Leo Trotzki: Brief an die Leiter der Französischen Liga

[2. März 1934, eigene Übersetzung des französischen Textes in Œuvres 3, November 1933 – April 1934, dort unter dem Titel: „La lutte contre le fascisme“, „Der Kampf gegen den Faschismus“, verglichen mit der englischen Übersetzung in Writings of Leon Trotsky, Bd. 14, dort unter dem Titel „Ultra-left tactics in fighting the Fascists“, „Ultralinke Taktiken beim Kampf gegen die Faschisten“].

Werte Freunde!

Da ich mich in der Schweiz befinde, kann ich die Ereignisse in Frankreich nicht aus der Nähe verfolgen. Ich kann nur nach den Zeitungen und Briefen urteilen.1 Aber lassen Sie mich sagen, dass ich vor meiner Emigration in die Schweiz in Deutschland einige Erfahrungen in diesen Fragen gesammelt hatte, und die Affäre von Ménilmontant erfüllte mich mit den schlimmsten Vorahnungen. Wenn sich die Dinge auf dieser Linie weiterentwickeln, ist die Katastrophe unvermeidlich.

Worum geht es nicht nur im Augenblick, sondern für die gesamte nächste Periode? Die Arbeiter sollen in den Kampf gegen die Faschisten hineingezogen werden, bevor diese zur dominierenden Kraft im Staat geworden sind; die Arbeiter sollen daran gewöhnt werden, vor den Faschisten keine Angst zu haben; sie sollen lernen, den Faschisten Schläge zu versetzen, und davon überzeugt werden, dass sie in der Überzahl und kühner sind, usw.

In dieser Zeit muss man klar zwischen den Faschisten und dem Staat unterscheiden, der sich den Faschisten noch nicht ausliefern will, der sich als der „Schiedsrichter“ versteht. Wir wissen, was dies aus soziologischer Sicht bedeutet. Aber es geht hier nicht um Soziologie. Es geht darum, Schläge auszuteilen und einzustecken. Politisch bedeutet der vor-bonapartistische Staat, der „Schiedsrichter“-Staat, dass die Polizei zögert, zaudert, laviert, kurz gesagt, weit davon entfernt ist, sich mit den faschistischen Banden zu identifizieren. Unsere strategische Aufgabe besteht darin, das Zögern und die Ängste des „Schiedsrichters“, seiner Armee und seiner Polizei zu verstärken. Wie? Indem wir zeigen, dass wir stärker sind als die Faschisten, d.h. indem wir den Faschisten vor den Augen des „Schiedsrichters“ eine Tracht Prügel verpassen, ohne den „Schiedsrichter“ direkt einzubeziehen, solange wir nicht völlig dazu gezwungen sind. Darin liegt die ganze Weisheit.

In Ménilmontant hat man jedoch, soweit ich das von hier aus beurteilen kann, auf eine völlig gegenteilige Weise gehandelt. Die „Humanité behauptet, dass es nicht mehr als 502 Faschisten gab – in einem Viertel, das von Grund auf von Arbeitern bewohnt wird! Die taktische oder, wenn Sie so wollen, „technische“ Aufgabe war ganz einfach: jeden Faschisten oder jede einzelne Gruppe in die Zange nehmen, sie ein paar Mal mit dem Pflaster konfrontieren, sie ihrer Abzeichen und ihrer faschistischen Papiere berauben und, ohne den Konflikt zu verschärfen, sie mit ihrer Angst und ein paar guten blauen Flecken zurücklassen. Der Schiedsrichter verteidigte die Versammlungsfreiheit (im Moment verteidigt er auch Arbeiterversammlungen gegen die Faschisten). In diesem Fall war es absolut dumm, einen bewaffneten Konflikt mit der Polizei provozieren zu wollen. Genau das hat man getan. Die Humanité triumphiert: Man hat eine Barrikade errichtet! Um was zu tun? Die Faschisten befanden sich nicht auf der anderen Seite der Barrikade und man war gerade gekommen, um die Faschisten zu schlagen. Aber vielleicht ging es um den bewaffneten Aufstand? Um die Diktatur des Proletariats in Ménilmontant zu errichten? Man versteht nichts. Marx sagte: „Man spielt nicht mit dem Aufstand“. Das bedeutet: „Man spielt nicht mit den Barrikaden“. Selbst wenn es um den Aufstand geht, errichtet man nicht überall und jederzeit Barrikaden (diesbezüglich kann man bei Blanqui etwas lernen. Siehe die in La Critique sociale veröffentlichten Dokumente).

Man hat es geschafft: a) die Muttersöhnchen wohlbehalten nach Hause gehen zu lassen, b) die Polizei zu provozieren und einen Arbeiter töten zu lassen, c) den Faschisten ein wichtiges Argument zu liefern: Die Kommunisten beginnen, Barrikaden zu errichten.

Die idiotischen Bürokraten werden sagen: „Nun, sollen wir aus Angst vor den Faschisten und aus Freundschaft zur Polizei auf Barrikaden verzichten?“ Es ist ein Verrat, auf Barrikaden zu verzichten, wenn die politische Situation sie erfordert und wenn man stark genug ist, sie zu bauen und zu verteidigen. Aber es ist eine ekelhafte Provokation, wegen eines kleinen faschistischen Treffens Barrikaden vorzutäuschen und alle politischen Proportionen zu verzerren und das Proletariat zu verwirren.

Es geht darum, die Arbeiter in wachsender Zahl in den Kampf gegen den Faschismus hineinzuziehen. Das Abenteuer von Ménilmontant kann nur eine kleine kämpferische Minderheit isolieren. Hundert, tausend Arbeiter, die bereit wären, den arroganten jungen Bourgeois ein paar Schläge zu versetzen, werden nach diesem Experiment sagen: „Ach nein, ich will nicht, dass man mir wegen nichts den Kopf zertrümmert!“ Das Ergebnis des gesamten Unternehmens ist absolut gegen seinen Zweck gerichtet. Und um Ihnen meine ganze Meinung zu sagen: Ich wäre nicht sehr überrascht, wenn in einiger Zeit bekannt würde, dass die größten Schreihälse auf den Barrikaden faschistische Agenten in den Reihen der Stalinisten waren, die ihren Freunden freie Bahn machen und einen Konflikt mit der Polizei herbeiführen wollten. Wenn das so ist, dann haben sie es gut gemacht.

Was hätten die aktivsten und unternehmungslustigsten Elemente vor Ort tun sollen? Improvisieren Sie einen kleinen Stab3, indem Sie einen Sozialisten oder Stalinisten hinzuziehen, wenn es möglich ist (gleichzeitig hätte man den Arbeitern erklären müssen, dass der Stab des Viertels am Vorabend der Demonstration als ständiges Organ hätte funktionieren müssen). Dieser improvisierte Stab hätte mit der Karte des Bezirks vor Augen den einfachsten Plan der Welt entwerfen, ein oder zwei Hundert Demonstranten in Teams von drei bis fünf Leuten mit je einem Anführer zusammenstellen und sie ihre Arbeit tun lassen sollen, wobei die Anführer gezwungen waren, sich nach den Aktionen zu treffen, um Bilanz zu ziehen und die notwendigen Lehren für die Zukunft zu ziehen. Dieses zweite Treffen wäre ein guter Kern für einen permanenten Stab und eine gute Stütze für die Arbeitermiliz im Viertel. Natürlich hätte es Flugblätter geben müssen, die die Notwendigkeit eines ständigen Stabes erklärten.

Die Bilanz für die revolutionären und scharfsinnigen Elemente ist:

a) einen eigenen kleinen Stab für solche Gelegenheiten zu haben;

b) die Möglichkeiten und Eventualitäten des Konflikts im Voraus in Betracht zu ziehen;

c) einige ungefähre Pläne zu erstellen (mehrere Varianten);

d) eine Karte der Gegend zu haben;

e) Flugblätter zu haben, die der Situation entsprechen.

Das ist das, was ich im Moment sagen kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Vorschläge mit Ihren eigenen Vorstellungen völlig übereinstimmen werden. Umso besser.

1Der Satz fehlt in der englischen Übersetzung

2In der englischen Übersetzung: „60“

3In der englischen Übersetzung hier und im Folgenden: „Generalstab“


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