Leo Trotzki: Ein organisatorischer Waffenstillstand? Nicht um jeden Preis

[22. September 1934, eigene Übersetzung des französischen Textes in Œuvres, Vol 4, S, 218 ff., verglichen mit der englischen Übersetzung]

Werte Genossen!

Ich habe soeben eine Kopie des vom Genosse Vereeken am 14. September an das IS gerichteten Briefs erhalten, eines Briefs, dessen Inhalt und Ton ich nur sehr bedauern kann.

1 – Genosse Vereeken findet, dass die Jeunesses françaises den Sinn seiner Erklärung vom 3. September falsch interpretiert haben. Anstatt sich darauf zu beschränken, die richtige Interpretation zu geben, spricht Genosse Vereeken von „offensichtlicher Verfälschung“ und „schändlicher Ausschlachtung“. Das ist nicht richtig. Die Erklärung vom 3. September lässt Missverständnisse zu. Ich selbst habe Genosse Vereeken drei- oder viermal auf die Nachteile des Satzes aufmerksam gemacht: „auf der politischen Grundlage, dass diese Wende nur in Frankreich gelten wird“. Genosse Vereeken hielt es für richtig, diese zumindest unglückliche Formulierung beizubehalten, und wenn die Jeunesses françaises seine Gedanken falsch interpretiert haben, so liegt zumindest ein Teil der Verantwortung bei ihm. Es sollte jedenfalls keinen Anlass geben, so schwere Anschuldigungen, vor allem von einem Mitglied des Plenums, gegen die Jugend einer unserer Sektionen zu erheben.

Ich für meinen Teil habe immer den würdevollen Ton der Diskussionen unserer belgischen Genossen über Grundsatz- und Politikfragen unterstrichen. Ich sah darin den äußeren Ausdruck ihres revolutionären Verantwortungsbewusstseins. Ich bedauere, feststellen zu müssen, dass Genosse Vereeken dieses Mal von der „belgischen“ Tradition, die die proletarische Regel ist, abgewichen ist. Hoffen wir, dass es das letzte Mal war.

2 – Ich kann mich nicht zu den Einzelheiten der Gespräche über die Einberufung des Plenums äußern. Ich muss jedoch sagen, dass die Darstellung des Genossen Vereeken mir in keiner Weise Manöver, Intrigen usw. aufzuzeigen scheint. Alles, was man sieht, ist, dass man zögerte, dem Genossen Vereeken nachzugeben und ein Plenum einzuberufen, das keine positiven Ergebnisse versprach, oder angesichts der Lage die Einberufung zu vertagen. Genosse Vereeken schloss diesen Teil seiner Ausführungen unerwartet mit den Worten: „Die Einberufung des Plenums, bei dem die Stimmen geteilt waren, hätte im Übrigen nichts am Willen der Mehrheit des IS geändert“. Das bedeutet, dass die Einberufung des Plenums zu keinem positiven Ergebnis geführt hätte. Das bedeutet, dass das Zögern und die Diskussionen über die Einberufung des Plenums auf Gründe zurückzuführen sind, die der Situation selbst innewohnen, und nicht auf Manöver oder Intrigen. Es ist erneut zu bedauern, dass Genosse Vereeken sich beim Schreiben dieses Briefes von Gefühlen hat mitreißen lassen, die nur vorübergehend sein können.

3 – Genosse Vereeken unterstützt „den Vorwurf des niederländischen Delegierten an Genossen Vidal, dass er seinen Vorschlag an die französische Sektion geschickt hat, anstatt ihn zuerst an die verantwortlichen Mitglieder der internationalen Leitung zu schicken“. Ich bedaure, diesen Vorwurf nicht akzeptieren zu können, der mir eher auf ein einfaches Missverständnis zurückzuführen zu sein scheint. Seit dem Ausschluss der Neos in Frankreich zog ich theoretisch die Möglichkeit in Betracht, dass die Liga der SFIO beitreten könnte, aber es bedurfte zusätzlicher Faktoren, um diese Möglichkeit zu einer Notwendigkeit werden zu lassen. Mir wurde klar, dass die Zeit dafür nach den Erfahrungen mit der Einheitsfront gekommen war.

Dabei handelte es sich jedoch nur um meine eigene Meinung über die französische Lage. Wie hätte ich der internationalen Leitung über deren Kopf hinweg einen Vorschlag bezüglich der französischen Sektion1 machen können? Das wäre nicht nur der französischen Leitung illoyal erschienen, sondern es war für mich absolut notwendig, um mich von der Richtigkeit meiner Einschätzung zu überzeugen, sie mit den Ideen und der Kritik der am besten informierten und am meisten betroffenen Genossen zu vergleichen. Stellen Sie sich vor, ich würde irgendeinen wichtigen Vorschlag, der die belgische Sektion betrifft, direkt an die internationale Leitung richten und ohne die belgische Sektion zu konsultieren. Ich schrieb meinen ersten Brief an das ZK der Französischen Liga, um es um seine Meinung zu bitten. Wenn ich auf der Kürze der Frist bestand, dann nur, um die Dringlichkeit der Angelegenheit zu demonstrieren.2 Danach führte ich persönliche Gespräche, die einige Zeit in Anspruch nahmen, und ich gab meinem Brief keine Öffentlichkeit, bevor ich nicht versucht hatte, meine Sicht zu erklären und, wenn möglich, eine Einigung mit der Leitung der französischen Sektion zu erzielen. Eine Einigung kam nicht zustande, aber die Gespräche überzeugten mich davon, dass der Eintritt in die SFIO absolut notwendig war. Zu diesem Zeitpunkt entschied ich mich, die Frage formell auf internationaler Ebene3 zu stellen. Hinzu kamen noch die materiellen Schwierigkeiten für Gespräche, Korrespondenz etc.

Abschließend kann ich nur wiederholen, dass ich, wenn ich morgen irgendeinen Vorschlag oder sogar eine Anregung bezüglich der Beziehungen zwischen der RSP und der OSP oder der NAS-Frage machen müsste, mich zuerst an die RSP-Führung wenden würde, die am kompetentesten und am meisten interessiert ist, bevor ich mich dazu entschließe, die Frage formell vor der internationalen Organisation zu stellen.

4 – Es ist richtig, dass ich gegenüber Genosse Vereeken auf die Notwendigkeit eines „organisatorischen Waffenstillstands“ bestanden habe, nicht nur im Interesse der französischen, sondern auch der belgischen Sektion.

„Nachdem Sie Ihre Verantwortung freigegeben haben“, sagte ich zu Genosse Vereeken, „geben Sie den französischen Genossen die Möglichkeit, ihre Erfahrungen zu machen, unter Ihrer internationalen Kontrolle.“ In seiner Erklärung vom 3. September akzeptierte Genosse Vereeken, die Liga zu ermächtigen, in eigener Verantwortung „den Beschluss ihrer letzten nationalen Konferenz umzusetzen“. Diese Formulierung, die von Genosse Vereeken nach ausführlichen Diskussionen und Erklärungen von Genosse Vereeken mit verschiedenen Genossen der Liga gegeben wurde, ist aufgrund ihrer Präzision besonders wichtig: Genosse Vereeken spricht von unserer französischen Sektion, von der Liga, die diesen letzten Weg gemäß dem „Beschluss ihrer letzten nationalen Konferenz“ eingeschlagen hat. Ich bin4 daher absolut verblüfft über diesen Vorschlag, die „zwei französischen Gruppen“ als zwei Sektionen der IKL anzuerkennen. Wenn man die verbundenen5 Stimmen der Erwachsenen und Jugend berücksichtigt, ist das Verhältnis zwischen der Mehrheit und der Minderheit ⅔ zu ⅓. Die Mehrheit setzte die Beschlüsse ihrer Nationalkonferenz um, wie sie vom IS dazu ermächtigt wurde, einschließlich der beratenden Stimmen von Sneevliet und Vereeken. Die Minderheit hingegen war völlig dagegen, und das war kein Zufall. Ihre Ideen waren rein negativ, konservativ und routinemäßig. Schlimmer noch, Pierre Naville hielt es für angebracht, die nationale Konferenz der Liga in der bürgerlichen Presse zu desavouieren, indem er im Namen eines nicht existierenden ZK sprach. In meinem Gespräch mit Genosse Vereeken unterstrich ich, dass jeder Versuch, die Minderheit und die Mehrheit gleichzustellen, nicht „organisatorischen Waffenstillstand“, sondern Kampf bis zum Äußersten bedeuten würde, mit der Gefahr, dass er auf diese Weise in andere Sektionen exportiert werden könnte. Ich erklärte den Genossen Sneevliet und Vereeken, dass, wenn die Minderheit auch nur ein wenig Vitalität und gleichzeitig ihren ehrlichen Willen, im Rahmen unserer internationalen Organisation zu bleiben, unter Beweis stelle, ihre Mitgliedschaft in der IKL als sympathisierende Gruppe in Betracht gezogen werden könne. Die Haltung Pierre Navilles schränkt diese Möglichkeit, über die das Plenum zu entscheiden haben wird, erheblich ein. Was jedoch ausgeschlossen ist, ist, die Disziplinlosigkeit und das fehlende Verantwortungsbewusstsein einer heterogenen und perspektivlosen Minderheit zu sanktionieren, indem man ihr das Recht einräumt, die Arbeit und die Erfahrung unserer französischen Sektion zu sabotieren. In diesem Punkt kann man keinen „organisatorischen Waffenstillstand“ haben.

6Vidal [Leo Trotzki]

1Im französischen Text „Situation”, was mir aber weniger naheliegend erscheint

2Im englischen Text sind die beiden Sätze zusammengezogen zu: „Ich schrieb meinen ersten Brief an das Zentralkomitee der französischen Liga, um die Dringlichkeit der Lage anzuzeigen.“

3Im englischen Text ist eingefügt: „ebenso wie auf nationaler Ebene“

4Im englischen Text: „er ist“

5Im französischen Text „annullierten“, was aber wenig Sinn ergibt.

6Im französischen Text fehlt die Unterschrift


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert