Clara Zetkin: Gegen ein gefährliches Spiel

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 15. Jahrgang, Nr. 14, 12. Juli 1905, S. 79 f.]

Während die Revolution, die „Mutter der Freiheit“, den gewaltigen Arm über das Zarenreich ausreckt; während hier immer größere Massen sich erheben, um das selbstherrliche Regiment vor Volkswohl und Volkswillen auf die Knie zu zwingen und selbst die eigensten Werkzeuge sozialer und politischer Knechtung – Heer und Marine – zu versagen beginnen; kurz, während im Osten von Europa einer jener großen, weltgeschichtlichen „Rechtshändel“ durchgefochten wird, an denen „jeder beteiligt ist, der sich Mensch nennt“, ganz besonders aber das freiheitssehnsüchtige Proletariat: ergötzen sich im Westen Europas die „Staatsmänner“ und ihre Nachbeter und Nachtreter an dem gefährlichen Spiel der marokkanischen Frage.

Es ist uns nicht möglich, an dieser Stelle das Um und Auf dieser Frage und dieses Spieles darzustellen. Im Mittelpunkt davon steht ein Vertrag zwischen Frankreich und England, welcher der französischen Republik weitgehende Verwaltungsrechte in Marokko einräumt, dessen Hauptzweck jedoch offenbar ist, nach den Grundsätzen altehrwürdigen Schachers für diesen geringen Preis England die Obergewalt über Ägypten zu sichern.

Durch den Vertrag sollen angeblich wichtige deutsche Interessen in Marokko bedroht sein, deren Vertretung das offizielle Deutschland in einer Weise eingeleitet hat, welche die Witzblätter feierten. In Wirklichkeit sind Deutschlands Interessen in Marokko äußerst winzig. „Heiligste Güter“ können als bedroht auch von der Seegewalt träumenden Phantasie nicht heraufbeschworen werden. Und sogar die poetisch unverklärten, aber politisch ausschlaggebenden Handelsinteressen der deutschen Kapitalistenklasse sind gering genug. Die deutsche Einfuhr in Marokko beträgt jährlich nicht mehr als etwa eine Million Mark. Die französische Regierung hat außerdem ausdrücklich erklärt, dass sie in Marokko den Standpunkt der sogenannten „offenen Tür“ vertrete, das heißt den freien, ungehinderten Handelsverkehr für alle Nationen Davon abgesehen, dass die weltwirtschaftlichen Interessen des Kapitalismus unserer Tage, der mit Gewalt alle Zonen und Völler sich zins- und tributpflichtig zu machen trachtet, nicht die internationalen Interessen des Proletariats sind, die den brüderlichen Kampf aller Ausgebeuteten ohne Unterschied der Nation gegen alle Ausbeuter innerhalb und außerhalb des Vaterlandes heischen, würde also nicht einmal der Nutzen der deutschen Kapitalistenklasse einen Konflikt um den Vertrag mit dem Scheine der Rechtfertigung bekleiden.

Sicherlich, dass Frankreichs Interessen in Marokko weit erheblicher sind, als die Deutschlands. Durch sein Kolonialland Algier ist es Marokkos Grenznachbar, und recht einflussreiche Kapitalistenklüngel haben in dem afrikanischen Reich manches gewagt und möchten möglichst viel ernten. Immerhin sind auch die Interessen der gesamten französischen Kapitalistenklasse nicht derart engagiert, dass um sie ein Krieg mit seinen Konsequenzen lohnen würde. Allerdings sucht England den Konflikt zu schüren. Sein Wunsch, Deutschland, den gefährlichen und gehassten wirtschaftlichen Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu isolieren, ist durch die Albernheiten der Dreizackspolitik noch gesteigert worden, und die Situation scheint seinem Wünschen günstig. Aber die kühle, wuchtige Sprache der tatsächlichen Verhältnisse lässt seine giftige Hetzerei in sich zusammenbrechen. Die französische Republik hat mit anerkennenswerter Überwindung von Empfindlichkeit ihre Friedensliebe, ihr Streben nach Beilegung jedes ernsten Konflikts mit Deutschland unzweideutig bekundet, indem sie dem weltabenteuerlüsternen Minister Delcassé, dem Vater des Vertrags, den Laufpass gab. Die Bedeutung seines Sturzes hat sie durch die prinzipielle Zustimmung zu einer Konferenz besiegelt, die im Herbst die marokkanische Frage regeln soll.

Wohl raunen Diplomaten mit hochgezogenen Augenbrauen von der Gefahr eines schweren Konflikts, um angesichts der großen revolutionären Ereignisse in Russland daran zu erinnern, dass ihre erbärmliche Zwerghaftigkeit noch immer existiert und über Wohl und Wehe von Millionen mitentscheiden darf. Wohl wird sie von Journalisten aufgebauscht, die ihre Einsichtslosigkeit gegenüber den weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Verknüpfungen mit politischen Kannegießereien verdecken und nebenbei den Ruf erlangen möchten, mit den Regierenden auf dem vertraulichen Fuße von Kammerdienern zu verkehren. Wie die Dinge liegen, dünkt uns trotz allem die Gefahr eines verhängnisvollen, abscheulichen Krieges ausgeschlossen.

So wenig daher auch in Deutschland das Proletariat Anlass hat, sich durch das Gespenst einer furchtbaren Katastrophe schrecken und täuschen zu lassen, so wenig darf es eine aus der Sachlage erwachsende Pflicht versäumen. Mit allem Nachdruck muss es Protest erheben gegen das gefährliche Spiel, das Regierungsmänner und ihre Pressekosaken mit dem Feuer des Konflikts treiben. Die kapitalistische Entwicklung hat auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet so viel verschlungene Zusammenhänge geschaffen, und so viel Zündstoff angehäuft, dass bei anders gelagerten Umständen als jetzt sich sehr leicht auch an einem kleinen Funken ein großer Brand entzünden kann. „An den Galgen mit denen, die zum Kriege Hetzen“, hat ein gescheiter Engländer kürzlich in Berlin gesagt!

Es versteht sich am Rande, dass der allgemeine Protest sich augenblicklich zuspitzen muss zum schärfsten besonderen Einspruch gegen die frevelhafte Kinderei, in weltpolitischer Großmannssucht Reibereien heraufzubeschwören, welche geeignet sind, die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland zu verbittern. Angesichts des chauvinistischen Kitzels bestimmter Kreise diesseits und jenseits der Vogesen hat das Proletariat hüben wie drüben seinen unerschütterlichen Willen zu bekunden, sich brüderlich geeint dem Kriege von Rasse zu Rasse entgegenzuwerfen, um in dem Kampfe von Klasse zu Klasse der Freiheit und Kultur eine Gasse zu bahnen.

Über die bekämpfte gemeingefährliche Spielerei der Stunde hinaus trifft aber der Protest des Proletariats das System, von dem sie erzeugt und genährt wird. Es ist die Ordnung des krachenden Kapitalismus, die – wie in einer unserer besten Broschüren, in Mehrings „Weltkrach und Weltkrisis“ lichtvoll nachgewiesen ist – zur gewalttätigen, bluttriefenden Weltmachtpolitik treibt, weil sie sich blindwütend gegen eine gesunde Sozialpolitik sträubt.

In Frankreich und England sind unsere Genossen als tapfere Kämpfer gegen die wüste Konfliktshetze, als begeisterte Verfechter einer Weltpolitik des Friedens auf den Plan getreten. Die geeinten französischen Sozialisten haben insbesondere reichlich das Ihrige dazu getan, dass Herrn Delcassé die Möglichkeit zum Stiften von Unheil versalzen wurde. Das klassenbewusste deutsche Proletariat ist eines Sinnes, eines Willens mit seinen englischen und französischen Brüdern. Diese Übereinstimmung soll ihren Ausdruck darin finden, dass zu den Berliner Proletariern Jaurès als Vertreter jenes ehrenreichen französischen Sozialismus sprechen wird, der, als Frankreich noch aus den tausend Wunden der Niederlage blutete, durch den Mund der Guesde, Vaillant, Lafargue mit kühnem Stolze die Verbrüderung der deutschen und französischen Arbeiterklasse dem revanchehungrigen Mordspatriotismus der Besitzenden entgegenstellte. Umgekehrt soll in Paris Bebel als der berufenste Wortführer der deutschen Sozialdemokratie reden, zu deren glänzendsten Ruhmestiteln es gehört, dass sie unter der Weißglühhitze des nationalen Siegestaumels ihre Stimme gegen den Krieg mit Frankreich erhob und sich mit den Helden der Kommune solidarisch erklärte.

Die Kundgebungen von Berlin und Paris sollen die Herrschenden und Regierenden daran mahnen, dass das sozialistisch geschulte Proletariat seine Erkenntnis und seinen Willen zur Macht zusammengeballt in die Waagschale der Entscheidung über Krieg und Frieden werfen wird. Die neue Internationale geht in unseren Tagen daran, die Aufgabe zu erfüllen, welche ihr die Inauguraladresse der alten Internationale gewiesen hat, und die darin besteht, „sich der Mysterien der internationalen Staatskunst zu bemeistern, die diplomatischen Streiche der Regierungen zu überwachen und ihnen nötigenfalls mit allen Mitteln entgegenzuarbeiten“ [zeitgenössische Übersetzung: „in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken“]. Sie kämpft gegen diplomatische Spielereien, die jeden Augenblick zu weltpolitischen Verbrechen werden können.


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