Leo Trotzki: Brief an das Internationale Sekretariat und an alle Sektionen

[4. Januar 1933, eigene Übersetzung der englischen Übersetzung, „The Mistake of the International Secretariat“, „Der Irrtum des Internationalen Sekretariats“]

An das Internationale Sekretariat und an alle Sektionen der Internationalen Linken Opposition (Bolschewiki-Leninisten)

Werte Genossen,

durch eine zufällige und unglückliche Verkettung von Umständen bin ich erst heute, am 4. Januar, in den Besitz des Protokolls des Internationalen Sekretariats vom 15. Dezember gekommen. Ich hoffe, dass alle Sektionen die Erklärung Wells und die Antworten der Genossen Witte und Kin (Bauer konnte sich aus Zeitgründen nur ihrer Erklärung anschließen) aufmerksam gelesen haben. Aber ich finde, die Genossen Witte und Kin haben sich viel zu milde ausgedrückt und nicht die notwendigen Schlüsse aus ihrer Analyse gezogen.

Was genau hat Well gesagt? Lassen Sie uns seine Aussagen aufzählen:

1. Dass die führende Gruppe der deutschen Linken Opposition, die die Ansichten der Internationalen Linken Opposition unterstützt, eine Clique ist.

2. Diese „Clique“ (was in Wirklichkeit die Internationale Linke Opposition bedeutet) zeichnet sich dadurch aus, dass sie die „Erfolge“ der stalinistischen Bürokratie böswillig herunterspielt.

3. „Bauer gab Trotzki lügnerische und verleumderische Informationen.“ Genau die gleiche Aussage wurde von Landau vor der Spaltung, von Mill und den anderen vor ihrer Kapitulation gemacht. Die schlimmsten Informationen über Well wurden immer von Well selbst in seinen Briefen gegeben. Ich erkläre, dass Genosse Bauer in all seinen Mitteilungen höchst objektiv, gewissenhaft und vorsichtig war, ganz im Gegensatz zum Genossen Well, der immer in einer bösartigen, persönlichen und illoyalen Weise auftrat.

4. Well macht Einwände gegen unsere politische Anklage gegen Stalin, weil wir seine internationale Politik für antiproletarisch halten. Well wird zum Verteidiger Stalins, der schließlich neben seiner Hauptbeschäftigung ein Henker der Genossen ist, die unsere Ansichten teilen.

5. Well ist gegen die Theorie des Bonapartismus.

6. Well ist gegen die Theorie des Thermidor.

7. Well erklärt die bevorstehende Säuberung der Partei für einen Schritt nach vorn. Diese Säuberung beginnt und endet jedoch mit der Unterdrückung der Genossen, die unsere Ansichten teilen, und mit der Zerstörung jeder Kritik und jedes marxistischen Denkens innerhalb der Partei.

8. Well erklärt, dass niemand mehr über den zweiten Fünfjahresplan spricht, was seine eigene Entdeckung ist.

9. Well erklärt, dass niemand mehr über den „Sozialfaschismus“ spricht, was jedoch in furchtbarem Widerspruch zu den Beschlüssen des Zwölften Plenums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale steht.

10. Well verkündet: „Wir müssen näher an die Partei herankommen.“ Damit meint er die stalinistische Bürokratie und diese Annäherung erkauft er sich durch die Aufgabe jeglichen marxistischen Denkens.

11. Darüber hinaus erklärt er, dass der Fünfjahresplan „fast“ verwirklicht wurde.

12. Er erklärt, dass die Russische Opposition nicht mehr existiert.

13. Er verbreitet die Behauptung der Stalinisten, dass Sinowjew und Kamenew freiwillig das Loch gewählt haben, in das Stalin sie gesteckt hat.

14. In der Erklärung, die er ursprünglich unterzeichnet hat und die seine wahren Gedanken unverhohlen zum Ausdruck bringt, erklärt Well, dass die Führung der Russischen Opposition in dem Artikel über die stalinistische Außenpolitik vor „Urbahns, Korsch, Sapronow und anderen Feinden der Partei und der Komintern“ kapituliert. Die Kapitulation vor den Feinden der Partei ist gleichbedeutend mit dem Übertritt in das Lager der Konterrevolution.

Ich hoffe, diese Aufzählung wird ausreichen. Sinowjew, Radek und die anderen beschuldigten auch Trotzki vierundzwanzig Stunden vor ihrer eigenen Kapitulation der Kapitulation vor Sapronow. Dass die Ebengenannten ihre Anschuldigungen in einer klügeren und anständigeren Form vorbrachten, ist für Well kaum ein mildernder Umstand. Während er der Zeitschrift der Russischen Opposition vorwirft, in das Lager der Parteifeinde übergetreten zu sein, erklärt er Stalins proletarische Politik für über jeden Verdacht und eigentlich über jede Kritik erhaben. Er ist gegen die Theorie des Thermidor. Wofür ist er dann? Bei seiner Aufzählung der Punkte, die ihn scharf von der Internationalen Linken Opposition trennen, hat Well nur eines vergessen, nämlich die Punkte zu erwähnen, die ihn noch mit der Linken Opposition verbinden.

Stellen Sie sich einen Moment lang vor, die Tausenden von inhaftierten, verbannten, verfolgten Bolschewiki-Leninisten in der Sowjetunion hätten die Rede Wells vor ihren Augen, was könnten sie darüber denken oder sagen? Nur eines: „Well ist ein offener Feind, ein stalinistischer Agent“ Von einer Maske kann hier kaum die Rede sein, denn er trägt seine stalinistische Weisheit ganz offen vor sich her. Es stellt sich zwingend die Frage: „Wenn wir uns im erbittertsten Kampf mit den Stalinisten befinden, die uns durch ihre Diplomatie und die kapitalistische Polizei aller Länder verfolgen, können wir dann zweitrangige Stalinisten in unseren Reihen dulden?“ Ich glaube es nicht.

Es ist kein Geheimnis, dass Well in seinen Ansichten höchst verwirrt ist. Alle Versuche, ihm in zahllosen Briefen zu einer klareren Einsicht zu verhelfen, waren vergeblich. Die Verwirrung in seinem Fall kristallisierte schließlich zu einer völlig stalinistischen Form. Und das ist kein Zufall, denn Zentrismus ist ja nichts anderes als kristallisierte Verwirrung. Aber gerade wegen seiner klaren und offenen Formulierung des Stalinismus hat Well bewiesen, dass es keine Grundlage für weitere Diskussionen gibt. Und darin besteht meiner Meinung nach der Fehler des Internationalen Sekretariats. Es reicht nicht aus, dass zwei Mitglieder ihre Meinung geäußert haben und ein drittes Mitglied sich ihnen angeschlossen hat. Es war ihre Pflicht als Sekretariat, als höchstes Gremium, sofort zu erklären, dass die gegenwärtigen Ansichten Wells mit einer Mitgliedschaft in der Linken Opposition unvereinbar sind. Und es war dieser Beschluss, nicht nur das Protokoll, den das Internationale Sekretariat allen Sektionen zur Prüfung und Bestätigung hätte vorlegen müssen.

Ich für meinen Teil zögere keinen Augenblick, im Namen der russischen Opposition, die trotz aller stalinistischen Verleumdungen existiert, wächst, kämpft und an Einfluss gewinnt, zu erklären: „Wenn Well an den Meinungen festhält, die er im Protokoll vom 15. Dezember geäußert hat, darf er keine weiteren vierundzwanzig Stunden in unseren Reihen bleiben.“ Das ist der formelle Vorschlag, den ich dem Internationalen Sekretariat und allen Sektionen mache.

Mit kommunistischen Grüßen,

G. Gurow [L. Trotzki]


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