[Diskussion, 28. Februar 1933, eigene Übersetzung des englischen Textes. Selbstverständlich würden wir heute das N-Wort oder das Wort „Rasse“ nicht verwendet, aber offenbar war es von den Beteiligten nicht abwertend gemeint ]
Prinkipo, Türkei, 28. Februar 1933
Swabeck: Wir haben in dieser Frage innerhalb der amerikanischen Liga keine nennenswerten Differenzen, wir haben jedoch auch kein Programm formuliert. Ich gebe daher nur die Ansichten wieder, die wir im Allgemeinen entwickelt haben.
Wie müssen wir die Stellung des amerikanischen Negers betrachten: Als eine nationale Minderheit oder als eine rassische Minderheit? Dies ist für unser Programm von größter Bedeutung.
Die Stalinisten halten als Hauptlosung das „Selbstbestimmungsrecht für die Neger“ aufrecht und fordern im Zusammenhang damit einen eigenen Staat und staatliche Rechte für die Neger im schwarzen Gürtel. Die praktische Umsetzung der letzteren Forderung hat viel Opportunismus offenbart. Andererseits erkenne ich an, dass die Partei in der praktischen Arbeit unter den Negern trotz der zahlreichen Fehler auch einige Erfolge verzeichnen kann. Zum Beispiel bei den Textilstreiks im Süden, wo in großem Umfang die Hautfarbenlinien durchbrochen wurden.
Weisbord ist, soweit ich weiß, mit der Losung der „Selbstbestimmung“ und der gesonderten staatlichen Rechte einverstanden. Er behauptet, das sei die Anwendung der Theorie der permanenten Revolution für Amerika.
Wir gehen von der tatsächlichen Situation aus: Es gibt etwa 13 Millionen Neger in Amerika; die Mehrheit befindet sich in den Südstaaten (black belt). In den Nordstaaten sind die Neger in den Industriegemeinden als Industriearbeiter konzentriert, im Süden sind sie hauptsächlich Farmer und Teilpächter.
Trotzki: Pachten sie vom Staat oder von privaten Eigentümern?
Swabeck: Von privaten Eigentümern, von weißen Farmern und Plantagenbesitzern; einigen Negern gehört das Land, das sie bestellen.
Die Negerbevölkerung des Nordens wird auf einem niedrigeren Niveau gehalten – wirtschaftlich, sozial und kulturell; im Süden unter unterdrückenden Jim-Crow-Bedingungen. Sie sind von vielen wichtigen Gewerkschaften ausgeschlossen. Während und seit dem Krieg hat die Abwanderung aus dem Süden zugenommen; vielleicht vier bis fünf Millionen Neger leben jetzt im Norden. Die Negerbevölkerung im Norden ist überwiegend proletarisch, aber auch im Süden schreitet die Proletarisierung voran.
Heute hat keiner der Südstaaten eine Neger-Mehrheit. Dies unterstreicht die starke Abwanderung in den Norden. Wir stellen also die Frage: Sind die Neger in einem politischen Sinne eine nationale Minderheit oder eine rassische Minderheit? Die Neger haben sich vollständig assimiliert, amerikanisiert, und ihr Leben in Amerika hat die Traditionen der Vergangenheit überlagert, sie modifiziert und verändert. Wir können die Neger nicht als nationale Minderheit in dem Sinne betrachten, dass sie eine eigene Sprache haben. Sie haben keine besonderen nationalen Bräuche, keine besondere nationale Kultur oder Religion, und sie haben auch keine besonderen nationalen Minderheiteninteressen. Es ist unmöglich, von ihnen als einer nationalen Minderheit in diesem Sinne zu sprechen. Wir sind daher der Meinung, dass die amerikanischen Neger eine rassische Minderheit sind, deren Stellung und Interessen den Klassenverhältnissen des Landes untergeordnet und von diesen abhängig sind.
Für uns stellen die Neger einen wichtigen, ja fast einen entscheidenden Faktor im Klassenkampf dar. Sie sind ein wichtiger Teil des Proletariats. Es gibt auch ein Neger-Kleinbürgertum in Amerika, aber es ist nicht so mächtig oder so einflussreich und spielt nicht die Rolle des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie unter den national unterdrückten Menschen (kolonial).
Die stalinistische Losung „Selbstbestimmung“ beruht hauptsächlich auf einer Einschätzung der amerikanischen Neger als nationale Minderheit, die als Verbündete gewonnen werden soll. Für uns stellt sich die Frage: Wollen wir die Neger auf einer solchen Grundlage als Verbündete gewinnen und wen wollen wir gewinnen, das Negerproletariat oder das Negerkleinbürgertum? Uns scheint, dass wir mit dieser Losung vor allem das Kleinbürgertum gewinnen werden und wir können kein großes Interesse daran haben, sie auf einer solchen Grundlage als Verbündete zu gewinnen? Wir erkennen an, dass die armen Bauern und Teilpächter die engsten Verbündeten des Proletariats sind, aber wir sind der Meinung, dass sie als solche hauptsächlich auf der Grundlage des Klassenkampfes gewonnen werden können. Ein Kompromiss in dieser prinzipiellen Frage würde die kleinbürgerlichen Verbündeten über das Proletariat und auch über die armen Bauern stellen. Wir erkennen das Bestehen von bestimmten Entwicklungsstufen an, die bestimmte Losungen erfordern. Aber die stalinistische Losung scheint uns direkt zur „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ zu führen. Die Einheit der Arbeiter, schwarz und weiß, müssen wir von einer Klassenbasis aus vorbereiten, aber dabei ist es notwendig, auch die Rassenfragen zu erkennen und neben den Klassenlosungen auch die Rassenlosungen voranzutreiben. Wir sind der Meinung, dass in dieser Hinsicht die Hauptlosung „soziale, politische und wirtschaftliche Gleichheit für die Neger“ sein sollte, sowie die sich daraus ergebenden Losungen. Diese Losung ist natürlich sehr verschieden von der stalinistischen Losung der „Selbstbestimmung“ einer nationalen Minderheit. Die Parteiführer behaupten, dass die Negerarbeiter und -bauern nur auf der Grundlage dieser Losung gewonnen werden können. Anfangs wurde sie für die Neger im ganzen Land propagiert, heute aber nur noch für die Südstaaten. Wir sind der Meinung, dass wir die Negerarbeiter nur auf einer Klassenbasis gewinnen können, indem wir auch die rassischen Losungen für die notwendigen Zwischenstufen der Entwicklung vorantreiben. Auf diese Weise glauben wir, dass auch die armen Negerbauern am besten als direkte Verbündete gewonnen werden können.
Im Wesentlichen ist das Problem der Losungen in der Negerfrage das Problem eines praktischen Programms.
Trotzki: Die Sichtweise der amerikanischen Genossen scheint mir nicht völlig überzeugend zu sein. Die „Selbstbestimmung“ ist eine demokratische Forderung. Unsere amerikanischen Genossen stellen dieser demokratischen Forderung die liberale Forderung entgegen. Diese liberale Forderung ist im Übrigen kompliziert. Ich verstehe, was „politische Gleichheit“ bedeutet. Aber was bedeutet die wirtschaftliche und soziale Gleichheit in der kapitalistischen Gesellschaft? Bedeutet das eine Forderung an die öffentliche Meinung, dass alle den gleichen Schutz durch die Gesetze genießen? Aber das ist politische Gleichheit. Die Losung „politische, wirtschaftliche und soziale Gleichheit“ klingt zweideutig, und obwohl sie für mich nicht klar ist, bietet sie sich doch leicht für eine Fehlinterpretation an.
Die Neger sind eine Rasse und keine Nation: Nationen wachsen unter bestimmten Bedingungen aus dem rassischen Material heraus. Die Neger in Afrika sind noch keine Nation, aber sie sind im Begriff, eine Nation aufzubauen. Die amerikanischen Neger befinden sich auf einer höheren kulturellen Stufe. Aber während sie dort unter dem Druck der Amerikaner sind, interessieren sie sich für die Entwicklung der Neger in Afrika. Der amerikanische Neger wird Führer für Afrika entwickeln, das kann man mit Sicherheit sagen, und das wiederum wird die Entwicklung des politischen Bewusstseins in Amerika beeinflussen.
Wir verpflichten die Neger natürlich nicht, eine Nation zu werden; wenn sie es sind, dann ist das eine Frage ihres Bewusstseins, das heißt, was sie wünschen und wonach sie streben. Wir sagen: Wenn die Neger das wollen, dann müssen wir den Imperialismus bis zum letzten Blutstropfen bekämpfen, damit sie das Recht bekommen, wo und wie sie wollen, ein Stück Land für sich abzutrennen. Die Tatsache, dass sie heute in keinem Bundesstaat die Mehrheit bilden, spielt keine Rolle. Es geht nicht um die Autorität der Bundesstaaten, sondern um die der Neger. Dass es in dem überwiegend von Negern bewohnten Gebiet auch Weiße gegeben hat und auch in Zukunft geben wird, ist nicht die Frage, und wir brauchen uns heute nicht den Kopf über die Möglichkeit zu zerbrechen, dass die Weißen irgendwann von den Negern unterdrückt werden. Auf jeden Fall treibt die Unterdrückung der Neger sie zu einer politischen und nationalen Einheit.
Dass die Losung „Selbstbestimmung“ eher das Kleinbürgertum als die Arbeiter gewinnen wird – dieses Argument gilt auch für die Losung der Gleichheit. Es ist klar, dass die speziellen Neger-Elemente, die mehr in der Öffentlichkeit stehen (Geschäftsleute, Intellektuelle, Anwälte usw.), aktiver sind und aktiver gegen die Ungleichheit reagieren. Man kann sagen, dass die liberale Forderung ebenso wie die demokratische in erster Linie das Kleinbürgertum und erst später die Arbeiter ansprechen wird.
Wenn die Situation so wäre, dass es in Amerika gemeinsame Aktionen zwischen den weißen und den farbigen Arbeitern gäbe, dass die Klassenverbrüderung bereits eine Tatsache geworden wäre, dann hätten die Argumente unserer Genossen vielleicht eine Grundlage – ich sage nicht, dass sie richtig wären -, dann würden wir vielleicht die farbigen Arbeiter von den weißen trennen, wenn wir mit der Losung „Selbstbestimmung“ beginnen.
Aber heute sind die weißen Arbeiter im Verhältnis zu den Negern die Unterdrücker, die Schurken, die die Schwarzen und Gelben verfolgen, sie verachten und lynchen. Wenn sich die schwarzen Arbeiter heute mit ihren eigenen Kleinbürgern verbünden, dann deshalb, weil sie noch nicht genügend entwickelt sind, um ihre elementaren Rechte zu verteidigen. Für die Arbeiter in den Südstaaten würde die liberale Forderung nach „sozialer, politischer und wirtschaftlicher Gleichheit“ zweifellos einen Fortschritt bedeuten, die Forderung nach „Selbstbestimmung“ aber einen noch größeren. Mit der Losung „soziale, politische und wirtschaftliche Gleichheit“ lassen sie sich jedoch viel leichter in die Irre führen („nach dem Gesetz habt ihr diese Gleichheit“).
Wenn wir so weit sind, dass die Neger sagen, wir wollen Autonomie, dann nehmen sie eine feindliche Haltung gegenüber dem amerikanischen Imperialismus ein. In diesem Stadium werden die Arbeiter schon viel entschlossener sein als das Kleinbürgertum. Die Arbeiter werden dann sehen, dass die Kleinbourgeoisie unfähig zum Kampf ist und nichts erreicht, aber sie werden gleichzeitig erkennen, dass die weißen kommunistischen Arbeiter für ihre Forderungen kämpfen, und das wird sie, die Negerproletarier, zum Kommunismus treiben.
Weisbord hat in gewissem Sinne recht, dass die „Selbstbestimmung“ der Neger zur Frage der permanenten Revolution in Amerika gehört. Die Neger werden durch ihr Erwachen, durch ihre Forderung nach Autonomie und durch die demokratische Mobilisierung ihrer Kräfte auf die Klassenbasis gedrängt werden. Das Kleinbürgertum wird die Forderung nach „sozialer, politischer und wirtschaftlicher Gleichheit“ und nach „Selbstbestimmung“ aufgreifen, sich aber im Kampf als absolut unfähig erweisen; das Negerproletariat wird dem Kleinbürgertum den Weg zur proletarischen Revolution bahnen. Das ist für sie vielleicht der wichtigste Weg. Ich kann daher keinen Grund sehen, warum wir die Forderung nach „Selbstbestimmung“ nicht vorantreiben sollten.
Ich bin mir nicht sicher, ob die Neger nicht auch in den Südstaaten ihre eigene Negersprache sprechen. Jetzt, wo sie gelyncht werden, nur weil sie Neger sind, haben sie natürlich Angst, ihre Negersprache zu sprechen; aber wenn sie befreit sind, wird ihre Negersprache wieder lebendig werden. Ich werde den amerikanischen Genossen raten, diese Frage sehr ernsthaft zu studieren, auch die Sprache in den Südstaaten. Wegen dieser ganzen Mason-Dixie-Linie würde ich in dieser Frage eher dem Standpunkt der Partei zuneigen; natürlich mit der Bemerkung: Ich habe diese Frage nie studiert und gehe in meinen Ausführungen von den allgemeinen Überlegungen aus. Ich stütze mich nur auf die von den amerikanischen Genossen vorgebrachten Argumente. Ich halte sie für unzureichend und betrachte sie als ein gewisses Zugeständnis an den Standpunkt des amerikanischen Chauvinismus, der mir gefährlich zu sein scheint.
Was können wir in dieser Frage verlieren, wenn wir unsere Forderungen durchsetzen, und was haben die Neger heute zu verlieren? Wir zwingen sie nicht, sich von den Vereinigten Staaten zu trennen, aber sie haben das volle Recht auf Selbstbestimmung, wenn sie es wünschen, und wir werden sie bei der Eroberung dieses Rechts mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen und verteidigen, so wie wir alle unterdrückten Völker verteidigen.
Swabeck: Ich gebe zu, dass Sie starke Argumente vorgebracht haben, aber ich bin noch nicht ganz überzeugt. Die Existenz einer speziellen Negersprache in den Südstaaten ist möglich, aber im Allgemeinen sprechen alle amerikanischen Neger Englisch. Sie sind vollständig assimiliert. Ihre Religion ist die der amerikanischen Baptisten, und die Sprache in ihren Kirchen ist ebenfalls Englisch.
Wirtschaftliche Gleichheit verstehen wir überhaupt nicht im Sinne des Gesetzes. Im Norden (wie natürlich auch in den Südstaaten) sind die Löhne für Neger immer niedriger als für weiße Arbeiter und meist sind ihre Arbeitszeiten länger, das wird sozusagen als natürliche Grundlage akzeptiert. Darüber hinaus werden den Negern die unangenehmsten Arbeiten zugeteilt. Wegen dieser Bedingungen fordern wir die wirtschaftliche Gleichstellung der schwarzen Arbeiter.
Wir bestreiten nicht das Recht der Neger auf Selbstbestimmung. Das ist nicht der Punkt unserer Meinungsverschiedenheit mit den Stalinisten. Aber wir bestreiten die Richtigkeit der Losung der „Selbstbestimmung“ als Mittel zur Gewinnung der Neger-Massen. Der Impuls der Negerbevölkerung geht in erster Linie in Richtung Gleichheit im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Sinne. Gegenwärtig propagiert die Partei die Losung der „Selbstbestimmung“ nur für die Südstaaten. Natürlich kann man kaum erwarten, dass die Neger aus den nördlichen Industrien in den Süden zurückkehren wollen, und es gibt keine Anzeichen für einen solchen Wunsch. Im Gegenteil. Ihre unformulierte Forderung ist die nach „sozialer, politischer und wirtschaftlicher Gleichheit“ auf der Grundlage der Bedingungen, unter denen sie leben. Das ist auch im Süden der Fall. Deshalb glauben wir, dass dies die wichtigste Rassenlosung ist. Wir betrachten die Neger nicht als unter nationaler Unterdrückung stehend im gleichen Sinne wie die unterdrückten Kolonialvölker. Wir sind der Meinung, dass die Losung der Stalinisten dazu tendiert, die Neger von der Klassenbasis weg und mehr in Richtung der Rassenbasis zu führen. Das ist der Hauptgrund für unsere Ablehnung. Wir sind der Meinung, dass die Rassenlosung in dem Sinne, wie sie von uns vertreten wird, direkt zur Klassenbasis führt.
Frank: Gibt es spezielle Negerbewegungen in Amerika?
Swabeck: Ja, mehrere. Zuerst hatten wir die Garvey-Bewegung, die auf dem Ziel der Migration nach Afrika basierte. Sie hatte eine große Anhängerschaft, ist aber als Schwindel aufgeflogen. Jetzt ist von ihr nicht mehr viel übrig. Ihre Losung war die Schaffung einer Negerrepublik in Afrika. Andere Negerbewegungen stützen sich im Wesentlichen auf die Forderungen nach sozialer und politischer Gleichheit, wie zum Beispiel die League [National Association] for Advancement of Colored People. Dies ist eine große Rassenbewegung.
Trotzki: Ich glaube, dass auch die Forderung nach „sozialer, politischer und wirtschaftlicher Gleichheit“ bestehen bleiben sollte, und ich spreche mich nicht gegen diese Forderung aus. Sie ist in dem Ausmaß fortschrittlich, indem sie nicht verwirklicht ist. Die Erklärung des Genossen Swabeck zur Frage der wirtschaftlichen Gleichheit ist sehr wichtig. Aber das allein entscheidet noch nicht die Frage des Negerschicksals als solches, die Frage der „Nation“ usw. Nach der Argumentation der amerikanischen Genossen könnte man zum Beispiel sagen, dass auch Belgien kein Recht als „Nation“ hat. Die Belgier sind katholisch und ein großer Teil von ihnen spricht Französisch. Was wäre, wenn Frankreich sie mit einem solchen Argument annektieren würde? Auch die Schweizer fühlen sich durch ihre historische Verbundenheit, trotz unterschiedlicher Sprachen und Religion, als eine Nation. Ein abstraktes Kriterium ist in dieser Frage nicht ausschlaggebend, sondern viel entscheidender ist das historische Bewusstsein, ihre Gefühle und ihre Impulse. Aber auch das ist nicht zufällig bestimmt, sondern durch die allgemeinen Bedingungen. Die Frage der Religion hat mit dieser Frage der Nation überhaupt nichts zu tun. Die Taufe des Negers ist etwas ganz anderes als die Taufe von Rockefeller: Es handelt sich um zwei verschiedene Religionen.
Das politische Argument, das die Forderung nach „Selbstbestimmung“ zurückweist, ist Doktrinarismus. Das haben wir in Russland in der Frage der „Selbstbestimmung“ immer gehört. Die russischen Erfahrungen haben uns gezeigt, dass die Gruppen, die auf bäuerlicher Basis leben, ihre Eigenheiten, ihre Bräuche, ihre Sprache usw. beibehalten, und wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, entwickeln sie sich weiter.
Die Neger sind noch nicht erwacht und sie sind noch nicht mit den weißen Arbeitern vereinigt. 99,9 Prozent der amerikanischen Arbeiter sind Chauvinisten, gegenüber den Negern sind sie Henker, und sie sind es auch gegenüber den Chinesen. Es ist notwendig, die amerikanischen Bestien zu belehren. Es ist notwendig, ihnen klarzumachen, dass der amerikanische Staat nicht ihr Staat ist und dass sie nicht die Hüter dieses Staates zu sein brauchen. Die amerikanischen Arbeiter, die sagen: „Die Neger sollen sich trennen, wenn sie es wünschen, und wir werden sie gegen unsere amerikanische Polizei verteidigen“ – das sind Revolutionäre, in sie habe ich Vertrauen.
Das Argument, die Losung der „Selbstbestimmung“ führe weg von der Klassenbasis, ist eine Anpassung an die Ideologie der weißen Arbeiter. Der Neger kann nur dann zu einem Klassenstandpunkt entwickelt werden, wenn der weiße Arbeiter erzogen wird. Im Großen und Ganzen ist die Frage der Kolonialvölker in erster Linie eine Frage der Entwicklung des Metropolen-Arbeiters.
Der amerikanische Arbeiter ist unbeschreiblich reaktionär. Es zeigt sich heute, dass er noch nicht einmal für die Idee der Sozialversicherung gewonnen ist. Deshalb sind die amerikanischen Kommunisten verpflichtet, Reformforderungen voranzutreiben.
Wenn die Neger heute keine Selbstbestimmung fordern, dann natürlich aus demselben Grund, aus dem die weißen Arbeiter noch nicht die Losung der proletarischen Diktatur vertreten. Der Neger hat es noch nicht in seinen armen schwarzen Kopf bekommen, dass er es wagt, sich ein Stück von den großen und mächtigen Staaten abzuschneiden. Aber der weiße Arbeiter muss den Negern auf halbem Wege entgegenkommen und ihnen sagen: Wenn ihr euch abspalten wollt, werdet ihr unsere Unterstützung haben“. Auch die tschechischen Arbeiter kamen erst durch die Enttäuschung über ihren eigenen Staat zum Kommunismus.
Ich glaube, dass durch die unerhörte politische und theoretische Rückständigkeit und den unerhörten wirtschaftlichen Fortschritt das Erwachen der Arbeiterklasse recht schnell voranschreiten wird. Die alte ideologische Hülle wird platzen, alle Fragen werden auf einmal auftauchen, und da das Land wirtschaftlich so reif ist, wird die Anpassung des politischen und theoretischen Niveaus an das wirtschaftliche sehr schnell erreicht werden. Es ist dann möglich, dass die Neger die fortgeschrittenste Sektion werden. Wir haben bereits ein ähnliches Beispiel in Russland. Die Russen waren die europäischen Neger. Es ist sehr gut möglich, dass die Neger auch durch die Selbstbestimmung in ein paar riesigen Schritten zur proletarischen Diktatur gelangen werden, noch vor dem großen Block der weißen Arbeiter. Sie werden dann die Vorhut bilden. Ich bin absolut sicher, dass sie auf jeden Fall besser kämpfen werden als die weißen Arbeiter. Das kann aber nur geschehen, wenn die kommunistische Partei einen kompromisslosen, gnadenlosen Kampf nicht gegen die vermeintlichen nationalen Vorlieben der Neger, sondern gegen die kolossalen Vorurteile der weißen Arbeiter führt und ihnen keinerlei Zugeständnisse macht.
Swabeck: Sie sind also der Meinung, dass die Losung der „Selbstbestimmung“ ein Mittel sein wird, um die Neger gegen den amerikanischen Imperialismus in Bewegung zu setzen?
Trotzki: Natürlich, dadurch, dass die Neger aus dem mächtigen Amerika ihren eigenen Staat herausarbeiten können und mit der Unterstützung der weißen Arbeiter ihr Selbstbewusstsein enorm entwickelt.
Die Reformisten und die Revisionisten haben viel darüber geschrieben, dass der Kapitalismus die Zivilisation in Afrika vorantreibt und dass die Völker Afrikas, wenn sie sich selbst überlassen werden, von den Unternehmern usw. viel mehr ausgebeutet werden als jetzt, wo sie wenigstens ein gewisses Maß an gesetzlichem Schutz haben.
Bis zu einem gewissen Grad kann dieses Argument richtig sein. Aber auch in diesem Fall geht es in erster Linie um die europäischen Arbeiter: Ohne ihre Befreiung ist auch die wirkliche koloniale Befreiung nicht möglich. Wenn der weiße Arbeiter die Rolle des Unterdrückers spielt, kann er sich selbst nicht befreien, geschweige denn die kolonialen Völker. Die Selbstbestimmung der Kolonialvölker kann in bestimmten Perioden zu unterschiedlichen Ergebnissen führen; in letzter Instanz wird sie jedoch zum Kampf gegen den Imperialismus und zur Befreiung der Kolonialvölker führen.
Auch die österreichische Sozialdemokratie (insbesondere Renner) stellte vor dem Krieg die Frage der nationalen Minderheiten abstrakt. Sie argumentierten ebenfalls, dass die Losung der „Selbstbestimmung“ die Arbeiter nur vom Klassenstandpunkt wegführen würde und dass solche Minderheitenstaaten nicht selbständig leben könnten. War diese Art, die Frage zu stellen, richtig oder falsch? Sie war abstrakt. Die österreichischen Sozialdemokraten sagten, die nationalen Minderheiten seien keine Nationen. Was sehen wir heute? Die einzelnen Teile existieren, ziemlich schlecht, aber sie existieren. Die Bolschewiki haben in Russland immer für die Selbstbestimmung der nationalen Minderheiten gekämpft, einschließlich des Rechts auf vollständige Abspaltung. Und dennoch sind diese Gruppen durch die Erlangung der Selbstbestimmung bei der Sowjetunion geblieben. Hätte die österreichische Sozialdemokratie vorher eine richtige Politik in dieser Frage betrieben, hätte sie den nationalen Minderheiten gesagt: „Ihr habt das volle Selbstbestimmungsrecht, wir haben keinerlei Interesse daran, euch in den Händen der Habsburger Monarchie zu halten“ – dann wäre es nach der Revolution möglich gewesen, eine große Donauföderation zu schaffen. Die Dialektik der Entwicklung zeigt, dass dort, wo der straffe Zentralismus bestand, der Staat in Stücke ging, und dort, wo die völlige Selbstbestimmung vorgeschlagen wurde, ein wirklicher Staat entstand und geeint blieb.
Die Negerfrage ist für Amerika von enormer Bedeutung. Die Liga muss eine ernsthafte Diskussion über diese Frage führen, vielleicht in einem internen Bulletin.
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