[30. September 1932, eigene Übersetzung der englischen Fragen und der russischen Übersetzung eines Teils der Fragen und der Antworten. Die Fragen stellte B. J. Field {A. F.} Anlass war ein Artikel des stalinistischen „Weggefährten“ Louis Fischer in „The Nation“. Korrekturen von russischen Muttersprachler*innen wären sehr willkommen]
Antworten auf Fragen B. Fields aus Anlass des Artikels Louis Fischers.
1. Kann das bloße fortgesetzte Bestehen der Sowjetunion über eine Zeitperiode hinweg zu erfolgreichen proletarischen Revolutionen anderswo führen?
L.Т. – Dass die Existenz der Sowjetunion internationale revolutionäre Bedeutung hat, ist ein Gemeinplatz, den sowohl Freunde als auch Feinde gleich empfinden. Jedoch, ungeachtet der Existenz der Sowjetunion hat die proletarische Revolution 15 Jahre lang in keinem anderen Lande gesiegt. In Russland selbst siegte das Proletariat, ungeachtet dessen, dass es nirgendwo einen Sowjetstaat gab. Für einen Sieg sind nicht nur bestimmte objektive Bedingungen, innere und internationale, notwendig, sondern auch ein bestimmter subjektiver Faktor: Partei, Führung, Strategie. Unsere Differenzen mit Stalin haben einen völlig strategischen Charakter. Es reicht aus zu sagen: falls wir im Jahre 1917 die Politik Stalins betrieben hätten, gäbe es den Sowjetstaat nicht auf der Welt.
2. Als Lenin 1917 sagte, dass nur eine Revolution im Ausland die russische Revolution retten könne, sprach er da nur in einem unmittelbaren militärischen und politischen Sinne, nämlich der Rettung Russlands vor Niederlage und Unterwerfung, oder hatte er die Rettung der Möglichkeit der Entwicklung Russlands durch die Diktatur des Proletariats zum kommunistischen Endziel im Sinn?
A. F. – Fischer schreibt: „Lenin und seine Anhänger waren überzeugt, dass in jene Periode [im Jahre 1917] bloß eine Revolution im Ausland sie vor einer unumgänglichen Niederlage retten würde … Sie erhofften nicht, sich zu retten, falls die Revolution in Europa und Amerika nicht die Feindseligkeit des Auslands schwächen würde und dem Roten Russland eine Verschnaufpause für die innere Festigung bereitstellen würde“. Hatte Lenin bloß die unverzügliche militärische und politische Möglichkeit im Blick, Russland vor Niederlage und Okkupation zu retten, oder sprach er über die ganze Perspektive der inneren Entwicklung Russlands vermittels der Diktatur des Proletariats zum kommunistischen Endziel?
L.Т. – Diese Behauptung L. Fischers, wie im Übrigen auch eine Reihe anderer, offenbart seine Unbekanntheit mit der Theorie und Geschichte des Bolschewismus. Im Jahre 1917 gab es nicht einen Bolschewiken, welcher die Durchführung einer sozialistischen Gesellschaft in einem einzelnen Lande, besonders in Russland, für möglich erachtet hätte. im Anhang zu meiner „Geschichte der Oktoberrevolution“ (sie muss im nächsten Monat bei Simon und Schuster erscheinen) gebe ich einen ausführlichen und streng dokumentarischen Abriss der Ansichten der bolschewistischen Partei über die Oktoberrevolution. Diese Abriss wird, wie ich hoffe, ein für allemal unmöglich machen, Lenin die Theorie des Sozialismus in einem einzelnen Lande zuschreiben. Hier werde ich mich nur auf einen Hinweis beschränken, der meiner Meinung nach entscheidenden Charakter hat. Lenin starb im Januar 1924. Drei Monate später legte Stalin im Druck die Sicht Lenins auf die proletarische Revolution dar. Ich zitiere wörtlich:
„…Die Macht der Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einem Lande errichten heißt noch nicht den vollen Sieg des Sozialismus sichern. Die Hauptaufgabe des Sozialismus – Organisierung der sozialistischen Produktion – steht noch bevor. Kann man diese Aufgabe lösen, kann man den endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Lande erreichen ohne gemeinsame Anstrengungen der Proletarier einiger fortgeschrittener Länder? Nein, das ist nicht möglich. Zum Sturze der Bourgeoisie genügen die Anstrengungen eines Landes – das sagt uns die Geschichte unserer Revolution. Für den endgültigen Sieg des Sozialismus, für die Organisierung der sozialistischen Produktion sind die Anstrengungen eines Landes, besonders eines so bäuerlichen Landes wie Russland, schon ungenügend – dazu sind die Anstrengungen der Proletarier einiger fortgeschrittener Länder nötig …“ Die Darlegung dieser Gedanken schließt Stalin mit den Worten: „Das sind im Allgemeinen die charakteristischen Züge der Leninschen Theorie der proletarischen Revolution.“ („Fragen des Leninismus“, übersetzt in viele Sprachen, unterstrichen von mir).
Erst im Herbst des Jahres 1924 entdeckte Stalin, dass gerade Russland, im Unterschied von anderen Ländern, aus eigenen Kräften eine sozialistische Gesellschaft errichten kann. „Nachdem es seine Macht gesichert hat und die Bauernschaft hinter sich führt“, schrieb Stalin in der neuen Auflage der gleichen Arbeit, „kann und muss das Proletariat des siegreichen Landes die sozialistische Gesellschaft aufbauen.“ Kann und muss! Die Proklamierung dieser neuen Konzeption schließt mit den gleichen Worten: „… Das sind im Allgemeinen die charakteristischen Züge der Leninschen Theorie der proletarischen Revolution.“ Im Verlaufe eines Jahres schreibt Stalin Lenin zwei direkt entgegengesetzte Ansichten über die Kernfrage des Sozialismus zu. Die erste Version war tatsächlich die Tradition der Partei. Die zweite Version entfaltete sich bei Stalin erst nach dem Tode Lenins, im Prozess des Kampfes mit dem „Trotzkismus“.
3. Gibt es Grund zu glauben, dass die Weltrevolution oder eine Reihe von sozialen Umwälzungen auf dem eurasischen Kontinent 1921 keine unmittelbare Möglichkeit mehr darstellte?
A. F. – Gibt es Grund anzunehmen, dass die Weltrevolution, oder eine Kette sozialer Umstürze auf dem eurasischen Kontinent im Jahre 1921 „aufhörte als unmittelbare Möglichkeit zu erscheinen“?
L.Т. – Was nennen Sie eine unmittelbare Möglichkeit? Im Jahre 1923 war die Lage in Deutschland zutiefst revolutionär. Aber für eine siegreiche Revolution fehlte die richtige Strategie. Zu diesem Thema habe ich zu seiner Zeit die Arbeit „Lehren des Oktober“ geschrieben, die als Anlass für meine Entfernung aus der Regierung diente. In den Jahren 1925-27 wurde die Revolution in China zugrunde gerichtet durch die falsche revolutionäre Strategie der Stalinschen Fraktion. Dieser letzten Frage ist mein Buch „Probleme der chinesischen Revolution“ gewidmet (Pioneer Publisher, New York, 1932). Es ist vollkommen klar, dass die deutsche und chinesische Revolution im Falle eines Sieges das Gesicht Europas und Asiens, aber vielleicht, auch der ganzen Welt geändert hätten. Noch einmal: wer die Probleme der revolutionären Strategie ignoriert, der sollte besser allgemein nicht über eine Revolution sprechen.
4. Trotzki glaubt an ein Programm der Industrialisierung und Kollektivierung als Innenpolitik für Russland, ebenso wie Stalin; Stalin vernachlässigt nicht die Nützlichkeit der Dritten Internationale, ebenso wenig wie Trotzki. Ist es richtig zu sagen, dass die Unterschiede zwischen ihnen eine Frage der Proportion und der Schattierung sind?
5. Ist es richtig zu sagen, dass Trotzkis Politik außenpolitisch radikaler ist als die Stalins, innenpolitisch aber weniger radikal?
A. F. – Es wird behauptet, dass „Trotzki die sowjetische innere Industrie ebenso wenig geringschätzen würde wie Stalin die Bedeutung der Dritten Internationale ignorieren würde“. Sind Sie einverstanden mit der Schlussfolgerung, dass es „in diesem Bilde weder weiß noch schwarz gibt. Alles hängt von Proportionen und Abstufungen ab“?
L.Т. (4 und 5) – Eine solch Behauptung ist bloß bei Unbekanntheit mit der Geschichte des Kampfes zwischen Stalinscher Fraktion und linker Opposition möglich. Die Initiative für den Fünfjahresplan und die beschleunigte Kollektivierung lag völlig bei der Linken Opposition in unaufhörlichem und scharfem Kampf mit dem Stalinismus. Da ich nicht die Möglichkeit habe, hier umfangreiche historische Bescheide zu geben, werde ich mich auf eine Illustration beschränken. Dnjeprostroj wird mit Recht als höchste Errungenschaft der Sowjetindustrialisierung erachtet. Indessen waren Stalin und seine Gleichgesinnten (Woroschilow, Molotow und andere) einige Monate bis zum Beginn der Arbeiten entschiedene Gegner von Dnjeprostroj. Ich zitiere nach dem stenografischen Bericht die Worte, die Stalin im April des Jahres 1927 im Plenum des ZK der Partei gegen mich, als Vorsitzenden der Kommission für Dnjeprostroj sagte. „Es ist die Rede … davon, Dnjeprostroj mit eigenen Mittel auszustatten. Aber die hier geforderten Mittel sind groß, einige Hunderte Millionen. Wie könnten wir nicht in die Lage jenes Bauern gelangen, welcher, nachdem er zusätzliche Kopeken gespart hat, anstelle dass er den Pflug ausbesserte und die Wirtschaft erneuerte, ein Grammofon erwarb und … Pleite ging (Gelächter) … Können wir nicht die Entscheidung des Parteitages darüber, dass unsere Industriepläne mit unseren Ressourcen abgestimmt sein müssen, berücksichtigen? Indessen berücksichtigt Genosse Trotzki offensichtlich diese Entscheidung des Parteitages nicht.“ (Stenogramm des Plenums, S. 110).
Parallel dazu führte die Linke Opposition im Verlauf einiger Jahre gegen die Stalinisten einen Kampf für die Kollektivierung. Erst als der Kulak dem Staat das Getreide verweigerte, vollzog Stalin unter dem Druck der Linken Opposition eine jähe Wendung. Als Empiriker gelangte er auf dem neuen Weg bis zum entgegengesetzten Extrem, indem er die Aufgabe der Kollektivierung der ganzen Bauernschaft und der Liquidierung des Kulakentums als Klasse im Verlauf von zwei-drei Jahren und gleichzeitig der Verringerung der Frist des Fünfjahresplans auf 4 Jahre aufstellte. Die Linke Opposition erklärte die neuen Tempi der Industrialisierung für die Kräfte übersteigend, aber die Liquidierung des Kulakentums als Klasse im Verlauf dreier Jahre für eine Fantasten-Aufgabe. Wenn Sie wollen, erwiesen wir uns dieses Mal als „weniger radikal“ als die Stalinisten. Revolutionärer Realismus strebt, aus jeder gegeben Lage das Maximum zu ziehen – darin liegt sein revolutionärer Charakter, – aber zur gleichen Zeit erlaubt er nicht fantastische Ziel aufzustellen – darin liegt sein Realismus.
6. Bedeutet die Kollektivierung die Ausrottung des Privatkapitalismus im Dorf?
L.Т. – Wenn die Kollektivierung übermäßig die technische und kulturelle Umwandlung der bäuerlichen Wirtschaft überholt, dann nimmt sie unausbleiblich administrativen Charakter an. In diesem Falle rottet sie den Privatkapitalismus im Dorfe nicht aus, sondern bezieht ihn in ihren Rahmen mit ein. Die Linke Opposition forderte und fordert die Führung des Tempos der Kollektivierung in Übereinstimmung mit den verfügbaren technischen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen Landes.
7. Ist die Innenpolitik des Kremls heute linker als je zuvor?
L.Т. – Diese Behauptung ist zumindest verspätet. Die Innenpolitik der Stalinschen Fraktion vollzieht gerade jetzt eine neue Wendung. Die Legalisierung des privaten Handels ist, in jedem Fall, ein entscheidender Schritt nach rechts.
8. Sind die letzten Spuren des Privatkapitalismus aus Russland verschwunden? Stimmt es, dass es im heutigen Russland absolut keinen Weg zurück zum Privatkapitalismus gibt?
L.Т. – Die derzeitigen Kolchosen sind eine Arena des Kampfes kapitalistischer und sozialistischer Tendenzen. Die Legalisierung des Handels, wie auch eine Reihe anderer Maßnahmen der letzten Zeiten, bedeuten ein erzwungenes Zugeständnis an die kapitalistischen Tendenzen. Darin eine Wendung auf den Weg zum Kapitalismus zu sehen, wäre in der Wurzel falsch. Aber es ist nicht weniger leichtsinnig, von der vollen Ausmerzung des Kapitalismus zu reden. Der Kampf zwischen den feindlichen Kräften wird noch viele Jahre dauern und sich in Abhängigkeit davon lösen, wie das Schicksal des Weltkapitalismus gelöst wird.
Wenn in Russland allgemein nicht eine große Gefahr der Rückkehr zum Kapitalismus bestünde, dann wäre, bemerken wir insbesondere, das Regime der Diktatur durch nichts gerechtfertigt. Fischer hat, offensichtlich, darüber überhaupt nicht nachgedacht.
9. Wenn man davon ausgeht, dass eine kapitalistische Wirtschaft, je höher sie entwickelt ist, umso abhängiger von anderen Ländern wird, ist dies für die Sowjetunion weniger wahr, weil sie sich zu einer sozialistischen Wirtschaft entwickelt?
A. F. – Wenn wir einander zustimmen, dass, je mehr entwickelt eine kapitalistische Wirtschaft ist, sie umso mehr von anderen Ländern abhängt, unterscheidet sich das dann von der Lage der Sowjetunion, in dem Maße wie sie sich auf die Seite des Sozialismus entwickelt?
L.Т. – Autarkie ist das Ideal Hitlers, aber nicht Marxens und Lenins. Eine sozialistische Wirtschaft kann nicht die gigantischen Vorteile der Weltarbeitsteilung ablehnen: umgekehrt, sie wird sie bis zur höchsten Entwicklung führen. Jedoch ist die Rede jetzt nicht von einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft, die bereits ein inneres Gleichgewicht erreichte, sondern von dem gegebenen, technisch und kulturell rückständigen Land, welches im Interesse der Industrialisierung und Kollektivierung gezwungen ist, so viel wie möglich auszuführen, so viel wie möglich einzuführen.
10. Ist es wahr, dass eine Revolution nur auf nationalem Boden keimt, dass sie nicht durch importiertes Geld oder Pamphlete oder Agitatoren entsteht, und dass die Kapitalisten mehr als die Kommunisten tun werden, um den Kapitalismus zu untergraben?
A. F. – Ist es wahr, dass eine „Revolution bloß auf nationalem Boden hervorgebracht wird, dass sie nicht aus gesendetem Geld oder Broschüren, oder Agitatoren erwächst, dass die Kapitalisten mehr für das Untergraben des Kapitalismus machen werden als die Kommunisten“? Stimmt es, dass „das Sowjet-, beinahe-sozialistische System … durch seine Existenz den Anstieg der Revolution in anderen Ländern anschieben wird“ und, dass „eine kräftige sozialistische Sowjetunion der effektivste Stimulus der Weltrevolution ist“?
L.Т. – Dieser Gedanke widerspricht offensichtlich dem Gedanken des ersten Punktes. Es ist unwahr, dass die bloße Existenz der Sowjetunion fähig ist den Sieg der Revolution in anderen Ländern sicherzustellen. Aber es ist ebenso unwahr, dass die Revolution nur auf nationalem Boden reift und ausgelöst wird. Wozu dann überhaupt die Kommunistische internationale?
11. Im Fall der deutschen Lage von 1923, trifft es zu, dass Stalin sagte: „Wir müssen die Deutschen zurückhalten und dürfen sie nicht ermutigen“, und fragte, was der Sowjetstaat den deutschen Kommunisten in diesem Moment geben könne? Hat Trotzki bei der gleichen Gelegenheit dem US-Senator King gesagt, dass „wir uns nicht in Bürgerkriege im Ausland einmischen; wir könnten nur eingreifen, wenn wir Krieg gegen Polen führen würden, und wir wollen keinen Krieg“? Wenn diese Aussagen wahr sind, gab es dann 1923 irgendeinen Unterschied zwischen den Ansichten Trotzkis und Stalins zur deutschen Frage, und macht es für Trotzkis Haltung nicht einen gewaltigen Unterschied, dass er damals Kriegskommissar war und heute ein Freischaffender ist?
L.Т. – Ein unverständliches Missverständnis! Stalin hielt im Herbst des Jahres 1923 die deutsche Kommunistische Partei von einer offensiven Strategie zurück. Ich bin, umgekehrt, in Reden, Artikeln und in Beratungen der Komintern für die Zeitgemäßheit eines mutigen revolutionären Angriffs eingetreten. Sowohl Stalin als auch ich „griffen“ auf solche Weise in die deutschen Angelegenheiten „ein“, aber unsere Einmischung ging in geradewegs gegensätzliche Richtungen. Aber meine Worte an King? In der Antworten auf die Frage des amerikanischen Senators, unterstrich ich, dass wir als Regierung, selbstverständlich, nicht in einen Bürgerkrieg in Deutschland eingreifen.
Ich meinte damals und meine jetzt, dass man die Komintern mit der Sowjetregierung nicht identifizieren darf, wie man, zum Beispiel, Tammany Hall nicht mit dem New Yorker Stadtrat identifizieren darf. Zur Frage meiner strategischen Differenzen mit Stalin im Jahre 1923 hat meine Antwort auf Senator King nicht die geringste Beziehung.
Der Versuch die „verantwortliche“ Erklärung eines Mitglieds der Regierung der verantwortungslosen Erklärung eines Schriftstellers gegenüberzustellen, ist Philistertum. Die Beschäftigung mit Arbeiterzirkeln von zehn Menschen halte ich für eine ebenso verantwortliche Sache wie die Führung einer revolutionären Armee von 5.300.000 Seelen.
12. Drängt Trotzki auf einen Block zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten in Deutschland, um den Faschismus zu bekämpfen?
L.Т. – In der sogenannten Politik der Einheitsfront „Menschewismus“ sehen kann man nur, wenn man nicht das Alphabet der Frage kennt. Im Jahre 1905 und im Jahre 1917 bauten die Bolschewiki zusammen mit Menschewiki und SRlern – und in der gleichen Zeit im Kampf gegen sie – die Sowjets auf. Ende August des Jahres 1917 schlossen wir mit Menschewiki und SRlern Vereinbarungen gegen Kornilow: Die Sache ging um die Einheit der Kampfhandlungen in streng bestimmten Grenzen, für streng bestimmte Ziele, bei voller politischer Unabhängigkeit jedes der zeitweiligen Alliierten. Diese Taktik, die ich zusammen mit Lenin auf dem III. und IV. Kongress der Komintern durchführte und welche in entsprechenden Resolutionen festgelegt wurde, bleibt, nach meinem Überzeugung, auch heute verbindlich.
13. Trifft es zu, dass die Theorie der Permanenten Revolution, auf deren Grundlage Trotzki seit 1924 gegen Stalin kämpft, in einer Zeit der geistigen Depression der Bolschewisten entstanden ist, die durch das Gefühl des Scheiterns im In- und Ausland aufgrund der Neuen Ökonomischen Politik, der geringen Fortschritte auf dem Weg zum Sozialismus und der Pattsituation oder des bewaffneten Waffenstillstands zwischen der kommunistischen und der kapitalistischen Welt verursacht wurde? Oder stellt diese Theorie eine konsequente politische Linie seit 1903 dar?
A. F. – Stimmt es, dass die Theorie der permanenten Revolution, das heißt, jene Plattform auf Basis welcher Sie beginnend mit dem Jahre 1924 mit Stalin kämpften, „geschaffen wurde in einer Periode der geistigen Niedergeschlagenheit der Bolschewiki“, deren Ursache eine „Serie von Niederlagen, innere und äußere“ war, oder drückt hingegen diese Theorie eine kohärente Linie aus, die Ihre ganze „literarische Arbeit und politischen Handlungen nach dem Jahre 1903 betrifft“? Hr. Fischer gibt beide Erklärungen.
L.Т. – Die Theorie der permanenten Revolution – als Gegenstück zur Theorie des Sozialismus in einem einzelnen Lande – anerkannte die ganze bolschewistische Partei in den Jahren 1917-23. Erst die Niederlage des Proletariats in Deutschland im Jahre 1923 diente als entscheidender Anstoß für die Schaffung der Stalinschen Theorie des nationalen Sozialismus. Die Theorie der permanenten Revolution, erstmals formuliert von mir im Jahre 1905, war ganz und gar nicht verbunden mit bestimmten Fristen revolutionärer Ereignisse: sie zeigte bloß die Weltbedingtheit des revolutionären Prozesses auf.
14. Wie vereinbart Trotzki seine Kritik an der Sowjetunion in der kapitalistischen Presse mit seinem Anspruch, ein Revolutionär zu sein? Wendet er die denkende Jugend von Russland ab, bietet er den Feinden des Sowjetregimes die bestmöglichen Argumente und Material und gibt er Ex-Radikalen und Beinahe-Kommunisten einen Vorwand, Moskau zu verleumden und sich der Teilnahme an der revolutionären Aktion zu enthalten?
A. F. – Wie vereinen Sie Ihre Kritik an der Sowjetunion in der bürgerlichen Presse mit ihren revolutionären Sympathien? Ist es nicht wahr, dass Sie „die intelligente Jugend von Russland wegführen“, „die Feinde des Sowjetregimes mit ihren wirkungsvollsten Argumenten und Beweisgründen versorgen“ und „Ex-Radikalen und Halb-Kommunisten eine Rechtfertigung für ihre Verleumdung Moskaus und ihren Rückzug von der Beteiligung an revolutionären Aktionen“ geben?
L.Т. – Der Sowjetstaat benötigt weder Illusionen noch Schönfärberei. Er kann bloß jene Weltautorität haben, welche durch Fakten bekräftigt wird. Je klarer und tiefer die öffentliche Meinung der Welt, zuallererst die Meinung der werktätigen Massen, die Widersprüche und Schwierigkeiten der sozialistischen Entwicklung des isolierten Landes verstehen wird, umso höher wird es die erlangten Resultate schätzen. Je weniger es die grundlegenden Methoden des Sozialismus mit den Zickzacks und Fehlern der Sowjetbürokratie identifiziert, umso geringer ist die Gefahr, dass bei unausbleiblich entdeckten Fehler auch ihre Auswirkungen auf die Autorität nicht nur der gegebenen regierenden Gruppe, sondern auch auf den Arbeiterstaat als Ganzes fallen werden.
Die Sowjetunion braucht intelligente und kritische Freunde, d.h. solche, welche nicht nur fähig sind in Perioden des Erfolgs Hymnen zu singen, sondern auch in Stunden der Misserfolge und Gefahren nicht zurückschrecken. Journalisten vom Typ Fischer leisten eine progressive Arbeit, verteidigen die Sowjetunion gegen Verleumdung, boshafte Erfindungen und Vorurteile. aber diese Herren gehen über die Grenzen ihrer Mission hinaus, wenn sie versuchen uns Unterrichtsstunden in Treue zum Sowjetstaat zu erteilen. Wenn sich Revolutionäre so achtungsvoll vor dem beugten, was bereits geschaffen, erobert und vorhanden ist, gäbe es auf der Welt keine Revolutionen. Wenn wir uns fürchteten, über Gefahren zu reden, hätten wir niemals über sie den Sieg errungen. Wenn wir die Augen vor den dunklen Seiten des von uns geschaffenen Arbeiterstaats schlössen, würden wir niemals im Sozialismus eintreffen.
L. Trotzki
Prinkipo, 30 September 1932
Jetzt will ich eine Frage im eigenen Namen stellen. Wenn wir akzeptieren, dass die Politik Stalins rein empirischen Charakter hat, von den Bedingungen des Moments bestimmt wird und nicht fähig ist, weit vorwärts zu schauen, wie können wir dann den Sieg der Fraktion Stalins über die linke Opposition erklären?
Weiter oben unterstrich ich die Wichtigkeit der revolutionären Strategie. Hier muss ich zur entscheidenden Bedeutung der objektiven Bedingungen zurückkehren. Ohne richtige Strategie ist der Sieg undenkbar. Aber die richtigste Strategie kann bei ungünstigen objektiven Umständen den Sieg nicht geben.
Die Revolution hat ihre Gesetzmäßigkeit. in der Periode des Höhepunkts stellt sie die fortschrittlichsten, entschlossensten und weitsichtigen Schichten der revolutionären Klasse auf den vordersten Posten. Im Proletariat gibt es jedoch nicht nur die Vorhut, sondern auch die Nachhut. Außer dem Proletariat sind Bauernschaft und Bürokratie vorhanden. Keine Revolution hat jemals unmittelbar alles das erreicht, was die Massen von ihr erwarteten. Hieraus folgt die Unausbleiblichkeit einer bestimmten Enttäuschung, des Rückgangs der Aktivität der Vorhut, und, folglich, des Anstieg der Bedeutung der Nachhut. Die Stalinsche Fraktion erhob sich auf der Welle der Reaktion gegen den Oktoberumsturz.
Sehen Sie sich um in der Geschichte anderer Länder. Jene, welche die Revolution in der Periode ihres Höhepunktes leiteten, behielten niemals ihre Positionen im Verlauf einer langen Zeit nach dem Umsturz. In Frankreich kamen die Führer des Jakobinismus auf dem Schafott um. Bei uns wurde der Wechsel der Führung mit Hilfe von Verhaftung und Verbannung erlangt. Die Technik des Verfahrens ist „weicher“, der Kern ist der gleiche.
1. Oktober 1932
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