Ted Grant: Die Säuberung von Stalin

[eigene Übersetzung aus: Socialist Current, Jg. 1 Nr. 1. (Mai 1956) S. 1-4 & 13-14]

Die gesamte kapitalistische Presse der Welt war in den letzten Wochen gefüllt mit Artikeln, die die posthume Säuberung von Stalin zu erklären versuchten. Die stalinistischen und Labour-Zeitungen sind ihnen dabei gefolgt. Doch ihre Erklärungen sind äußerst dürftig.

Es ist weder eine Frage persönlichen Hasses seiner Leutnants und Kollegen auf Stalin, obwohl dieser real genug war, noch eine Frage moralischer Abscheu vor seinen Verbrechen. Chruschtschow und alle anderen Führer, die gegenwärtig die Sowjetunion kontrollieren, haben sich mit Stalin an allen Säuberungen und seinen anderen bestialischen Verbrechen beteiligt. Und nicht nur das, sie setzten und setzen immer noch die gleichen Schauprozess-Methoden ein. Als es zu einem Streit und Machtkampf zwischen verschiedenen Teilen der Bürokratie, zwischen Malenkow-Chruschtschow-Bulganin und Beria kam und Beria den Kürzeren zog, wurde er hingerichtet und auf die gleiche unehrliche Weise als Verräter und Agent des Imperialismus denunziert, wie Stalin mit seinen Feinden umgegangen war. Beria war wie die anderen Führer mit Verbrechen befleckt, aber er war ebenso ein Agent des Imperialismus, wie Churchill und Eden Agenten Russlands sind. Als Chef der Geheimpolizei war er schuldig an der Unterdrückung und Verfolgung von Millionen von Menschen, aber die heutigen Führer teilen die Schuld. Und sie zeigen, dass sie die Methoden Stalins fortsetzen, indem sie weiterhin die Fiktion von Berias Verrat verbreiten.

Vor allem wird die Fiktion aufrechterhalten, dass der Sozialismus in der Sowjetunion errichtet sei, und zwar aus demselben Grund, aus dem Stalin diesen Mythos ursprünglich eingeführt hatte: um die breiten Massen in Russland und in der Welt zu täuschen und um die dominante und privilegierte Stellung der Beamtenschaft zu rechtfertigen und zu erhalten.

Stalin vertrat nicht sich selbst, wie jetzt behauptet wird, sondern wie jeder Diktator in der Geschichte eine Klasse oder Schicht der Gesellschaft. Stalin ist nicht aus Zufall an die Macht gekommen und hat seine Tyrannei auch nicht ohne Unterstützung errichtet. Seine Diktatur repräsentierte nicht seine Rolle als Individuum, sondern die Bedürfnisse der bürokratischen Kaste, die die Macht von den breiten Massen an sich riss.

Historisch gesehen repräsentierte Stalin die bürokratische Reaktion gegen die Revolution. In ihm wurden die Interessen der Beamtenschaft personifiziert. Dies wird durch die Tatsache bewiesen, dass alle Errungenschaften der Revolution mit Ausnahme der grundlegenden Errungenschaft, dem Staatseigentum an den Produktionsmitteln und der Planung, im Zuge der Konsolidierung der Herrschaft Stalins zerstört wurden. Das war die Bedeutung der unzähligen Verbrechen und des willkürlichen Terrors der Geheimpolizei. Alles unter dem Regime Lenins und Trotzkis Erreichte wurde in sein Gegenteil umgewandelt. Nationalismus statt Internationalismus, Ungleichheit und Differenzierung statt Gleichheit, Versklavung und Differenzierung unter den Arbeitern statt Arbeiterkontrolle; nationale Unterdrückung der Republiken statt brüderlicher und gleichberechtigter Beziehungen; eine privilegierte bürokratische Hierarchie in Armee, Industrie, Landwirtschaft, Polizei und Staatsdienst. Das war die wahre Bedeutung des Stalinschen Terrors.

Die derzeitigen Führer im Kreml behaupten, dass sie zu den Methoden Lenins zurückkehren. Aber sie bewahren die grundlegenden Vorzüge und Vorteile für die Beamtenschaft.

Wenn es eine Abneigung gegen die Methoden Stalins gegeben hat, dann aus zwei Gründen: dem wachsenden Druck der Massen und der Angst der Bürokratie vor einer Wiederholung der persönlichen und willkürlichen Herrschaft Stalins. Wie jede Diktatur, die die Widersprüche innerhalb einer Gesellschaft widerspiegelt, endete auch die Stalin-Diktatur mit dem persönlichen Größenwahn und der Willkürherrschaft eines Einzelnen. So war es im alten Rom, in der mittelalterlichen Gesellschaft und in der wahnsinnigen Diktatur Hitlers und Mussolinis.

Gegen Ende seiner Herrschaft reagierte Stalin auf die wachsende Unzufriedenheit und den ansteigenden Hass gegen sein Regime, indem er eine Säuberung vorbereitete, die mit dem monströsen Alptraum der Vorkriegszeit vergleichbar zu sein drohte.

Der geplante Prozess gegen die Ärzte bereitete die Bühne. Keiner war sicher. Nach den Aussagen Chruschtschows waren Molotow, Woroschilow, Bulganin, er selbst und andere Führer von der Gefahr der Verhaftung und Hinrichtung bedroht. Es ist wahrscheinlich, wie die marxistische Tendenz vermutete, dass in dieser Atmosphäre die Spitzen der Bürokratie, alarmiert über die Gefahren für das Regime und ihre eigene persönliche Sicherheit, beschlossen, sich des Paranoikers zu entledigen, der Russland regierte. Das stand in der russischen Tradition. So wie der Hofadel Iwan den Schrecklichen entfernte, als sein Wahnsinn sie bedrohte, so beschlossen sie, Stalin zu entfernen, der in seiner Blutrünstigkeit noch schrecklicher war als alle Zaren.

Dann muss man die Veränderungen in der russischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten berücksichtigen, insbesondere in der Zeit nach dem Krieg. Das Niveau der Industrie, der Wissenschaft, der Kultur ist unermesslich höher als zu der Zeit, als die Bürokratie die Macht an sich riss. Damals war Russland fast auf dem Niveau einer Kolonie.

Im Jahr 1927 zählte die Arbeiterklasse etwa 4 Millionen, die zum großen Teil aus ungebildeten Halbbauern bestand, die gerade aus den Dörfern gekommen waren. Jetzt hat Russland ein gebildetes und kultiviertes Proletariat, das 40 bis 50 Millionen Menschen umfasst. Und Russland ist, obwohl immer noch relativ rückständig, zur zweitgrößten Industriemacht der Welt geworden. Es stellt die alten kapitalistischen Mächte in Europa in den Schatten, und nur der Koloss des amerikanischen Kontinents übertrifft es gegenwärtig.

Es war die Isolierung der Revolution in Russland und die Rückständigkeit seiner Wirtschaft, die es der Bürokratie ermöglichten, unter der Führung Stalins die Kontrolle zu erlangen, der seine totalitäre Herrschaft als ihr Instrument allmählich perfektionierte. Doch mit der Entwicklung der Wirtschaft gerät die Bürokratie, die in der Vergangenheit unter den gegebenen Bedingungen eine relativ fortschrittliche Rolle gespielt hat, immer mehr in Konflikt mit den Erfordernissen von Kultur und Wirtschaft.

In einer ganzen Reihe von Reden, die im Westen wenig Beachtung gefunden haben, haben Chruschtschow und die anderen Führer der bürokratischen Herrschaftsoligarchie gezeigt, dass sie die Probleme und Gefahren, die daraus hervorgehen, erkannt haben. Bürokratische Herrschaft bedeutet, wie von in diesen Reden enthüllt wird, Missmanagement, Verschwendung, Korruption, Vergeudung, Vetternwirtschaft. Es verhindert die volle Nutzung aller Produktivkräfte in Russland, insbesondere der wichtigsten von allen: des Menschen. Willkürherrschaft bedeutet Ineffizienz und Bürokratie in Industrie und Landwirtschaft. Sie bremst die Entwicklung von Wissenschaft und Kultur, die ihrerseits auf die Entwicklung der Produktivkräfte zurückwirken.

Auch dies und die sich daraus ergebenden Probleme werden durch die Bürokratie erkannt. Der Versuch, dem mit den durch und durch brutalen Methoden Stalins zu begegnen, würde den Widerstand der Massen provozieren und drohen, das bürokratische Regime selbst zu verschlingen, und es würde Russland national und international enorm schwächen. Das Problem der Bürokratie bestand also darin, das Regime zu mildern, einen gewissen Spielraum für die Entwicklung von Initiative und Kritik zuzulassen und gleichzeitig das Regime intakt zu halten.

Im Unterschied zum Kapitalismus oder jeder anderen Produktionsweise erfordern Staatseigentum und Planung zur vollen Nutzung der ihnen innewohnenden Möglichkeiten eine demokratische Beteiligung und Kontrolle. Mit der Anhebung des kulturellen Niveaus und des Lebensstandards wurden die Massen immer kritischer gegenüber dem Willkürregime. Alle Schichten der Gesellschaft, einschließlich aller Ebenen der Bürokratie selbst, fühlen sich in ihrer Initiative und ihrem Unternehmungsgeist gehemmt. Der empfindliche Mechanismus eines mächtigen Industriestaates leidet noch mehr als eine rückständige Wirtschaft unter den lähmenden Auswirkungen des Absolutismus.

Demokratische Kontrolle und Beteiligung der Massen, freier Spielraum für Diskussion, Kritik und Initiative von oben bis unten in allen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere in Industrie und Landwirtschaft, würden ein viel schnelleres und harmonischeres Entwicklungstempo der Wirtschaft bedeuten. Es würde eine große Steigerung des Lebensstandards für die Massen sowie höhere Investitionen bedeuten.

Aber die Bürokratie kann dies nicht zulassen; denn das hieße, ihre Herrschaft zu entsagen. Wie alle herrschenden Klassen und Kasten der Vergangenheit möchte auch die Bürokratie beides gleichzeitig haben. Sie strebt, die Missstände und Auswirkungen ihrer Herrschaft zu überwinden und gleichzeitig die Herrschaft zu bewahren.

Trotz der Hysterie der kapitalistischen und stalinistischen Schreiberlinge im Westen ist dies nicht das erste Mal, dass eine solche Wende angestrebt wird. Unter Stalin selbst wurde 1936 die Stalin-Verfassung eingeführt, die der Bevölkerung auf dem Papier alle Rechte und Segnungen garantierte. Sie folgte auf die kleine Säuberung von 1934 … und wurde von der wahnsinnigen Auslöschung jedes noch so kleinen Oppositionspotentials in den Massensäuberungen abgelöst.

Eine vollständige Rückkehr zu dieser Politik wäre wegen des Widerstands der Massen sehr schwierig. Gleichzeitig möchte sich die Bürokratie einen gewissen Schutz und Diskussionsmöglichkeiten an der Spitze geben. Sie wünschen sich eine Demokratie in gewissen Grenzen innerhalb der obersten Schichten der Bürokratie selbst. Das ist die Bedeutung der sogenannten Rückkehr zur „kollektiven Führung“, anstelle des „Kultes des Individuums“. Solange es ihre Position nicht bedroht, wünschen sie sich sogar ein gewisses Maß an Initiative der Basis. Auch Stalin bemühte sich zu seiner Zeit um diese Absicherung. Er stützte sich manchmal auf die Massen als „Vater des Volkes“ und schlug mit der Peitsche auf die Bürokratie und ihre Auswüchse ein. Aber unweigerlich führte der Ansturm von unten zu Panik an der Spitze und zu einer Verstärkung der bürokratischen Zwangsjacke.

Jetzt wollen Chruschtschow, Bulganin, Molotow und Co. „kollektive Führung“ einführen und auf dieselbe Weise „wohlwollende Kritik“ von unten zulassen. Aber in dem Moment, in dem diese Kritik über die willkürlichen Exzesse von Individuen und unteren Beamten in den lokalen Bereichen hinausgeht und zu einer Kritik an der obersten Führung und dem System zu werden droht, greifen sie sofort hart durch. In der Presse wurde bereits über Warnungen und Drohungen gegen Kritik an der „Partei“ und am Regime berichtet.

Auch hier ist zu bedenken, dass die Partei nicht mehr dieselbe ist wie in den ersten Tagen der Revolution, als sie die Partei der Arbeiter und Bauern war, ein Instrument ihrer Herrschaft. Als Widerspiegelung davon war sie in ihrer Basis überwiegend aus solchen Elementen zusammengesetzt. Unter der Führung Stalins verwandelte die Bürokratie die Partei aus einem Instrument der Arbeiterherrschaft in eine Maschine der Bürokratie.

In ihrer formalen Zusammensetzung ist sie zu 90 bis 95 % eine Partei von Beamten, Geheimpolizisten, Managern, Kolchoschefs, Armeeoffizieren und der Arbeiteraristokratie geworden. Die einfachen Arbeiter und Bauern fallen durch ihre Abwesenheit auf. Nun kann die Bürokratie selbst innerhalb dieser kastrierten Partei keine wirkliche innerparteiliche Demokratie zulassen, weil sie unweigerlich die Aufwallung der Arbeiter und Bauern draußen [widerspiegeln] und ihre Herrschaft gefährden würde.

Vor einigen Monaten war die kapitalistische Welt verblüfft über die Rüge, die Molotow erhielt, weil er sagte, dass der Sozialismus in der UdSSR noch nicht vollendet sei, sondern in der Zukunft liege. Für sie war das „doktrinär“ und „Mystifizierung“. In Wirklichkeit ist der Widerspruch zwischen dem gegenwärtigen Regime und dem Ideal des Sozialismus, wie es sich in den Ideen von Marx und Lenin widerspiegelt, wie schon unter Stalin geschehen, für jeden Studenten, der sie gewissenhaft liest, offenkundig. Folglich stützt die Bürokratie das Regime auf der einen Seite durch Terror, auf der anderen durch ideologische Fälschung.

Die Bedeutung ihrer Vorspiegelung, sie würden zu den Ideen und Methoden Lenins zurückkehren, liegt jedoch in der tiefen Sehnsucht der gesamten Bevölkerung nach einer Rückkehr zu den Methoden und Traditionen der Oktoberrevolution.

Darin kündigt sich der Untergang der neu gestalteten Version des Stalinismus an. So sehr sich die Bürokratie auch windet und zappelt, sie kann den Folgen der Widersprüche in ihrem System nicht entkommen. Diese gewaltigen Ereignisse lassen die Unausweichlichkeit einer politischen Revolution in der Sowjetunion erahnen.

Nur durch einen Sturz der Bürokratie und die Wiederherstellung der Kontrolle des Staates und der Gesellschaft als Ganzes durch die Arbeiterklasse kann der Weg für ein Übergangsregime frei gemacht werden, das sich in Richtung Sozialismus entwickelt.

In dieser Krise spiegelt sich die Berechtigung des Kampfes Trotzkis und der Linken Opposition und die Richtigkeit seiner Grundideen zur Entwicklung der Sowjetunion wider.


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