I. Leibeigene und Hörige, Adel und Geistlichkeit

Wer von der ursprünglichen „Freiheit“ und der glücklichen Lage spricht, die angeblich unsere Vorfahren in alter Zeit genossen, der teilt den Standpunkt der Bibel, wonach einstmals die Menschen im vollkommensten Zustande sich befanden, aber durch ihre eigene Schlechtigkeit aus diesem paradiesischen Zustand entfernt wurden, immer tiefer sanken, und dass es jetzt unsere Aufgabe sein müsse, die „alte gute Zeit“ wieder herzustellen. Nein, die wahre Freiheit hat noch nirgend auf der Erde bestanden, denn die Freiheit kann nur der Ausfluss der Gleichheit sein, eines Zustandes, wo Keiner herrscht, Keiner unterdrückt wird, und das gleiche Wohlbefinden Aller leitender Grundsatz aller Staats- und Gesellschaftseinrichtungen ist. Ein solcher Zustand ist aber nur möglich in einer Gesellschaft, welche alle Phasen der Klassenherrschaft überwunden hat, und, ausgestattet mit den Errungenschaften einer hohen Kultur, in der Lage ist, jedem ihrer Mitglieder sein vollwichtig Teil an Lebensgenuss und Gütern zukommen zu lassen.

In einer Gesellschaft aber, wo die ursprünglichste aller Tätigkeiten einer eben erst zu festen Wohnsitzen gelangten Bevölkerung, der Ackerbau, die Hauptgrundlage der Existenz bildet, wo der Boden mit den primitivsten Werkzeugen bearbeitet wird und ein besonders großes Maß körperlicher Anstrengung erheischt, da ist der stärkste Anstoß für den Stärkeren gegeben, sich den Schwächeren dienstbar zu machen; fremden angebauten oder fruchtbareren Boden zu rauben, um die eigene Arbeit zu ersparen und die so gewonnene Stellung zu einer dauernden Herrschaft auszubeuten. Dort kann von Freiheit und Wohlbefinden der Gesamtheit nicht gesprochen werden. Dort ist Landsklaverei die notwendige Folge.

Diese finden wir in der Zeit, von welcher wir die ersten genaueren Kenntnisse der inneren Zustände Deutschlands besitzen, also in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, bereits in ausgeprägter Form vorhanden. Die Bevölkerung stand sich in zwei scharf geschiedenen Klassen gegenüber. Die herrschende Klasse waren die Freien, sie teilten sich in Adelinge oder Edelinge und die Gemeinfreien oder Semperfreien. Die unterdrückte Klasse waren die Unfreien, die in Hörige oder Liten und in Sklaven oder Schalke, auch Leibeigene genannt, zerfielen. Die Freien waren die besitzende, die Unfreien die arbeitende und dienende Klasse. Die Freien waren die Eroberer, die unter Anführung ihrer Adelinge die Urbevölkerung unterjocht, den Grund und Boden sich angeeignet und die auf diesem Grund und Boden wohnende Bevölkerung zu Unfreien herabgedrückt hatte, indem sie derselben das Joch der Hörigkeit aufzwangen. Die Sklaven waren die auf den Kriegszügen in die Gefangenschaft geratenen Angehörigen fremder Völker oder Stämme. Jeder Stand unterschied sich von dem anderen durch ein scharf ausgeprägtes „rechtliches“ Verhältnis.

Sobald der Mensch einen anderen beraubt, ihn seines Eigentums entledigt und ihn sich untertänig gemacht hat, empfindet er das Bedürfnis, diese Gewalttat als eine Rechtstat erscheinen zu lassen. Er bemüht sich, Formen ausfindig zu machen, nach denen seine Tat sanktioniert wird. So hat selbst der Mensch auf der untersten Kulturstufe die Erkenntnis, dass die Gewalttat Unrecht ist und Gewalt an ihm selbst rechtfertigt. Um letzteres zu verhüten, sucht er sein Unrecht als Recht darzustellen, indem er ihm Rechtsform gibt, den Glauben daran dem Unterdrückten anzuerziehen und ihm als „heilig“ und unverletzlich einzuprägen sucht. Der Sklave war eine Sache, eine Ware, er konnte wie jede andere Sache oder Ware verkauft, vertauscht und verpfändet werden. Der in den ersten Jahrhunderten sehr ausgedehnte Menschenhandel ließ ihm dieses Schicksal nicht selten widerfahren. Es gab Märkte, wo an einem einzigen Tage an 7.000 Leibeigene zum Kauf und Verkauf ausgeboten wurden. Auch war für den Leibeigenen, wie für jede andere Ware, an den Zollstätten ein bestimmter Zoll zu entrichten. Vollständig in das freie Belieben seines Herrn gegeben, konnte ihn dieser nicht nur als Ware verkaufen oder verpfänden, er konnte ihn auch ungestraft töten, verstümmeln und misshandeln. Nicht selten wurde als Strafe die Entmannung angewandt, Stockschläge und die Folter kamen bei den geringsten Vergehen in Anwendung. Seine „rechtliche“ Stellung in der Gesellschaft war die Rechtlosigkeit, er wurde dem Vieh gleich geachtet, und demgemäß lautete auch eine Stelle im sächsischen Recht: Wenn ein Sklave oder eine Sklavin, ein Pferd, ein Ochs oder ein anderes Tier entlaufen ist. Suchte ein Leibeigener sich durch die Flucht seinem elenden Los zu entziehen, so wurde das Gastrecht, das dem Freien gegenüber hoch stand und mit peinlicher Gewissenhaftigkeit ausgeübt wurde, ihm versagt, er wurde ohne Gnade seinem Peiniger zur Bestrafung ausgeliefert. Vor Gericht galt er als recht- und ehrlos. Gab er in einer Untersuchungssache seinen Herrn mit den überzeugendsten Beweisen als Täter an, so wurde ihm nach dem bestehenden Recht nicht geglaubt.

Der Hörige unterschied sich vom Leibeigenen darin, dass er nicht wie dieser als eine Sache nach dem Belieben des Herrn verkauft und vertauscht, oder auch in Erbschaftsfällen in die Hände der Töchter die nach altem deutschen Recht von der Erbfolge im Grundeigentum ausgeschlossen waren vererbt werden konnte. Er war an die Scholle gebunden, er erhielt vom Herrn ein Grundstück zur Bebauung, wofür er Zinse geben und ihm Dienste und Fronden leisten musste. Vor Gericht wurde er durch seinen Herrn vertreten. Bei Verbrechen musste er, wie der Leibeigene, mit seinem Leib und Leben büßen, während der Freie durch Erlegung des sogenannten Wergeldes sich von körperlichen Strafen freikaufen konnte. Man sieht, der Unterschied zwischen Geldstrafen für den Reichen und Leibes- und Gefängnisstrafen für den Armen, der heute noch in unsern Strafgesetzbüchern eine so große Rolle spielt, ist nicht modernen Datums. Die Klassenherrschaft sieht sich in allen Zeiten wunderbar ähnlich.

Der Rechtlosigkeit der Unterdrückten stand gegenüber das Vorrecht der Herren. Die Freien allein bildeten das „Volk“. Sie machten die Gesetze, übten das Richteramt aus und hatten die Staatsverwaltung in Händen. Der Freie allein konnte wider seines Gleichen Zeuge und über ihn Richter sein, er allein besaß das Recht, Waffen zu tragen und von Staatslasten befreit zu sein, er besaß das Recht der Unverletzlichkeit der Person. Wo es ihm nicht gelang, sich von der Anklage eines Verbrechens durch seinen und seiner Eideshelfer Eid zu reinigen, kaufte er sich durch eine Geldstrafe los. Es gab kein Verbrechen, den Mord nicht ausgenommen, das nicht durch Geld oder Geldeswert gesühnt werden konnte.

Auch im Familienleben und geschlechtlichen Verkehr ward die strengste Scheidung zwischen Freien und Unfreien aufrecht erhalten. Die Kinder eines Freien, der eine Hörige heiratete, wurden Hörige; heiratete er eine Leibeigene, gehörten sie diesem Stande an. Dasselbe galt von einer Freien, die einen Hörigen oder einen Leibeigenen zum Manne nahm, ja die Eltern einer solchen Tochter hatten das Recht, sie zu töten oder zu verkaufen. Eine Ausnahme von diesen Bestimmungen trat ein, wenn der Freie die Hörige oder Leibeigene, die er ehelichte, zuvor freigegeben, oder wenn er die Unfreie eines anderen Freien, die er heiraten wollte, zuvor aus der Unfreiheit losgekauft hatte. Freie Frauen hingegen, die nach dem Gesetz als unter der Vormundschaft der Männer stehend angesehen wurden und demgemäß die Rechtsfähigkeit nicht besaßen, fielen unter allen Umständen in die Unfreiheit. Uneheliche Kinder zwischen einem Freien und einer Unfreien verfielen dem Stande der Mutter.

Verschiebungen in dem Verhältnis der zwei Klassen, den Freien und Unfreien, die aber zu geringfügig waren, um auf das Gesamtverhältnis Einfluss zu üben, traten insofern ein, als zeitweilig einzelne Leibeigene, sei es durch die Gnade ihrer Herren oder durch Loskauf, die Freiheit erlangten. Doch bekamen ihre Nachkommen erst in der dritten oder vierten Generation die Rechte der Freigeborenen. Die Freiheit konnte aber einem Leibeigenen wenig nützen, wenn er nicht auch zugleich in den Besitz von Grundeigentum gelangte. Seine Lage änderte sich erst, als die Städte sich bildeten und das Handwerk ein Mittel zur Erwerbung des Lebensunterhalts wurde. Andererseits spitzten sich die Verhältnisse zwischen den Freien selbst so zu, dass nach und nach viele niedere Freie in die Stellung von zinspflichtigen Grundbesitzern, oder gar in das Hörigkeitsverhältnis herabgedrückt wurden. Den Grund hierzu legte die Unterscheidung von hohem und niederem Adel, den Adelingen und den Gemein- oder Semper-Freien. Der hohe Adel, der an Zahl nur gering, aber sehr begütert war ein alter Geschichtsschreiber gibt die Zahl der Edelingsfamilien bei dem mächtigen Sachsenstamm auf zwölf, der Edelingsfamilien in Bayern nur auf sechs an – und aus dessen Mitte die Herzoge und Könige gewählt wurden, suchte seine Macht und seinen Einfluss immer mehr auszudehnen. Ein vortreffliches Mittel dazu war die Höhe des Wergeldes. Das Wergeld für die Schädigung eines Adelings stand ungemein hoch im Verhältnis zu dem für einen niederen Freien. Bei Verlegungen und Vergehen, begangen durch einen hohen Adeligen an einem Gemein-Freien war Ersterem die Buße leicht gemacht, umgekehrt war das Gegenteil der Fall. Die Bußen des gemeinen Freien erreichten oft eine solche Höhe und wurden mit solcher Strenge eingetrieben, dass sie häufig nicht nur den Schuldigen, sondern auch dessen Verwandte, die nach dem bestehenden Rechte im Falle ungenügender Zahlungsfähigkeit mit haften mussten, zu Grunde richteten. Die Stelle des Oberrichters und des ersten Staatsbeamten, die stets ein Edeling bekleidete, ließ jede Willkür zu. Gewalttaten und Beraubungen aller Art vollendeten den Sturz vieler niederen Freien. So fand die bis zur Grausamkeit getriebene Ausbeutung, welche die niederen Freien sich gegen die Hörigen und Leibeigenen zu schulden kommen ließen, zum kleinen Teil ihre Vergeltung durch das Verfahren des hohen Adels wider sie. Den Unterdrückten war freilich damit nicht geholfen.

Über das Zahlenverhältnis der beiden Klassen, der Freien und Unfreien, liegen keine sicheren Angaben vor. J. G. A. Wirth schätzt in seiner „Geschichte der Deutschen“ die Zahl der Freien beider Stände auf vier bis fünf Prozent der Bevölkerung. Das stimmt merkwürdig überein mit dem Prozentsatz, den Lassalle seiner Zeit für die Wohlhabenden in der heutigen Gesellschaft berechnete.

Zu dem hohen und niederen Adel gesellte sich ein neuer Stand, der bald, gleich diesem, dem unterdrückten Volke am Herzblut saugte und seine Leiden vermehrte. Dieser Stand war die christliche Geistlichkeit. Das Christentum, die Frucht des Fäulnisprozesses, welcher den antiken Staat zerstört hatte, war allmählich von Süden und Westen in Deutschland eingedrungen und hatte sich der mit Rohheit und Unwissenheit erfüllten Köpfe bemächtigt. Der Kampf gegen die alten Götter war keineswegs ein leichter. Aber ausgestattet mit der feinen Spürkraft, welche die herrschenden Klassen aller Zeiten ausgezeichnet, wenn es galt ein Mittel zu benutzen, das als gutes Werkzeug zur besseren Unterjochung der Massen dienen konnte, erkannte der hohe Adel sehr bald, welch eine vortreffliche Hilfstruppe ihm in der christlichen Geistlichkeit erstand. Er benutzte sie.

Die ausgezeichneten Dienste, welche das Christentum als Staatsreligion dem oströmischen Reiche seit Konstantin geleistet, war den fränkischen Königen aus dem Hause der Merowinger sehr wohl bekannt. Sie ahmten das römische Vorbild nach, indem sie Christen wurden. Das arme gepeinigte Volk, das unter der Last der Abgaben und Frondienste und barbarischer Behandlung seufzte, das der rohen Willkür und allen Launen und Lüften seiner adeligen Peiniger Preis gegeben war, dessen Felder und Hütten durch die fortdauernden Familienkämpfe und Eroberungszüge verwüstet wurden, schenkte bald einem Glauben Gehör, der unter verführerischen Formen, als eine Religion der Armen und Elenden, sich bei ihm einführte und ihm Befreiung von der Knechtschaft zu verheißen schien. Die Priester des neuen Glaubens siedelten sich an, bauten Klöster, Kirchen und Kapellen und nahmen die Ländereien mit Menschen und Vieh in Besitz, welche die Munifizenz der Fürsten bereitwillig ihnen einräumte. Niedere Freie, die von den Priestern überredet einen Stuhl im Himmel zu erobern wähnten, folgten in nicht geringer Zahl. Sie gaben freiwillig ihre Güter in klösterliches oder kirchliches Eigentum und stellten sich und ihre Nachkommen in die freiwillige Dienstbarkeit der Kirche. Andererseits wandte letztere ihren Einfluss an, die Losgabe von Leibeigenen von den Fürsten zu erlangen; diese wurden aber nicht frei, sondern sie wurden der Kirche dienstpflichtig, sie standen nunmehr, gleich den Geistlichen, unter römischem statt heimischem Recht und halfen durch ihre Arbeit den Reichtum und das Ansehen der Kirche vermehren. Nicht Humanität, sondern Interesse war es, das die Geistlichkeit zu diesem Schritt veranlasste. Ihre Güter hatten allmählich einen Umfang angenommen, dass nur durch dieses Mittel sie die nötigen Arbeitskräfte gewinnen konnte. Überhaupt ist nichts unrichtiger, als die Behauptung vieler Geschichtsschreiber, die Geistlichkeit habe zur Erleichterung und Aufhebung der Hörigkeit und Leibeigenschaft beigetragen. Die Tatsachen beweisen das Gegenteil. Nirgends sind Fälle bekannt geworden, dass die Geistlichkeit die Befreiung ihrer eigenen Hörigen und Leibeigenen vorgenommen, und zu diesem Schritte wäre sie doch zuerst verpflichtet gewesen. Sie hat überall mit großer Energie die Unterdrückung der Massen ausgeübt und jederzeit bereitwillig der weltlichen Macht ihre Dienste dazu geliehen. Stets war sie eifrig bemüht, durch die Mittel der Überredung, der List und des Betrugs ihre Güter zu vermehren, die Lasten und Fronden zu steigern und dem Leibeigenen und Hörigen selbst das Wenige zu nehmen, was nach bestehendem Recht ihm verbleiben musste. Welche Motive sollten sie auch zu einer anderen Haltung zwingen? Die Religion, die sie lehrte? Einmal war es die Geistlichkeit zuletzt, welche die in das Christentum aufgenommenen Sittengrundsätze befolgte, und dann musste diese Religion gerade dazu dienen, die weltliche Knechtschaft zu beschönigen und die Unterdrückten auf die himmlische Glückseligkeit, die sie ihnen vorgaukelte, zu vertrösten. Zahlreiche Stellen aus dem alten und neuen Testamente dienten dazu, die Knechtschaft zu rechtfertigen. Luther war es ja später ganz besonders, der den Bauern gegenüber mit Hinweis auf die Bibel und unter Anführung zahlreicher Bibelstellen zu beweisen suchte, dass sie mit ihren Forderungen und ihrer Empörung gegen die Herren, für welche sie sich auf dieselbe Bibel beriefen, Unrecht hätten.

Die Geistlichkeit war ein herrschender Stand, die Religion war das Mittel und Werkzeug ihrer Herrschaft, und es widerspricht der Natur jeder Herrschaft, unter welchem Gewande sie immer auftrete, für die Befreiung Derjenigen zu wirken, über die sie die Herrschaft ausübt.

Man mute dem Wolf nicht zu, das Lamm zu schonen, oder dem Fuchs die Taube, das widerspricht ihrer Raubtiernatur. Seine Existenz zwingt den Wolf, das Lamm zu fressen, und veranlasst den Fuchs, der Taube den Garaus zu machen. So kann man auch keiner herrschenden Klasse zumuten, sich selbst zu vernichten dadurch, dass sie der unterdrückten Klasse zu ihrem Menschenrecht verhilft. In Einklang mit den Lehren der Bibel, welche dem Unterdrückten gebieten, dem Herrn untertänig und gehorsam zu sein, verbot die Kirche sogar bei der schweren Strafe der Exkommunikation die eigenmächtige Befreiung der Leibeigenen. Sie verbot selbst deren Befreiung durch Andere, wenn durch dieselbe das Kirchengut oder das Geistlicheneinkommen geschmälert wurde. Sie benutzte die geistliche Gewalt als ein sehr wirksames Mittel, die Zahl ihrer Leibeigenen und Hörigen zu vermehren. So bestand unter Anderem die Bestimmung, dass ein vor einer Kirchentür gefundenes Kind ohne Weiteres in ihre Leibeigenschaft kam. Auch wurde noch 1294 unter Papst Cölestin V. in der Erläuterung der zehn Gebote gelehrt: „Ein Christ kann wohl einen jüdischen oder heidnischen Sklaven haben, doch kann er ihn nicht hindern Christ zu werden; aber dennoch soll er diesem dienen.“

Die Rücksichtslosigkeit, womit gerade die Geistlichkeit durch das ganze Mittelalter hindurch ihre Macht zur Unterdrückung des Volks benutzte, machte sie zum verhasstesten der herrschenden Stände. Namentlich trug ein Verfahren von ihrer Seite besonders dazu bei, den Hass der Unterdrückten gegen sie zu vermehren. Sie war im Mittelalter der eigentliche Gelehrtenstand; ihre Gelehrtenleistungen sind allerdings höchst unbedeutend und sind stark überschätzt und übertrieben worden, aber die Kenntnis des Schreibens und Lesens, die sie allein besaß, machte sie zu Ratgebern und zu Vertrauenspersonen der Fürsten, ihr wurde deshalb die Abfassung von Verträgen und Urkunden anvertraut. In dieser Eigenschaft machte sie sich in ihrem eigenen, wie im Interesse ihrer Auftraggeber der schwersten Fälschungen schuldig. Sie verfasste Urkunden, deren Sinn ein ganz anderer war, als er sein sollte, und wenn dann später Diejenigen, welche in ihren Rechten gekränkt und über Gebühr bedrückt, sich beschwerten und sich auf ihre Urkunden beriefen, so stellte es sich heraus, dass darin etwas ganz Anderes stand, als sie geglaubt; sie waren ihrer Rechte verlustig gegangen, darum betrogen worden. Diese Fälschungsdienste leistete die Geistlichkeit insbesondere auch bei Abfassung der Verfassungsurkunden, welche im sechsten und siebenten Jahrhundert allmählich an die Stelle der mündlichen Überlieferungen traten. Die königliche Macht strebte nach Ausdehnung und Unabhängigkeit von der lästigen Vormundschaft und Überwachung des eifersüchtigen Adels. Da wurden Königtum und Geistlichkeit natürliche Verbündete. Die Könige stifteten große geistliche Bistümer und Abteien, welche sie an die ihnen genehmen Geistlichen vergaben. Zahlreiche Adelige, die im Vermögen herabgekommen oder durch das geltende Recht der Erstgeburt von der Herrschaft ausgeschlossen waren, griffen bereitwillig zu und waren bereit, gehorsame Diener des Königtums zu werden, um die Verwaltung dieser fetten Pfründen als Erzbischöfe, Bischöfe oder Äbte zu erlangen.

Dem Königtum half noch ein anderes Mittel zur Unumschränktheit im Staat. Das Königtum besaß als oberster Vertreter des Staats das Recht, die umfassenden Güter, Waldungen und Ländereien, die als Staatseigentum unter seiner Verwaltung standen, den zahlreichen Beamten zuzuweisen, die als Verwaltungsbeamte und Richter unter dem Namen von Pfalz-, Mark-, Gau- und Landgrafen oder Vögte an Königs Statt regierten und für ihre Dienstleistungen die Staatsgüter zu Lehen empfingen. Dies war der Anfang zum Lehens- oder Feudalstaat, der bald immer weiter sich ausdehnte.

Anfangs waren die königlichen Lehen nur für die Dauer des Amtes verliehen, das auf Zeit besetzt wurde. Allmählich aber wurden die Ämter auf Lebenszeit vergeben und erhielten die Beamten für Lebenszeit auch den Genuss dieser Lehens- oder Benefiziengüter. Die Gewohnheit, dass der Sohn im Amte dem Vater folgte, führte nach und nach zur Erblichkeit des Amts und der Güter. Die bei dieser Erblichkeit interessierten Lehensleute unterstützten sich in ihren Bestrebungen gegenseitig. Das Streben der Fürsten, auch ihre Würde erblich zu machen, begünstigte diese Pläne. War es Karl dem sog. Großen gelungen, das Streben der Vasallen nach Unabhängigkeit in Schranken zu halten, so war dies bei seinen schwachen Nachfolgern nicht mehr der Fall. Die ehemaligen hohen Reichsbeamten wurden unabhängige Fürsten, die sich alle königlichen Rechte, wie Zoll-, Münz- und Steuerrecht, die Rechtsprechung und den Blutbann anmaßten und nun ihrerseits sich eine zahlreiche Vasallenschaft zu begründen suchten. Immer mehr um sich greifende Kämpfe und Fehden der Stärkeren gegen die Schwächeren brachten es bald dahin, dass kein einzelner Freie mehr imstande war, sein Besitztum gegen die Beraubung durch den mächtigeren Nachbar zu schützen. Was in der heutigen Zeit ein komplizierter ökonomischer Prozess vollzieht, die Aufsaugung des kleinen Unternehmers durch den Großen, vollzog sich im Mittelalter auf dem Wege unverhüllter Gewalt. Die niederen Freien unterwarfen sich dem Mächtigen, verwandelten ihr freies Besitztum in feudales, leisteten dem Lehensherrn den Eid der Treue, verpflichteten sich zur Verteidigung seiner Person und zur Heeresfolge, und erhielten dafür ihrerseits Schutz wider die Angriffe Dritter zugesagt. Widerstand ein Freier dem Verlangen, sich in ein Lehensverhältnis zu begeben, so wurde er so lange auf alle mögliche Art belästigt und mit Staatslasten überbürdet, dass er die Lehenspflicht der Unabhängigkeit vorzog.

Wie die weltlichen Herren, so verfuhren auch die geistlichen Gebieter. Die Zahl der Bistümer und Abteien war eine sehr bedeutende, Karl der Große hat von den ersteren allein nicht weniger als acht gegründet und mit großen Privilegien ausgestattet. Bei ihm besonders war es Staatsmaxime, die Macht der Geistlichkeit gegen den Adel anzuwenden; er war auch der eigentliche Begründer der weltlichen Macht des Papstes. Bei seinen schwächlichen Nachfolgern drehte bald der Stiel sich um; nicht die Geistlichkeit war das Werkzeug des Königs, sondern der König wurde das Werkzeug der Geistlichkeit. Der seit Karl dem Großen wieder aufgelebte römische Kaisertitel war die Lockspeise, womit das Papsttum das Königtum fing. In dem Jahrhunderte langen Kampf, der zwischen weltlicher und geistlicher Macht entbrannte, war es das Volk, das, wie immer, die Zeche zahlte. Die Schwächung der kaiserlichen Macht, die das Endresultat dieses Kampfes war, kam den großen weltlichen und geistlichen Herren zustatten. Für Beide galt das Volk nur als Objekt, aus dem man möglichst viel herauszupressen suchte, das für jeden Fortschritt, den die Vermehrung der Bevölkerung, die Verbesserung der Bodenkultur und der zunehmende Handel mit den Boden- und Gewerbeerzeugnissen schuf, neue Lasten und Dienste leisten musste. Der Luxus und die Verschwendung des Adels und der Geistlichen stieg von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, aber die staatliche Rechtlosigkeit und die Unwissenheit der Massen blieb.

Allerdings stand die große Mehrzahl des Adels und auch der Geistlichkeit an Rohheit und Unwissenheit der Masse der Bevölkerung nicht viel nach, denn das Streben nach Bildung wird bei Klassen nur höchst gering sein, die im unbestrittenen Besitz der Macht sich befinden, die also kein Interesse haben, die Bildung zu befördern. Das Streben, die Bildung der Bildung halber zu pflegen, findet sich nur bei einzelnen ideal angelegten Naturen. Die herrschenden Klassen haben den naturgemäßen Wunsch, die allgemeine Bildung möglichst unter dem Niveau zu halten, das sie selbst einnehmen und das zur Befriedigung ihrer Klassenherrschaftsansprüche genügt. Daher erklärt sich, dass der ganze mittelalterliche Adel in den Millionen von Köpfen, die er durch viele Generationen seiner Standesherrschaft zählte, für die Kulturentwicklung der Menschheit nichts geleistet hat. Könnte man die Existenz des Adels aus der Geschichte streichen, es wäre nichts dabei verloren, denn Nützliches hat er nicht geschaffen. Dass er existierte, war eine Naturnotwendigkeit, wie Alles, das existiert, naturnotwendig, wenn auch keineswegs, wie Hegel meint, stets vernünftig ist. Er war das natürliche Produkt eines primitiven ökonomischen Zustandes, dessen Herrschaft mit dem Schwinden der gesellschaftlichen Formation, die es erzeugt, erst aufhören konnte. Darin liegt die Erklärung und Entschuldigung seiner Existenz. So waren auch die „Tugenden“ wie die Laster des Standes die naturgemäßen Folgen seiner Existenzbedingungen. Die „ritterliche“ Tapferkeit und Kühnheit entsprang der Raub-, Eroberungs- und Unterdrückungssucht; die Frömmigkeit, soweit sie überhaupt vorhanden war, der Unwissenheit; sein Nichtswissen und seine Ausschweifung der vollständigen Überflüssigkeit eigenen Strebens, um seine Existenz und Stellung in der Gesellschaft zu gewinnen; denn diese hing vom Zufall der Geburt und ausgeprägt tierischen Eigenschaften, wie der Tapferkeit und der Kühnheit ab.

Von der geistigen Unfruchtbarkeit des Adels ist auch jene Periode. nicht auszunehmen, die nach der Anschauung in Romantik schwärmender Geschichtsschreiber als seine Glanzperiode zu betrachten ist, die Zeit der sogenannten Minnesänger im 12. und 13. Jahrhundert. Ihr Tun war in der Hauptsache die Verherrlichung äußerlicher weiblicher Reize in poetischer Sprache zum Kitzel ritterlicher Geilheit; ernstes Studium war ausgeschlossen, dieses hatte mit dem Gegenstande ritterlich-romantischer Fantastereien, Neigungen und Lüste überhaupt nichts zu schaffen. Wem dieses Urteil ungerecht erscheinen sollte, den erinnern wir daran, dass die Minnesängerperiode zugleich jene war, wo das adelige Räuberhandwerk in Deutschland, Faustrecht genannt, in der höchsten Blüte stand, wo die Plünderung der Kaufmannsgüter, die Sperrung der Land- und Wasserstraßen zum Zweck der Erhebung unsinniger Zölle, wo beständige Fehde des Adels unter sich und gegen die aufblühenden Städte, als die eigentlichen Kulturträger des Mittelalters, seine vornehmsten Beschäftigungen waren. Von dem hörigen und leibeigenen Volke hingegen sang im 12. Jahrhundert ein ritterlicher Minnesänger, sicher im Einverständnis mit dem ganzen Stand: „Bauern acht‘ ich gleich den Säuen, Minne kann sie nicht erfreuen.“ Natürlich! Der Adel sorgte in Gemeinschaft mit der Geistlichkeit dafür, dass dem armen Mann selbst das Liebes- und Eheleben verdorben wurde. Sie begnügten sich nicht damit, den furchtbarsten materiellen Druck auf das Volk auszuüben, sie fügten auch noch moralische Martern diesem hinzu, um jeden Funken von Menschenwürde in dem Unterdrückten zu ersticken. Die Verheiratung der Leibeigenen und Hörigen hing von der Einwilligung des Gutsherrn ab, beziehungsweise von der seines Vogts oder Verwalters. Diese Einwilligung konnte der Bräutigam günstigenfalls mit dem sogenannten Heiratszins oder Ehezins erkaufen, eine Abgabe, die abwechselnd als Bettmund, Hemdschilling, Jungfernzins, Stechgroschen, Schürzenzins, Bunzengroschen usw. bezeichnet wurde. Dieser Loskauf war aber eine Vergünstigung, denn nach altem bestehenden „Recht“ hatte der Grundherr Anspruch auf das jus primae noctis, „das Recht der ersten Nacht“. Dieses Recht genossen geistliche wie weltliche Herren und übten es auch in den ihnen genehmen Fällen aus. Auch die sonstigen sittlichen Ausschweifungen, denen beide Stande sich hingaben die geistlichen Herren in Folge der unnatürlichen Ehelosigkeit (des Zölibats) bei faulem und üppigem Leben, noch mehr wie die weltlichen zeigen, dass Rücksichten der Ehre und der Scham bei ihnen nicht galten. Solche Zustände sind eine Schmach für die Menschheit. Sie zeigen am Besten, bis zu welcher entwürdigenden Stellung die herrschende Klasse die beherrschte gebracht hatte. Streng genommen hat unser Zeitalter allerdings keine Ursache, sich über die Unsittlichkeit des Mittelalters zu entrüsten. Denn man darf nicht vergessen, dass, obgleich wir um viele Jahrhunderte jener traurigen Zeit entrückt sind, die Leibeigenschaft wie die Hörigkeit längst aufgehoben ist, und die arbeitende Klasse als „freie“ Klasse ihre Arbeitskraft verkaufen kann, zwar das „Recht“ auf die die erste Nacht nirgend mehr besteht, aber tatsächlich dennoch häufig genug ausgeübt wird. Wer einen Blick in die Werkstätten und Fabriken geworfen, wo weibliche Arbeitskräfte beschäftigt sind, oder die Zustände auf unseren großen Gütern kennt, weiß, dass unter den Guts- wie Fabrikherren und ihren Beamten es nicht wenige gibt, die mit der weiblichen Arbeitskraft auch die weibliche Ehre gekauft zu haben wähnen und danach handeln. Das sind natürliche Folgen der Klassenherrschaft.

Es wurde oben ausgeführt, wie gänzlich unfruchtbar der Adel für die allgemeine Kulturentwicklung war und sein musste, und behauptet, dass die Geistlichkeit nicht viel mehr geleistet. Diese Ansicht steht im Widerspruch mit der gewöhnlichen Auffassung, wonach die Geistlichkeit des Mittelalters sich die bedeutendsten Verdienste um die Bildung erworben. Sie war allerdings, wie schon angeführt wurde, der eigentliche Gelehrtenstand, nur unter ihr gab es in den ersten Jahrhunderten die, welche zu lesen und zu schreiben verstanden; ihre Stellung brachte es mit sich, dass sie des Lateinischen, das im Mittelalter die eigentliche Welt- und Gelehrtensprache war, mächtig war, denn der Gottesdienst wurde in dieser Sprache ausgeübt, die Bibel und die Kirchenväter waren darin geschrieben. Allein diese mechanischen Fähigkeiten begründen noch nicht den Anspruch, in höherem Grade der Kultur gedient zu haben, sie waren gewissermaßen erst das Handwerkszeug, mit dem die Geistlichkeit arbeiten konnte, und es hing von dem Gebrauch ab, den sie davon machte, ob ihre Tätigkeit zum Guten oder zum Schlimmen ausfiel. Und welcher Art war dieser Gebrauch? Sie benutzte ihre höheren Kenntnisse nur, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, um sich Macht und Einfluss zu erobern, um sich neben dem Adel, wenn nicht mit über ihn, zum herrschenden Stande zu machen. Ihre Herrschsucht verbot ihr, wie jeder herrschenden Klasse, ihr Wissen und Können zum allgemeinen Nutzen und zum menschlichen Fortschritt anzuwenden. Ihr Wissen war freilich viel geringer, als ihre Verteidiger zugeben. Die große Mehrheit der Geistlichkeit war sogar in dicker Unwissenheit befangen, wovon selbst die hohen Würdenträger nicht ausgeschlossen waren. Als Beweis diene, dass auf dem Chalkedonischen Konzil, 451 unserer Zeitrechnung, vierzig Bischöfe sich befanden, die weder lesen noch schreiben konnten. Sehr lebhaft beschwerte sich auch Karl der Große über die Unwissenheit der meisten Mönche, über die gänzliche Vernachlässigung ihrer Pflichten und über ihre Liederlichkeit. Zu Ende des 9. Jahrhunderts klagte Alfred der Große von England, dass vom Humber bis zur Themse nicht ein Geistlicher zu finden sei, der die Liturgie in seiner Muttersprache verstehe, oder die leichtesten Stellen aus dem Lateinischen zu übersehen wisse; und er fügte hinzu, dass die Geistlichen im südlichen Teile Englands von der Themse bis zum Meere noch viel unwissender seien. Im Jahre 855 bat der Abt Lupus von Ferrières den Papst um eine Abschrift von Ciceros „Redner“, weil in ganz Frankreich kein einziges vollständiges Exemplar zu finden sei. Das Kloster Fontevrault verkaufte eine vollständige Abschrift des Livius als altes Pergament an einen Krämer. In einem anderen Kloster fand man um 1441 den Properz als Unterlager eines Weinfasses. Petrarca (1304-1374), der in Lüttich zwei bis dahin unbekannte Reden Ciceros fand, musste die ganze Stadt, die zahlreichen Klöster eingeschlossen, durchlaufen, um etwas Tinte zu bekommen. Noch eine Reihe weiterer Tatsachen mögen den Bildungstrieb der hohen und niederen Geistlichen charakterisieren. In der richtigen Erkenntnis, dass die Bildung und die Wissenschaft mit der Religion unverträglich sind, beging der Bischof Theophilus im Jahre 381 die Barbarei, die große und berühmte Bibliothek zu Alexandrien, in welcher die Werke aller Dichter und Schriftsteller, Philosophen und Gelehrten des Altertums in Hunderttausenden von Abschriften aufgehäuft waren, zerstören zu lassen. Papst Gregor, der auch noch den Beinamen „der Große“ empfing, erließ gegen das Jahr 600 den Befehl, überall die Werke von Cicero, Livius und Tacitus zu verbrennen. Der fanatische Verfolger der Mauren in Spanien, Kardinal Ximenes, ließ sogar noch gegen das Ende des 15. Jahrhunderts Hunderttausende von Werken, welche die Bibliothek von Granada enthielt, den Flammen übergeben. Die Zahl der Werke, die Ximenes zerstören ließ, wird von seinen eigenen Verteidigern auf anderthalb Millionen Bände angegeben. Im Kloster St. Gallen, das neben den Klöstern von Hirschau, Reichenau, Weißenburg und Corvey als der Hauptsitz mittelalterlicher Bildung gepriesen wird, konnte zu Ende des 12. Jahrhunderts der Abt mit samt seinem Kapitel nicht eine Zeile schreiben, und ein paar Jahrhunderte später fand man in demselben Kloster die ganze Bibliothek in einem kellerartigen Gewölbe von Schmutz und Moder halb verdorben vor.

Auch ist es Tatsache, dass, als das durch die Araber bezogene Papier seltener und teurer wurde, der häufig unersetzliche Inhalt der alten Pergamente abgeschabt und ausgekragt und die Rollen mit heiligen Geschichten und Legenden beschrieben, oder auch zu Einbänden benutzt wurden. Die Wissenschaft ist mit der Religion unverträglich, und dies anerkennend wurde auf Konzilien im 12. und 13. Jahrhundert, wie durch päpstliche Bullen den Geistlichen das Lesen physikalischer Schriften bei strenger Strafe verboten. Darum wurde ein Mann wie Abaelard zu Ende des 11. Jahrhunderts grimmig verfolgt, Arnold von Brescia in der Mitte des 12. Jahrhunderts wegen Ketzerei verbrannt, Roger Bacon zu Ende des 13. Jahrhunderts wegen Zauberei angeklagt und Jahre lang in den scheußlichsten Kerker geworfen.

Mangelte also der Geistlichkeit als Stand jedes Streben nach idealen Zielen und für Verbesserung des Loses der Unterdrückten, so war sie um so tätiger in der Anwendung ihrer geringen Kenntnisse für entgegengesetzte Ziele und für ihr eigenes leibliches Wohlbefinden. Aus der Anfertigung falscher Urkunden machte sie im späteren Mittelalter ein förmliches Geschäft; es gab Klöster, in denen sie handwerksmäßig fabriziert wurden. Fand man in den Klöstern höchst selten ein wissenschaftliches Buch und dieses häufig am unrechten Platze, so fand man um so häufiger neben den gewissenhaft aufbewahrten Urkunden, die ehemalige Freie und ihre Nachkommen zu Dienstleuten des Klosters machten, Verzeichnisse, welche die Dienste und Fronden aufzählten, die Hörige und Leibeigene dem Kloster leisten mussten, ferner umfassende Register, in denen gewissenhaft und umständlich aufgezählt wurde: wie viel Malter Getreide, wie viel Gänse, Hühner und Eier, wie viel Fuder Wein; das wievielte Stück Vieh und was sonst für Lebensbedürfnisse die klösterlichen Untertanen jährlich abzuliefern hatten.

Die wenigen Männer, die in dem geistlichen Stande sich auszeichneten, waren Ausnahmen von der Regel. Der Stand war bildungs- und kulturfeindlich und musste es sein, weil seine Existenz die Unbildung und die Unkultur bedingte. Wenn aber ein Stand, der im Besitz der Herrschaft und der damit verbundenen Güter ist, keine idealen, die Menschheit fördernden Ziele mehr hat, vielmehr jedes Streben nach Fortschritt feindlich behandeln und unduldsam verfolgen muss, so verfällt er notwendigerweise der Üppigkeit und dem Laster: der Völlerei, der Unzucht, dem Luxus und der Verschwendung. Dies sind die charakteristischen Merkmale jedes herrschenden Standes und jeder herrschenden Klasse, die ihr Ziel erreicht haben. Wir sehen dies bei den Latifundienbesitzern und den Inhabern der Staatsämter in Rom, wir sehen es bei dem Adel und der Geistlichkeit im Mittelalter, und heute sehen wir diese Erscheinung bestätigt bei unserer modernen Bourgeoisie. Mit dem Jahre 1849, das für sie die konstitutionelle Ära, d.h. die Staatsform für das privilegierte Kapital schuf, war das Streben nach idealen Zielen bei ihr gebrochen, mit dem Jahre 1866 begann dieses Streben den Todeskampf, und seit dem Jahre 1870 ist es erstorben. Der Marasmus dieser Klasse liegt heute vor aller Welt offen zu Tage. „Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo“ ist heute ihre Losung, auf Schwelgerei, raffinierten Luxus und Sinnengenuss ihr ganzes Streben gerichtet. Sie verfault und liegt binnen ein paar Jahrzehnten auf dem Kehrichthaufen der Geschichte. Die immer mehr zunehmenden Klagen über allgemeine Verrohung und Verwilderung stehen in innigster Verbindung mit dem moralischen Zustand der herrschenden Klasse. Die Bourgeoisie ist versimpelt, verweichlicht und verroht, und steckt mit ihrer Fäulnis auch die unteren Klassen an. So war es ähnlich zur römischen Kaiserzeit und bei dem Untergang des Mittelalters. Aber in den unteren Klassen ist zu viel Lebenskraft und neuer Lebenstrieb, um diese krankhaften Ansteckungsstoffe nicht auswerfen und die Regeneration der Gesellschaft vornehmen zu können.

Bei der Geistlichkeit, die in Folge der Unentwickeltheit der Zustände und der Beschränktheit und Unbildung der Massen. leicht zur Herrschaft kam, fing der Zustand der Rückbildung und des Verfalls sehr frühzeitig an. schon der erste christliche Kaiser Konstantin, gest. 337, klagte in einem Schreiben an die Bischöfe: „Ihr tut Alles, was zur Zwietracht und zum Hasse führen muss, ja um es gerade heraus zu sagen, Alles, was zum Verderben des Menschengeschlechts zu gereichen pflegt.“ Basilius, gest. 379, ruft: Die Nichtswürdigsten werden Bischöfe.“ Um dieselbe Zeit wirft Kyrill von Jerusalem den meisten Geistlichen ein schwelgerisches und üppiges Leben vor. Gregor von Tours, gest. 595, klagt über die maßlosen Trinkgelage der Geistlichen. Karl der Große schrieb an die Bischöfe und Äbte: sie möchten in Wahrheit erklären, was die Worte sagen wollen, deren sie sich so oft bedienten: „der Welt entsagen“, und an welchem Kennzeichen man die, welche der Welt entsagten, von denen unterscheiden könne, welche ihr nicht entsagten; etwa bloß daran, dass sie keine Rüstungen trügen und nicht öffentlich verheiratet seien?“ und er wirft ihnen Plünderung und Raubsucht vor. Karl der Große, der seinen ehrenden Beinamen so wenig wie die meisten jener Fürsten verdient, welche ihn ebenfalls besitzen, war allerdings nicht der Mann, der diese Vorwürfe erheben durfte. Er selbst ließ es an Plünderungen und Beraubungen nicht fehlen, Grausamkeiten beging er öfter, darunter eine ganz abscheuliche – die Niedermetzelung von 4500 wehrlosen gefangenen Sachsen bei Verden, und sein eigener Lebenswandel, wie der seiner Töchter, ließ viel zu wünschen übrig; sein Hoflager unterschied sich nicht viel von einem öffentlichen Freudenhaus.

Die Klagen über die Lebensweise der Geistlichen wurden mit der fortschreitenden Zeit immer schlimmer. Ein Zeitgenosse Kaiser Heinrichs IV., schreibt: „Unter den Priestern wird Derjenige am Meisten gelobt, der die üppigste Tafel, die prächtigste Kleidung und die schönsten Konkubinen hat.“ Der Bischof von Lüttich rühmte sich 1273 an offener Tafel: er habe eine schöne Äbtissin als Beischläferin, und von anderen Weibern seien ihm binnen zwei Jahren 14 Kinder geboren worden. Petrarca schilderte im 14. Jahrhundert das Leben am päpstlichen Hofe also: „Die Enthaltsamkeit gilt da für Bauernrüpelei, die Schamhaftigkeit für Schande Je befleckter und ruchloser Jemand ist, desto größeren Ruhmes erfreut er sich. Ich rede nicht von Unzucht, Frauenraub, Ehebruch und Blutschande, welche Laster für die Geilheit der Geistlichen nur noch Kleinigkeiten sind. …“ Um dieselbe Zeit waren die Männer- und Frauenklöster in Deutschland wahre Lasterhöhlen, in denen der Unzucht und der Völlerei in maßloser Weise gefrönt wurde. Die Nonnenklöster dienten dem Adel häufig als Bordelle, die Folgen endeten oft mit Kindermord und anderen Verbrechen. Im 12. Jahrhundert schrieb eine Äbtissin, nachdem sie ausgeführt, wozu die Kirchen dienen sollten: „Was aber geschieht heute in manchen Kirchen? Nicht eine religiöse Zeremonie, nicht Handlungen der Verehrung, sondern solche der Irreligion und Ausschweifung werden mit jugenddreister Zuchtlosigkeit vollzogen. Mit vertauschten Kleidern kommen die Geistlichen als Krieger angezogen. Zwischen Priestern und Kriegsleuten gibt es keinen Unterschied. In wüsten Zusammenkünften von Klerikern und Laien werden die Gotteshäuser durch Fressen und Saufen, Possenreißen, unsaubere Späße, offenes Spiel, durch Waffengeklirr, durch die Anwesenheit notorischer Huren, durch weltliche Eitelkeiten und Unordnungen aller Art entweiht. Nie auch gehen solche Versammlungen ohne Händel auseinander, hätten sie sich auch noch so friedlich angehoben.“ Im 15. Jahrhundert waren es besonders die Nonnenklöster Schwabens und Süddeutschlands, die in der Liederlichkeit den Preis davontrugen. Im Kloster Söflingen bei Ulm wurden 1484 die meisten Nonnen in gesegneten Leibesumständen befunden. Eine 1563 in Österreich vorgenommene Klostervisitation ergab, dass 387 Mönche 237 Konkubinen und 49 Eheweiber bei sich unterhielten, dass 36 Nonnen 50 eigene Kinder hatten, und im Ganzen 412 Kinder vorhanden waren. Bischöfe erteilten ihrem Klerus gegen die Erlegung einer Konkubinatsteuer die Erlaubnis, sich Konkubinen halten zu dürfen. Der Konstanzer Bischof Hugo von Landenberg machte diese Steuer zu einer sehr ergiebigen Einnahmequelle und legte sie selbst den Geistlichen auf, die angaben, keine Konkubinen zu halten. Auf ihre Weigerung, die Steuer zu bezahlen, erwiderte er: dass ihr Nichthalten von Konkubinen ihn nichts angehe; er könne sein Einkommen nicht dadurch verlieren, dass ein Geistlicher seine Erlaubnis unbenutzt lasse. Das jährliche Einkommen des genannten Bischofs aus dieser Steuer wird auf 6000 bis 7500 Gulden geschätzt. In Süddeutschland und der Schweiz wurde es im Mittelalter in Folge solcher Zustände vielfach Sitte, dass einem neu anziehenden Geistlichen von der Gemeinde gleich die Bedingung gestellt wurde, seine Kebse mitzubringen, respektive sich eine solche zuzulegen. Die Bauern fürchteten mit Recht für die Ehre ihrer Frauen und Töchter, die trotzdem häufig genug vor dem üppigen Pfaffen nicht sicher waren.

Mit den Welt- und Klostergeistlichen um die Wette eiferten in der Aussaugung des Landvolks, dem Wohlleben und der Liederlichkeit die seit den Kreuzzügen entstandenen Ritterorden (Ritter mit Mönchsgelübden), welche die schlimmen Eigenschaften beider Stände in sich vereinigten. Namentlich waren es die Deutschordensritter, die sich durch ihre Verdorbenheit berüchtigt gemacht hatten. Systematische Verführung von Frauen und Jungfrauen und Notzucht, häufig begangen an Mädchen im Kindesalter, waren etwas sehr Gewöhnliches, ja viele Ordensmitglieder trieben die Bestialität so weit, dass man alle weiblichen Tiere in den Ordenshäusern entfernen musste. Die Wut, welche die Bauern im Bauernkriege gerade gegen diesen Orden empfanden, war eine wohlberechtigte.

Dies ist das hässliche Bild, welches die Geistlichkeit, mit geringen Ausnahmen, im Mittelalter bot. Hätten Adel und Geistlichkeit mit dem zu Boden getretenen, misshandelten und ausgesogenen Bauernstand allein bestanden, es ist kein Zweifel, die Gesellschaft hätte zu Grunde gehen müssen. Die herrschenden Stände, Adel und Geistlichkeit, waren in einem geistigen und moralischen Zustand, der eine Regeneration aus ihnen. heraus unmöglich machte. Das Landvolk war durch Jahrhunderte lange Misshandlungen so darnieder gedrückt, es war geistig in solcher Unmündigkeit gehalten und in seiner ganzen Entwicklung gehemmt, dass es nicht die Kraft und Willensstärke besessen hätte, sich frei und unabhängig zu machen. Es war ein Element nötig, das zwar auch in abhängiger und unterdrückter Stellung sich befand, gleichzeitig aber durch die ökonomischen Existenzbedingungen, unter denen es lebte, in der Lage war, sich materiell und damit geistig zu entwickeln, das mit seiner Entwicklung dem unterdrückten Stande zu Hilfe kam und ihm als Stütze diente, das die Kraft der Gegner brach und dem Landvolk die Bedingungen schuf, die ihm das Aufleben und das Ringen nach menschenwürdiger Stellung möglich machten. Dieses vorwärtstreibende Element war das Bürgertum, das in der feudalen Gesellschaft als neuer Stand emporkam, das zwar gleich dem Bauernstand als unterdrückter Stand ins Leben trat, dem es aber durch seine Existenzweise allmählich gelang und gelingen musste, sich ein größeres Maß von Freiheit und Selbständigkeit, als der Bauernstand besaß, zu erwerben. Die kulturgeschichtliche Bedeutung, die das Bürgertum erlangte, ist durchaus nicht sein „Verdienst“, wie so oft ihm nachgerühmt wird. Kein Stand und keine Klasse hat freien Willen, sie sind das Produkt der sozialen Verhältnisse, und sie handeln nur nach ihrem Standes- oder Klasseninteresse, ohne weiter zu fragen, ob dieses der Gesamtheit schädlich oder nützlich ist, dem Kulturfortschritt dient oder nicht. Der günstige Einfluss, den das Bürgertum auf die Zustände der ackerbautreibenden Bevölkerung ausübte, war umgekehrt auch wieder für seine eigene Entwicklung von Vorteil. Für die geistige Anregung, die es dem Landvolk gab, für die Hebung der Landkultur, die es durch seine Anforderungen hervorrief, gewann es an dem Landvolk in den Kämpfen gegen Adel und Geistlichkeit einen Bundesgenossen, dem es übrigens nicht immer mit Dank lohnte. Das haben die Reformation und der Bauernkrieg gezeigt.


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