Einleitung

Das wichtigste Ereignis der deutschen Geschichte des Mittelalters ist der deutsche Bauernkrieg. Es ist ein schlimmes Zeichen von der geringen Aufmerksamkeit, welche die große Mehrzahl unserer Geschichtsschreiber und Kulturhistoriker dem gesellschaftlichen Entwicklungsgange schenken, dass sie die Episode des Bauernkriegs meist nur ganz vorübergehend erwähnen, oder ihn als einen willkürlichen Ausbruch bäuerlicher Rohheit und bäuerlichen Mutwillens darzustellen suchen. Der Mangel an Erkenntnis und an Einsicht in den gesellschaftlichen Entwicklungsgang erklärt auch die falsche und höchst einseitige Auffassung, welche die betreffenden Gelehrten über die geschichtlichen Vorgänge überhaupt besitzen.

Im täglichen Leben gilt es bei Jedermann von einiger Urteilsfähigkeit als unbestritten, dass die materielle Lage, in welcher der Einzelne sich befindet, von ausschlaggebender Bedeutung für seine physische wie intellektuelle Entwicklung und seine ganze Lebensstellung ist. Es wird als eine Ausnahme von der Regel, als etwas Ungewöhnliches anerkannt, wenn ein Mensch aus den untersten schichten der Gesellschaft sich zu geistiger und materieller Selbstständigkeit und Bedeutung emporarbeitet. Auch herrscht darüber kein Zweifel, dass die soziale Stufe, auf welcher ein Mensch steht, Wünsche und Interessen bei ihm erweckt, welche seine ganze private und öffentliche Tätigkeit, sein ganzes Denken und Handeln bestimmen. Was von dem Einzelnen gilt, muss auch von der Gesamtheit gelten. Die auf gleicher sozialer Stufenleiter Stehenden bilden Stände und Klassen, die von bestimmten Ideen und Interessen beherrscht werden. Die Gleichartigkeit ihrer Interessen veranlasst sie sich zur Förderung derselben, und wo sie angetastet werden, zu ihrer Verteidigung zu verbinden. Ihre soziale, politische und religiöse, wie ihre gesamte geistige Tätigkeit wird stets darauf gerichtet sein, ihr Ziel, die höchst möglichste Förderung ihrer Interessen, zu erreichen, indem sie versuchen, der gesamten Gesellschaft den Stempel ihres Standes- oder Klasseninteresses aufzudrücken, ihr Standes- oder Klasseninteresse zu dem die Gesellschaft beherrschenden Interesse zu machen.

Hieraus ergibt sich, dass Niemand ein Zeitalter oder ein Zeitereignis richtig würdigen kann, der nicht in erster Linie eine möglichst genaue Kenntnis der sozialen Lage der verschiedenen Gesellschaftsschichten hat, die in jenem Zeitalter existierten und bei dem fraglichen Ereignis als tätiger oder leidender Teil ihre Rolle spielten. Aber nach einer Untersuchung und Darlegung der sozialen Grundlagen, d.h. der gesellschaftlichen und insbesondere der ökonomischen Beziehungen der Menschen in den verschiedenen Geschichtsperioden, suchen wir in unseren Geschichtsbüchern meist vergebens. Die Folge ist, dass die Quellen hierüber sehr spärlich vorhanden sind und viel an Klarheit und Bestimmtheit zu wünschen übrig lassen. Diese einseitige Behandlung der Geschichte kommt daher, dass man in der geschichtlichen Entwicklung nicht eine Wirkung bestimmter Gesetze sieht, deren Beherrschung außerhalb der Macht einzelner Persönlichkeiten liegt, und seien sie noch so mächtig und genial, sondern dass man die Ansicht hat, die geschichtliche Entwicklung trage den Charakter, den einzelne mächtige und geistig hervorragende Männer ihr aufzudrücken belieben. Von den Tugenden und Fehlern dieser einzelnen hervorragenden Menschen soll es abhängen, ob die geschichtliche, und damit zusammenhängend, die ganze Kulturentwicklung eines Volkes diesen oder jenen Verlauf nimmt, zum Guten oder zum Schlimmen sich wendet. Die notwendige Folge einer solchen Auffassungsweise ist der Heroen- und Großemänner-Kultus, welcher in so widerlicher Weise sowohl in unsern Geschichtsbüchern wie im täglichen Leben sich breit macht, welcher die einzelne hervorragende Person auf Kosten der Gesamtkräfte und des Gesamtgeistes eines Volkes erhöht, welcher in der Person nicht das zufällige Werkzeug erblickt, dessen die treibende und entscheidende Kraft im Volke sich bedient, sondern in der Person selbst die Kraft sieht, welche als eine Art Vorsehung das Volk nach Gutdünken leitet und führt.

Diese Geschichtsauffassung steht in innigem Zusammenhang mit der spiritualistischen Weltanschauung, im Gegensatz zur materialistischen. Sie beruht auf der künstlichen Trennung dessen, was man den Geist der Zeit nennt, von dem Körper des Volks, sie schreibt diesem Geist der Zeit eine außerhalb der materiellen Existenzbedingungen des Volkes entsprungene Entstehung zu. Sie lässt ihn willkürlich von den Leitern der Völker produzieren, und lässt ihm ebenso willkürlich von Zeit zu Zeit, durch die sogenannten großen Männer, eine neue Richtung geben. Diese Geschichtsauffassung stellt die Dinge, wie sie tatsächlich sind, auf den Kopf. Alles ist in ihren Augen Willkür, die ganze Menschheitsentwicklung nur das Werk einzelner, ganz besonders begnadeter Persönlichkeiten, denen die Menschheit natürlich nicht genug Dank schulden kann, und vor denen sie sich anbetend im Staube wälzen und auf dem Bauche kriechen muss.

Diese auf dem Autoritätsglauben beruhende Geschichtsauffassung ist in einem ökonomisch unentwickelten, und damit zusammenhängend, geistig tiefstehenden Gesellschaftszustand entstanden, und sie wird heute gelehrt, gepflegt und begünstigt, weil sie eine Existenzbedingung für die Herrschenden ist. Mit dem Sturze des Autoritätsglaubens auf dem geschichtlichen Gebiet; mit der Anerkennung, dass es die Lebens- und die Fortschrittsbedingungen der Menschheit im Allgemeinen, und jedes einzelnen Volkes im Besonderen sind, die auch die politische Entwicklung bedingen, haben die Autoritäten ohne Ausnahme aufgehört, ist es mit dem Personenkultus zu Ende, nimmt das Volk seine Geschicke selbst in die Hand.

Darum gehen auch die Autoritätsgläubigen und die Autoritäten lehrenden Geschichtsschreiber so eifrig mit der Religion Hand in Hand. Die Autoritäten bedürftige Geschichte stammt mit der Religion aus derselben Quelle, der Unwissenheit.1) Beide werden heute gegen die bessere Erkenntnis gewaltsam aufrecht erhalten und dem Volke gelehrt, weil sie denselben Zwecken dienen, der Herrschaft und der Ausbeutung. Wie jeder Religionslehrer ein Feind des wahren Fortschritts der Menschheit ist, so ist es auch jeder Autoritäten verteidigende Geschichtslehrer. Sie sind gefährliches Unkraut unter dem Volksweizen, das ausgerottet werden muss.

Wir sagten oben mit Vorbedacht, dass die gang und gäbe Geschichtsauffassung auf der spiritualistischen, also nicht der idealistischen Weltanschauung beruhe. Der Idealismus, insofern er das Streben nach Erreichung eines möglichst vollkommenen Zustandes, das Streben nach höchster Vervollkommnung der Menschheit ausdrücken soll und dies kann allein sein wahrer Sinn sein, steht mit dem Materialismus in durchaus keinem Widerspruch. Wir nehmen vielmehr den echten Idealismus für den Materialismus allein in Beschlag, weil letzterer nur die vernunftgemäße, auf Natur- und sozialen Gesetzen beruhende Fortentwicklung der Menschheit lehrt und erstrebt. Der Idealismus, insofern er in Gegensatz zum Materialismus gebracht wird, ist Spiritualismus und in seinem Extrem Utopismus, Fantasterei.

Es bedarf wohl nicht erst der Erklärung, dass unter Materialismus und materialistischer Weltanschauung hier nicht die rohe Genusssucht, wie sie die heutige Bourgeoisie übt, und ihre wilde Sucht nach Geld und Gut verstanden wird, sondern die Anschauung, wonach die Materie die Grundursache alles Lebens und aller Bewegung ist, und wonach von den materiellen Existenzbedingungen die Fortentwicklung der Wesen, also auch des Menschen und der Menschheit abhängt.

Die Pflanze bedarf, um existieren zu können, des Lichts, der Luft und eines Bodens, der diejenigen Nahrungsstoffe in genügender Menge enthält, welche zu ihrem Aufbau nötig sind. Ist der Boden für ihre Ansprüche zu mager oder fehlen ihr Luft und Licht, so verkümmert sie; ist der Boden zu fett, so schießt sie ins Kraut und verfällt rasch dem Fäulnisprozess. Wie der Pflanze so ergeht es dem Menschen und ganzen Völkern und Klassen der Menschheit. Was für die Pflanze die Muttererde, ist für den Menschen der ökonomische Zustand in dem er lebt, Luft und Licht sind die staatlichen Einrichtungen die ihn umgeben. Ist die ökonomische Lage eines Menschen eine schlechte, sind die staatlichen Einrichtungen ihm feindlich, und beides geht im Leben der Völker Hand in Hand, so verkümmert er. Ist der Mensch dagegen in zu guter ökonomischer Lage, hat er mehr materielle Mittel als er bei naturgemäßer Lebensweise verbrauchen kann und sorgt der Staat nur für ihn, d.h. für die Klasse der er angehört, dann wird er üppig und schwelgerisch, er schießt, wie die Pflanze, ins Kraut und verfällt der Rückbildung; er verfault. Ein Blick auf den Zustand der herrschenden und unterdrückten Klassen aller Völker bestätigt dies.

Jede Klasse, die herrscht, wird und muss bestrebt sein, Alles von den Beherrschten fernzuhalten, was ihre, der herrschenden Klasse Autorität untergraben könnte. Diese in der Natur des Herrschaftsverhältnisses liegende Notwendigkeit erklärt, warum auch in unserer an wissenschaftlichen Forschungen und Entdeckungen so weit vorgeschrittenen Zeit eine verrottete Geschichtsanschauung noch so viel Einfluss und Boden haben kann. Die Anhänger derselben sind ohne Ausnahme Freunde irgend einer Herrschaftsform, Verteidiger der Autorität und der Religion in irgend einer Gestalt. Klassenherrschaft, geschichtlicher Autoritätsglaube und Religion hängen also enge mit einander zusammen, stehen und fallen mit einander. Mit jeder veränderten Phase, welche die Klassenherrschaft angenommen hat, haben auch der politische Autoritätsglaube und die Religion, wenigstens in der äußeren Form, sich geändert. Mit jedem Kampfe gegen die bestehende Klassenherrschaft wird darum auch ein Kampf gegen den bestehenden politischen Autoritätsglauben und die bestehende Religion beginnen, und schließlich muss der Kampf gegen jede Klassenherrschaft auch den Kampf gegen jeden politischen Autoritätsglauben und gegen jede Religion zur Folge haben. Bei dem innigen Zusammenhang der sozialen, politischen und religiösen Institutionen gab und gibt es darum auch keine rein politische oder religiöse Revolution oder Reformation, alle diese Bewegungen, ohne Ausnahme, entsprangen und entspringen sozialen Ursachen.

So war auch die Reformation in Wirklichkeit nur der adäquate religiöse Ausdruck für die sozial- politische Bewegung, die schließlich im großen Bauernkrieg durch die zahlreichste und gedrückteste Klasse des Volks, die Bauern, zum gewaltsamen Ausbruch kam. Deshalb ist nach unserer Auffassung nicht die kirchliche Reformation, sondern der von unsern meisten Geschichtsschreibern und Kulturhistorikern so stiefmütterlich behandelte, weil unverstandene Bauernkrieg, das wichtigste Ereignis der deutschen Geschichte des Mittelalters.

Mit der Niederwerfung der deutschen Bauern war auch der Reformation der Hals gebrochen, sie wurde von da an ausschließlich ein Werkzeug der Fürsten. Diese waren es, die in den Kämpfen jener Zeit am Meisten gewannen; sie setzten ihre Gewalt an die Stelle der tausendköpfigen Gewalt der kleinen adeligen und geistlichen Herren; und schufen somit die ersten Anfänge einer politischen Zentralisation, welche der um jene Zeit langsam aufkeimenden modernen Bourgeoisie für ihre Entwicklung notwendig war. Der Bauernstand, der statt der territorialen Zentralisation der Fürstenmacht die Einheit und Zentralisation der Reichsgewalt schaffen wollte, konnte dieses Ziel nicht erreichen, weil er in ökonomischer Beziehung noch zu unentwickelt war, dagegen Adel und Geistlichkeit vereinigt mit den Fürsten ihm zu sehr überlegen waren, und die Städte, die einzigen Bundesgenossen, auf die er hätte zählen können, durch die Verschiedenheit ihrer materiellen Interessen sich nur zu halber Freundschaft, oder wohlwollender Neutralität verstanden; nicht selten aber auch in die Reihen seiner Feinde traten.

Die verschiedenartigen Stellungen, welche die vielgestaltigen Standesabstufungen der mittelalterlichen Gesellschaft im Bauernkrieg einnehmen, geben die interessantesten Belege für die Auffassung, dass, abgesehen von einzelnen über Klassenvorurteile und Klasseninteressen sich erhebenden Personen, die als Idealisten für die Unterdrückten eintreten, es nur die materiellen, also die Standes- und Klasseninteressen sind, die den politischen und religiösen Parteicharakter bestimmen.

Allerdings hängt die Möglichkeit der materiellen Entwicklung eines Volkes in erster Linie von der Bodenform, der Fruchtbarkeit, dem Klima und der geografischen Lage des Landes ab, das es bewohnt. Diese Faktoren bilden sozusagen die Grund- und Urstoffe, welche die Existenz von Menschen erst möglich machen und hemmend oder fördernd auf ihre Entwicklung einwirken. Von diesen Faktoren hängen auch ganz wesentlich die Leidenschaften, also das Naturell und der Charakter eines Volkes ab. Ist aber die ökonomische Entwicklung einmal möglich gemacht, so ist es diese, welche die soziale Schichtenbildung bestimmt und welche die ihr entsprechenden Staats- und Religionsformen begründet.

So lange die Geschichtsschreibung sich nicht damit befasst, neben dem Studium der geografischen und klimatischen Verhältnisse, und dem Zustand des Landes in Bezug auf Bodenbeschaffenheit und Fruchtbarkeit, ganz wesentlich die sozialen Verhältnisse gründlich zu untersuchen, kann von einer richtigen Auffassung und einem vollständigen Begreifen der geschichtlichen Vorgänge eines Volkes keine Rede sein.

Den ökonomischen Entwicklungsgang der Klassen zu schildern, welche im Bauernkrieg ihre Rolle spielten, muss also demnach die nächste Aufgabe dieser Schrift sein.

1) Wir verstehen hier unter Religion nicht die sogenannten Moralgrundsätze oder die ethischen Beziehungen von Mensch zu Mensch, und des Menschen zur Natur und zum All. Diese ethischen Beziehungen sind keine Religion, haben mit ihr absolut nichts zu tun. Religion bedeutet für uns die Verehrung irgend eines sog. höheren Wesens mit oder ohne Zuhilfenahme irgend welcher äußerlichen Formen.


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