 70 Jahre später existiert keine davon. Die Wahl der Beamt*innen durch echte Arbeiter*innensowjets mit dem Recht der Abwahl war die erste Bedingung für Arbeiter*innendemokratie. Die zweite war, dass kein Beamter mehr als einen Facharbeiterlohn verdienen darf. Lenin begrenzte die Lohndifferenz zwischen Arbeiter*innen und Spezialist*innen, die er gezwungenermaßen einführen musste, auf vier zu eins – und das war für ihn schon eine „kapitalistische Differenzierung“. Heute sind die Unterschiede im Lebensstandard zwischen den Bürokrat*innen, Manager*innen, Techniker*innen, Armeegenerälen und den einfachen Arbeiter*innen wohl ebenso groß oder fast so groß wie in kapitalistischen Ländern, sogar wie in den USA.

Die dritte Bedingung war Volksbewaffnung anstatt eines besonderen stehenden Heeres. Die vierte war, dass alle Beamt*innenaufgaben allmählich reihum wahrgenommen werden sollten, um die Entwicklung einer Bürokratie zu verhindern. Wenn jeder ein Bürokrat ist, kann keiner Bürokrat sein, oder wie Lenin sagte: „Jedes Köchin sollte Premierminister werden können.“ Unter den Bedingungen enormer wirtschaftlicher Entwicklung, wo die Arbeiter*innenklasse die Mehrheit der sowjetischen Bevölkerung stellt, würden Marxist*innen heute eine fünfte Bedingung ergänzen – das Recht aller Parteien ihre Sichtweise zu vertreten. Es wäre sogar möglich, die Entwicklung pro-kapitalistischer Parteien zu erlauben. Sie würden eine verschwindend geringe Unterstützung erhalten, da die Idee der Rückkehr zum Kapitalismus oder zu den Bedingungen unter dem Zarismus völlig lächerlich erscheinen würde.

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Die Bürokratie enthüllt durch Gorbatschow ihre Angst vor allen Klassen – vor Arbeiter*innen und Bäuer*innen. Die bürokratische Kaste selbst fühlt, dass die Dinge nicht so weiterlaufen können wie unter Breschnew. In der Konsequenz will Gorbatschow viele der schlimmsten bürokratischen Missbräuche, die illegale und nominell illegale Bestechung, Diebstahl und andere bürokratische Vergünstigungen aus der Welt schaffen.

Er will jedoch in die Privilegien der Bürokratie nicht grundlegend eingreifen. Die „legitimen“ Privilegien müssen erhalten werden. Er vertritt in der Tat sehr sorgsam die Idee Stalins, Sozialismus bedeute „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“. Wie Trotzki in der „Verratenen Revolution“ erklärt hat, ist dieses Konzept von vorne bis hinten falsch. Gerade weil sie mehr bekommt, als ihr zusteht – das sollten nach Marx nur die Löhne für Aufsichtsführung sein -, hält die Bürokratie an ihrer Herrschaft fest. Sie hat ein Interesse an der Verteidigung und Ausweitung ihres Einkommens, ihrer Macht und ihrer Privilegien. Wie Trotzki erklärte: „Die Lohnarbeit hört auch unter dem Sowjetregime nicht auf, das erniedrigende Brandmal der Sklaverei zu tragen. Die Bezahlung ,nach der Leistung‘ – in Wirklichkeit Bezahlung zum Vorteil der ,geistigen‘ auf Kosten der körperlichen, insbesondere der nichtqualifizierten Arbeit – ist eine Quelle von Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Zwang für die Mehrheit, von Privilegien und ,frohem Leben‘ für die Minderheit.

Statt offen zuzugeben, dass in der UdSSR noch die bürgerlichen Arbeits- und Verteilungsnormen vorherrschen, schnitten die Verfassungsurheber (der neue Verfassung Stalins von 1936 – TG) das Integrale kommunistische Prinzip entzwei, vertagten die zweite Hälfte auf unbekannte Zukunft, erklärten die erste für bereits verwirklicht, verquickten sie mechanisch mit dem kapitalistischen Akkordlohnsystem, nannten das Ganze ein ,Prinzip des Sozialismus‘ und errichteten auf diesem Betrug das Verfassungsgebäude!“

Trotzki kommentiert weiter:

„Zugleich aber – und das ist nicht unwichtig – mit Kate, Kuh und Hausrat des Bauern, Arbeiters und Angestellten schützt das Gesetz auch Villa, Landhaus, Auto und alle sonstigen ,persönlichen Gebrauchs- und Komfortgegenstände‘ des Bürokraten, die er auf Grund des sozialistischen Prinzips ,jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung‘ erworben hat. Dem Automobil des Bürokraten wird das neue Grundgesetz jedenfalls mehr Schutz angedeihen lassen als der Karre des Bauern. „

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Die wirkliche Lage der sowjetischen Gesellschaft offenbart sich in Gorbatschows verzweifeltem Versuch, geheime Abstimmungen bei Wahlen von unteren zu höheren Ebenen der Kommunistischen Partei als Mittel zu nutzen, um den Willen der degenerierteren und reaktionäreren Teile der Bürokratie zu brechen, die unbehindert die Ausplünderung des sowjetischen Staates fortführen wollen.

Trotzki erklärte:

„In der kapitalistischen Gesellschaft soll die Geheimwahl die Ausgebeuteten vor dem Terror der Ausbeuter schützen. Wenn die Bourgeoisie sich schließlich auf diese Reform einließ – natürlich unter dem Druck der Massen – so nur, weil sie selbst daran interessiert war, ihren Staat wenigstens zum Teil vor der Demoralisierung zu bewahren, die sie selbst gestiftet hatte. In der sozialistischen Gesellschaft aber kann es, sollte man meinen, keinen Ausbeuterterror geben. Vor wem brauchen dann die Sowjetbürger Schutz? Die Antwort ist klar: vor der Bürokratie. Stalin gab es ziemlich offen zu. Auf die Frage: wozu Geheimwahlen?, antwortete er wörtlich: ,Nun, weil wir den Sowjetmenschen die volle Freiheit geben wollen, für die zu stimmen, die sie wählen möchten‘. So erfuhr die Menschheit aus berufenem Munde, dass die ,Sowjetmenschen‘ heute noch nicht für die stimmen können, die sie wählen möchten, Es wäre jedoch voreilig, hieraus zu schließen, dass die Verfassung ihnen morgen diese Gelegenheit schenken wird.“

In den frühen Tagen wirtschaftlicher Erfolge im Verlauf der ersten beiden Fünfjahrespläne war Stalin zu dem Versuch gezwungen, die Raubgier der Bürokrat*innen zu zügeln. Jetzt findet derselbe Prozess statt. Stalin wagte jedoch nicht, diese Reformen in der Wirklichkeit einzuführen. Wahlen fanden weiterhin mit nur einem Kandidaten statt. Allerdings auch bei mehr als einem Kandidaten hätte es nur solche Kandidat*innen gegeben, die von der Partei als Repräsentant der Bürokratie geprüft und genehmigt worden sind, und natürlich mit dem KGB im Hintergrund, Stalin wollte eine Geißel gegen den Apparat, den er selbst vertritt.

Das System der Sowjetunion besteht unter Gorbatschow grundsätzlich so weiter, wie es immer während der Zeit der bürokratischen Herrschaft seit 1927 existierte. Trotzki führt weiter aus:

„Das Versprechen, den Sowjetmenschen Freiheit zu geben, ,für die, die sie wählen möchten‘, zu stimmen, ist eher eine schöne Metapher als eine politische Formulierung. Die Sowjetmenschen werden das Recht haben, ihre ,Vertreter‘ nur unter den Kandidaten zu wählen, die ihnen unter der Flagge der Partei von den zentralen oder lokalen Führern zugewiesen werden.“

Genauso wird es jetzt bei den Parteiwahlen von unten nach oben aussehen. Auf lange Sicht wird dieser Versuch einer Geißel gegen die Bürokratie scheitern. Wie Trotzki weiter erklärte: „Nicht um Soziologie geht es, sondern um materielle Interessen.“

Die Wirtschaft kann sich nicht ohne die Teilnahme und Kontrolle der Arbeiter*innenklasse entwickeln, also setzt Gorbatschow darauf, die Kontrolle unter Einfügung einiger Elemente der Teilnahme und Kontrolle durch die Arbeiter*innen aufrechtzuerhalten. So etwas wie teilweise Kontrolle durch die Masse der Bevölkerung gibt es jedoch nicht. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Arbeiter*innen entweder die Kontrolle haben, oder sie ihnen weggenommen wird.

Teilweise Kontrolle wird nicht funktionieren. Sie kann nicht funktionieren ohne dass die Arbeiter*innen und Bäuer*innen die Gesellschaft von oben nach unten kontrollieren. Kunst und Technik können nur bei völliger Freiheit der Diskussion und Debatte aufblühen. Aber das kann in einer bürokratischen Struktur wie in der Sowjetunion nicht aufrechterhalten werden.

Gorbatschow will eine neue Arbeiter*innenaristokratie einführen, auf die die Bürokratie sich stützen kann. Das ist allerdings, unter völlig anderen Bedingungen, eine Rückkehr zu dem Stachanowprinzip, das heißt eine Schicht der Arbeiter*innen wird vom Rest der Arbeiter*innenklasse abgesondert, indem sie mit Privilegien überschüttet wird, um sich eine Basis in der Arbeiter*innenklasse zu verschaffen, Durch die Schaffung einer neuen privilegierten Schicht von Arbeiter*innenaristrokrat*innen hoffen die Bürokrat*innen eine Basis in der sowjetischen Gesellschaft zu haben, die jedes Bestreben der Arbeiter*innen, die Kontrolle wirklich zu übernehmen, vereitelt.

Marx und Lenin glaubten, dass der Staat fast sofort nach der Machtübernahme durch die Arbeiter*innenklasse abzusterben beginnt, und zwar vom ersten Tag der Arbeiter*innenmacht an. Dies war unmöglich in einem rückständigen Land wie dem Russland von 1917-1923, Jetzt gibt es keine wirtschaftlichen Gründe mehr, warum dies nicht beginnen sollte, abgesehen von den eigennützigen Interessen der allmächtigen Bürokratie selbst.

Russland hat jetzt die Produktivkräfte, um den Übergang zum wirklichen Sozialismus zu beginnen. Innerhalb von zehn Jahren könnte Russland den amerikanischen Kapitalismus überholen, wenn es nicht das Hindernis der Bürokratie geben würde. Unter den Bedingungen eines sich entwickelnden reichlichen Überflusses an lebensnotwendigen Gütern würden der Staat, Spaltungen in der Gesellschaft, das Geld usw. abzusterben beginnen. Aber die Bürokratie wird, ebenso wie die Kapitalist*innen im Westen, nicht bereit sein, ihre Macht kampflos aufzugeben. Die Bürokratie würde alles für die Arbeiter*innenklasse tun, außer von ihrem Rücken herabzusteigen.

In seiner Rede auf dem 27. Parteitag bezog sich Gorbatschow auf Subversion durch Agenten des Imperialismus. Als ob in einem wirklich demokratischen Arbeiter*innenstaat, der sich in Richtung auf den Sozialismus bewegt, die subversive Tätigkeit imperialistischer Agenten irgendeine Wirkung haben könnte! Diese Worte sind eine Rückversicherung für die bürokratische Kaste, dass ihre privilegierte Position sicher ist, es kein Absterben des Staates geben wird. Wenn die Arbeiter*innen die Ungleichheit, die Grundlage der Bürokratie, angreifen, wird man nicht viel Federlesens mit ihnen machen und sie beschuldigen, als subversive Agenten des Imperialismus zu handeln.

Dies war die Formel, mit der Stalin die Säuberung gegen die Alten Bolschewiki begann, gegen Hunderttausende aus den besten Schichten der sowjetischen Gesellschaft, die die Privilegien der Bürokratie bedroht hatten. Sie wurden beschuldigt, die Agenten der jeweiligen Macht zu sein, mit der Stalin in jenem bestimmten Moment im Konflikt war: dem britischen, französischen, deutschen, italienischen, spanischen und natürlich amerikanischen Imperialismus.

Bewegung in Richtung zum Sozialismus würde eine Verminderung, keine Verstärkung der Ungleichheit, wie sie Gorbatschow durchführen will, bedeuten. Völliger Hohn ist somit das Argument, dass der Sozialismus in einer Zeit erreicht worden sei, in der der Staat in der Sowjetunion monströse Ausmaße, wahrscheinlich größer als in jedem anderen Land, angenommen hat.

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Außerdem ist es kein Zufall, dass er sich in seiner Rede auf die Ansichten der „linken Kommunisten“ und der Trotzkisten bezog, „die die Theorie eines ,revolutionären Krieges‘ verfochten, welcher angeblich den Sozialismus in andere Länder tragen kann … Wir sind auch heute zutiefst überzeugt: Eine Revolution von außen anzupeitschen, erst recht mit militärischen Mitteln, ist sinnlos und unzulässig.“ Hier besteht nicht die Absicht, auf diese Fragen weiter einzugehen. Es ist ausreichend zu sagen, dass Trotzki und Lenin 1918 gegen Bucharins Idee des revolutionären Krieges zu dieser bestimmten Zeit waren. Diese rituelle Denunziation von Trotzkisten ist eine weitere Beruhigung für die Bürokratie, dass Gorbatschow in keiner Weise versucht, die Position der privilegierten Elite zu untergraben.

Zur gleichen Zeit ist es eine Beruhigung der kapitalistischen Mächte, besonders der US-Imperialisten, dass die Bürokratie nicht beabsichtigt, revolutionäre Entwicklungen in anderen Ländern zu unterstützen. Wie seine Vorgänger ist Gorbatschow entschieden gegen die Entwicklung der Revolution im Westen, weil das Ergebnis eine echte Arbeiter*innendemokratie wäre, die sofort eine enorme Wirkung auf die Massen weltweit und besonders in Russland, Osteuropa und China hätte, Für die Bürokratie ist die Außenpolitik, wie für alle herrschenden Klassen, eine Fortsetzung der Innenpolitik und die Innenpolitik eine Fortsetzung der Außenpolitik. Gorbatschow ist bestrebt, zu einer Vereinbarung mit. dem Imperialismus zu kommen. Obgleich zeitweise Vereinbarungen möglich sind, bleibt die grundlegende Basis der Sowjetunion unvereinbar mit der weltweiten Entwicklung des Kapitalismus,

Die wirkliche Bedeutung der Reformen zeigt sich in der Tatsache, dass Gorbatschow in allen Republiken Russ*innen einsetzt, um die Position der großrussischen Bürokratie zu garantieren – weit davon entfernt, den nationalen Minderheiten ungehinderte Entwicklung zu sichern. Die Gefahren haben sich im Dezember 1986 gezeigt, als die Absetzung des Führers der Kommunistischen Partei Kasachstans (eines Kasachen) und die Ersetzung durch einen Großrussen zu Unruhen führte.

Trotz der Unruhe oder gerade wegen ihr ist die Bürokratie entschlossen, sicherzugehen, dass in allen Republiken der nationalen Minderheiten Russ*innen die Schlüsselpositionen behalten.

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In gewisser Weise hat jedoch die politische Revolution bereits begonnen. Sie wird ein in die Länge gezogener Prozess mit vielen scharfen Wendungen und plötzlichen Veränderungen sein. Gorbatschow wollte die schlimmsten Auswüchse der Bürokratie ausmerzen. Für eine begrenzte Zeit kann er damit Erfolg haben. Die Bringen der lange unterdrückten Kritik an die Oberfläche wird eine Auswirkung auf alle Gebiete der sowjetischen Gesellschaft haben. Für ein bis zwei Jahre, oder auch mehr oder weniger, werden die halbherzige Reformen zumindest wirtschaftliche Ergebnisse haben, wie sie jetzt schon vorzuliegen scheinen.

Wissenschaft, Kunst und Philosophie werden für eine begrenzte Zeit einen Anstoß erhalten. Aber die grundsätzlich privilegierte Rolle der Bürokratie ist die Hauptfessel für die Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft, und sie bleibt unangetastet. Nicht Evolution, sondern politische Revolution, die den Weg für die Herrschaft der Arbeiter*innenklasse bereitet, ist unvermeidlich. Gorbatschows Reformen werden die Probleme der Bürokratie nicht lösen, sondern im Gegenteil weiter verschlimmern. Bewegungen von oben werden unweigerlich zu einer enormen Bewegung von unten führen, die in einer politischen Revolution enden wird. Er warnte auf einer sowjetischen Pressekonferenz am 13, Februar 1987 auf beispiellose Weise davor, dass er zurücktreten würde, falls seine Reformpläne blockiert würden. Zur jetzigen Zeit ist. dies als Warnung an die konservativeren Schichten der Bürokratie gedacht … Aber auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung wird er gezwungen sein, zurückzutreten, oder mit der Absetzung durch die Bürokratie konfrontiert sein.

Nur durch die Abschaffung der Privilegien der Bürokratie und die Wiederherstellung der Kontrolle in den Händen der Arbeiter*innen und Bäuer*innen können alle Widersprüche der russischen Gesellschaft überwunden werden. Nur eine auf der Grundlage des Programms Lenins und Trotzkis stehende marxistische Tendenz kann dieses Problem der Revolution lösen. Auf längere Sicht gesehen gibt es keinen anderen Weg: vorwärts für die sowjetische Gesellschaft. außer der politischen Revolution. Die Bürokratie wird sich niemals selbst entbürokratisieren. Sie versucht im Gegenteil sogar im Zuge der Reformen ihre privilegierte Position zu festigen. Heute, in einer modernen sowjetischen Gesellschaft, gerät sie immer mehr im Konflikt mit der Entwicklung von Gesellschaft und Produktion. Das ist der Grund, warum sie zum Untergang verurteilt: ist. Aber in den nächsten fünf bis zehn Jahren wird der Weg für die Bewegung in Richtung Sozialismus geebnet werden.

Der Sieg der sowjetischen Arbeiter*innen wird unter den modernen Bedingungen einen weitaus größeren Effekt haben als selbst die russische Revolution von 1917. Die Vorteile des Staatseigentums und eines Plans werden so überwältigend sein, dass es Auswirkungen nicht nur auf die Arbeiter*innenklasse, sondern auch auf die Intellektuellen, die Mittelschichten und andere Schichten der Gesellschaft haben und somit zum Sturz des Kapitalismus im Weltmaßstab führen wird.

Ted Grant, 13. Februar 1987

Kasten: Der „Morning Star“

Nachdem sie jahrzehntelang über die Lage im „idyllischen Sozialismus“ in der Sowjetunion gelogen haben, sind der „Morning Star“1 und andere Zeitungen der sogenannten Kommunistischen Partei gezwungen, aus den sowjetischen Medien selbst Fälle bürokratischer Kontrolle, Willkür, Korruption und Spekulation zu zitieren: Steine wurden angehoben und zeigen den furchtbaren Schlamm der Bürokratie darunter.

Die „Kommunistischen“ Parteien in aller Welt rechtfertigten und befürworteten Stalins Behauptungen, logen über sie. Dann begrüßten sie ohne mit der Wimper zu zucken Chruschtschows Anschuldigungen gegen Stalin. Sie akzeptierten die Absetzung Chruschtschows und krochen vor Breschnew. Heute übernehmen sie ohne mit der Wimper zu zucken Gorbatschows strenge Beurteilung der letzten zwei Jahrzehnte der Herrschaft Breschnews.

1 „Morning Star“ ist die Tageszeitung der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB) und wird von den harten, moskautreuen Stalinist*innen kontrolliert, Die KP hat sich in einen eurokommunistischen und einen moskautreuen Flügel gespalten.


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