[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 25. Jahrgang, Nr. 21, 9. Juli 1915, S. 133 f., etwa die Hälfte des Textes von der Zensur gestrichen]
Seit elf Monaten treibt nun der Weltkrieg mit gewalttätiger Faust Politik. Immer größer, immer blutiger sind die Kreise geworden, die er zieht. Italien wurde in den Strudel des Weltkriegs gerissen, und so unsicher, so schwankend sind die Umstände, die darüber entscheiden, ob weitere Staaten an die Seite des Zweibundes oder des Dreiverbands treten werden, dass der Bierbankpolitiker die Antwort auf die Frage danach fast an den Knöpfen seiner Weste abzählen könnte.
[ca. sechs Zeilen Zensurstreichung]
So scheint der Weltkrieg unberechenbare Möglichkeiten im Schoß zu bergen, Möglichkeiten, die an Furchtbarkeit noch das Grausige überbieten würden, das beinahe zur ergeben hingenommenen Alltagserscheinung geworden ist. Während die Menschen fieberhaft gespannt, gleichsam mit verhaltenem Atem in die nächste. Zukunft lauschen, dehnen sich die Schlachtfelder riesiger und riesiger, türmen sich die Ruinen von unschätzbaren Kulturwerken höher gen Himmel, schwellen die Ströme des Opferbluts an, das der Weltkrieg vergießt. Was soll das werden? Wie lange noch, wie lange? Das sind die Fragen, die mit wachsender Herzensangst und Eindringlichkeit sich auf die Lippen drängen, und die namentlich die Seelen der Frauen bewegen, die die teuersten Leben und die hehrsten Ideale bedroht wissen, die härtesten Sorgenbürden tragen und mehr noch als die Männer von einer freien, kraftvollen Kulturentwicklung zu erwarten haben.
Doch in den unheilvollen Stunden der Weltkriegsnacht blitzen jetzt zahlreicher und heller Hoffnungslichter auf. Langsam beginnt sich eine Armee des Friedens zu sammeln. National und international. In allen Ländern wächst die Friedenssehnsucht und erstarkt zum Friedenswillen, der Tat zu werden begehrt. Am lautesten erschallt der Ruf nach dem Ende des Würgens in den neutralen Staaten, wo sich die Kriegsnöte in steigendem Maße fühlbar machen und größere politische Freiheit herrscht. Jedoch ungeachtet aller Hemmnisse gewinnt auch in den kriegführenden Ländern die Friedensströmung an Breite und Kraft. Immer bewusster suchen sich die Willen und Hände der Friedeheischenden über die Grenzen und Schlachtfelder hinweg.
Die bürgerlichen Friedensfreunde werben eifrig und nicht ohne Erfolg für ihre Ideale, und so wenig die Bewegung für den Kampf der werktätigen Massen gegen den Krieg richtung- und zielgebend sein kann, so ungerechtfertigt und unklug wäre es, sie mit geringschätzigem Achselzucken abzutun. Sie verdient Beachtung als Symptom dafür, dass in den bürgerlichen Schichten die Zahl derer wächst, die – ohne die letzte gesellschaftliche Wurzel der zeitgenössischen Kriege zu erkennen – doch vor [Zensurstreichung] der Kulturfeindlichkeit blutiger Völkerwaffengänge selbst zurückschaudern.
Allein bedeutsamer als das Vorwärtsdrängen des sogenannten Pazifismus ist die überhandnehmende Bekundung des proletarischen Friedenswillens. Er hat von Kriegsbeginn an nachdrücklich in den neutralen Staaten Europas geredet und erst kürzlich in Holland durch den Beschluss des sozialdemokratischen Vertretertags unzweideutigen Ausdruck gefunden, dass die Fraktion die von der Regierung beantragte Ausdehnung der Landsturmpflicht abzulehnen habe.
[ca. sechs Zeilen Zensurstreichung] Man erinnert sich der alten Maßstäbe für geschichtliche und soziale Dinge, der früher vorangetragenen Ideale. In: Lichte der Wirklichkeit erscheint die internationale Solidarität der Proletarier aller Länder wieder fest umrissen, greifbar klar und zwingt zur Forderung des Friedens zwischen den Völkern. [ca. sechs Zeilen Zensurstreichung]
Fast hätte man meinen können, dass in Frankreich die vom Krieg ins Rollen gebrachte nationalistische Lawine alles sozialistische Leben begraben habe. Es schien, als ob die Blockpolitik der nationalen Verteidigung widerspruchslos und restlos über die Grundsätze des internationalen Sozialismus triumphiere. Aber siehe: allmählich klangen aufrechte Bekenntnisse zu den sozialistischen Idealen über die Grenze, flammende Aufrufe an die französischen Proletarier, sich von der Bundesgenossenschaft mit den Herrschern und Nutznießern des kapitalistischen Frankreichs loszusagen und den alten heiligen Pakt mit den Brüdern und Schwestern der anderen Länder zu erneuern, um den Frieden zu erkämpfen, den Frieden zu sichern. Heute sind es nicht mehr einzelne Gewerkschafts- und Parteiführer, ein kleines Häuflein sozialistischer Frauen, denen angesichts des Weltkriegs die internationale Solidarität der arbeitenden Massen der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht dünkt. Einflussstarke Gewerkschaften und die kräftigsten sozialistischen Parteiorganisationen der Provinz wie die der Haute-Vienne und des Rhônedepartements fordern die Abkehr der Sozialdemokratie von der jetzigen Taktik, rufen im Namen des Sozialismus das französische Proletariat auf den festen Boden des Klassenkampfes und der selbständigen Aktion zurück und weisen ihm als vornehmste Aufgabe der Stunde den sofort aufzunehmenden Kampf für den Frieden. [mehr als eine Spalte Zensurstreichung]
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