Ted Grant: Die Bedeutung von Russlands neuer Verfassung

[eigene Übersetzung aus: Socialist Fight, Jg. 4 Nr. 4 (Mai 1962)]

Die Vorbereitungen zur Einführung einer neuen Verfassung in Russland sind ein Hinweis auf die Unruhe, die unter der Oberfläche des totalitären Systems in der Sowjetunion herrscht.

Die erste Verfassung der Sowjetunion war ein revolutionäres Dokument, das versuchte, durch die Sowjets die volle Macht in die Hände der Arbeiterklasse zu legen. Auf diese Weise sollte in einem „Halbstaat“ die Herrschaft der Arbeiterklasse oder, im Marxschen Sinne, die Diktatur des Proletariats ausgeübt werden. Dies sollte die revolutionärste und demokratischste Doktrin der Geschichte sein. In den ersten Tagen der Revolution wurde sie zumindest teilweise verwirklicht.

Die stalinistische Verfassung

Nach der stalinistischen Reaktion kam es zur Einführung der stalinistischen Verfassung, die von ihren Verfassern als die „demokratischste der Welt“ bezeichnet wurde. Diese Verfassung war, auch formal, ein Rückschritt gegenüber dem flexiblen Instrument der Vergangenheit. Sie etablierte „Parlamentarismus“ nach kapitalistischem Vorbild.

Natürlich war sie in Worten sehr demokratisch. Das einzige, was in Russland verboten war, war der Versuch, die in der Verfassung erklärten und in ihren Klauseln verankerten Rechte auszuüben. Das Recht, die Person seiner Wahl zu wählen, die Rede- und Pressefreiheit, die Freiheit des Einzelnen und alle anderen Freiheiten waren auf dem Papier festgelegt. Aber sie gingen einher mit einer der blutigsten Säuberungen oder einseitigen Bürgerkriege in der Geschichte der Menschheit. Praktisch die gesamte bolschewistische Führung, die die Revolution durchführte, wurde ermordet. Hunderttausende und sogar Millionen von Arbeitern und Bauern wurden zur Sklavenarbeit nach Sibirien verschleppt.

Totalitäre Wahlen

Die grässlichste Farce waren die totalitären Wahlen mit nur einem einzigen Kandidaten, einer „freien Wahl“, bei der die Wähler für die ausgewählten Werkzeuge der herrschenden Bürokratie stimmten. In diesen Jahren gab es die Abschaffung der Gleichheit, genauer gesagt, der strikten Begrenzung der Privilegien, einschließlich dessen, dass kein Beamter ein höheres Gehalt als ein Facharbeiter erhalten durfte. Die Idee der Gleichheit wurde zu einem kapitalistischen Vorurteil erklärt. Die unkontrollierte Bürokratie schnappte sich gierig einen immer größeren Anteil des Volkseinkommens, auf Kosten der einfachen Arbeiter und Bauern. Die stalinistische Verfassung war ihre Verfassung. Die eigentliche Krönung der Verfassung war die letzte „Wahl“ vor dem Krieg, als „Stalin der Große“ sich als wahrer Zauberer entpuppte, indem er mehr als 105 Prozent der Stimmen in seinem Wahlkreis erhielt! Dies ist ein passender Kommentar zur Farce der Verfassung.

Doch zweifellos war die stalinistische Verfassung im bonapartistischen oder diktatorischen System der Sowjetunion ursprünglich als Kontrolle und Bremse für die schlimmsten Auswüchse der unkontrollierten Bürokraten gedacht. Sie war als Peitsche in den Händen des Autokraten Stalin gedacht, der nicht abgeneigt war, sich gelegentlich auf die Arbeiterklasse zu stützen, wie es alle anderen bonapartistischen Diktatoren getan haben, und gelegentlich dem Beamtentum, den Spitzen der Partei, des öffentlichen Dienstes, der Streitkräfte und der allgemeinen Verwaltungshierarchie, zu der auch die neu privilegierten Manager und andere Kontrolleure der Industrie gehörten, Schläge zu versetzen. Sie drohten den Staat mit ihren Privilegien, ihrer Gier und ihrer Korruption zu verschlingen. Daher war die stalinistische Verfassung ursprünglich als ein System der Kontrolle und des Ausgleichs gedacht. Sie war nicht nur als Augenwischerei gedacht. In diesem Sinne war sie jedoch zum Scheitern verurteilt, und zwar aus dem besonderen Grund, dass die Bürokratie, die sich von einer Lösung ihrer Probleme zur nächsten hangelte, nicht zugeben konnte, dass sie sich zu einem Hindernis und Anachronismus entwickelte. Mit der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft wagte sie es nicht, auch nur die geringste Andeutung einer echten Arbeiterdemokratie und einer Kontrolle durch die Arbeiter selbst zuzulassen.

Wachstum der Sowjetwirtschaft

Mit dem Wachstum der Sowjetwirtschaft hat die Entwicklung der Industrie, die technische Kompetenz der Arbeiterklasse, die Bildung und Kultur der Werktätigen enorm zugenommen. Darüber hinaus ist aus einer Gesellschaft mit überwiegend bäuerlicher und Bauern-und-Arbeiter-Zusammensetzung die Arbeiterklasse von 60 Millionen zu einer entscheidenden potentiellen Kraft in der sowjetischen Gesellschaft geworden. Ihr stiller Druck durchdringt die sowjetische Gesellschaft.

Ein weiterer, vielleicht entscheidender Grund für die Chruschtschow-Reformen und die Entstalinisierung der letzten Jahre war obendrein die Tatsache, dass die Bürokratie selbst immer mehr alarmiert war, als sie erkannte, dass sie das Haupthindernis für die Entwicklung der Produktion auf einem höheren Niveau als dem gegenwärtigen ist. Durch ihre unkontrollierte Verschwendung und Spekulation, durch ihre bürokratische Ineffizienz behindert sie die volle und freie Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft, die nur dann harmonisch sein könnte, wenn die Arbeiterklasse selbst auf allen Ebenen der Industrie und der Regierung mitwirkt und sie kontrolliert.

Chruschtschow plagiiert Stalin

Nun hat Chruschtschow eine neue Verfassung angekündigt, die als Plagiat an der stalinistischen Verfassung „die demokratischste der Welt“ sein soll. Chruschtschow sagte in seiner Rede zu diesem Thema: „Sie soll die neue Etappe in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft und des Staates widerspiegeln; sie soll die sozialistische Demokratie auf ein noch höheres Niveau heben; sie soll noch festere Garantien für die demokratischen Rechte und Freiheiten der arbeitenden Menschen, Garantien für die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit schaffen und die Bedingungen für den Übergang zur öffentlichen Selbstregierung vorbereiten.“ Als Geste gegenüber den Imperialisten im Ausland soll die „friedliche Koexistenz“ in die Verfassung hineingeschrieben werden.

Der Zweck der Verfassung ist angeblich, den Sieg des Kommunismus voranzutreiben, wobei der „Sozialismus“ und die Herrschaft der Arbeiterklasse weit hinter sich gelassen wurden. In Wirklichkeit verfolgt diese Verfassung die gleichen Ziele wie die ursprünglich von Stalin entworfene Verfassung. Die Chruschtschow-Bürokratie war alarmiert über das beispiellose Ausmaß von Korruption und Vetternwirtschaft in hohen Positionen, deren skandalöseste Ausmaße gelegentlich in die sowjetische Presse durchsickern, die Bestechung und Bestechlichkeit in Höhe von Hunderttausenden und sogar gelegentlich Millionen von Pfund. Chruschtschow versucht im Namen des Fortschritts zum Kommunismus für die gefräßige Kaste, die er vertritt, etwas Kontrolle und Ausgleich einzuführen. Vergeblich! Es wird sich als ebenso vergeblich und hoffnungslos erweisen wie die stalinistische Verfassung der Vergangenheit. Darauf deuten die drakonischen Gesetze hin, darunter die Wiedereinführung der Todesstrafe für Rowdytum, Betrug, Schwindel, Diebstahl von Staatseigentum usw., die Tiraden in der offiziellen Presse gegen die Gewalttätigkeit eines Teils der Jugend, die die Papageienrufe der Kapitalisten nachahmen, wenn sie die Jugend kritisieren. Sie erklären: „Sie wollen nicht arbeiten“… sie sind ein Haufen von „Müßiggängern, Taugenichtsen und verschiedenerlei Schurken“.

Pläne entlarvt

Das ganze Gerede über den Übergang zum „Kommunismus“ kann – abgesehen von der wirtschaftlichen Frage, auf die hier nicht eingegangen werden kann – leicht entlarvt werden. Der gleiche fundamentale Fehler besteht in der Verfassung. Es ist wie mit dem nackten Kaiser und den imaginären Kleidern, die er angeblich tragen soll. Das einzige wirkliche Recht in der Verfassung, nämlich das Recht, von ihr Gebrauch zu machen, wird in der Realität genauso wenig existieren wie in der stalinistischen Verfassung. Wie Stalin versucht auch Chruschtschow, die Quadratur des Kreises zu schaffen.

Der beste Test für die Ansprüche der Verfassung kann durch einen kleinen theoretischen Einblick gegeben werden. Die ursprüngliche sowjetische Verfassung nahm sich die vier von Marx und Lenin ausgearbeiteten Prinzipien zum Vorbild, nicht für einen angeblichen „Übergang zum Kommunismus“, sondern einfach für die Herrschaft der Arbeiterklasse unter äußerst beschwerlichen, rückständigen und allgemein schwierigen Bedingungen.

1. Sowjets mit freien Wahlen und dem Recht auf Abberufung.

2. Keinem Beamter darf mehr als einem Facharbeiter bezahlt werden.

3. Kein stehendes Heer, sondern ein bewaffnetes Volk.

4. Keine ständige Bürokratie. Jeder erledigt der Reihe nach die Aufgaben der Regierung.

Echte Demokratie

Wenn die Sowjetunion wirklich zum Kommunismus überginge, würde dies die Entfaltung einer echten Demokratie bedeuten, wie es sie im Kapitalismus nicht gegeben hat. Es gäbe volle Freiheit für alle Tendenzen. Alle Organisationen der Arbeiterklasse hätten das Recht, oppositionelle Standpunkte zu äußern und zu organisieren. Unter den heutigen Bedingungen des raschen wirtschaftlichen Fortschritts wäre es sogar möglich, eine kapitalistische Opposition entstehen zu lassen. Die Unterstützung, die sie im ganzen Land erhalten würde, wäre so gering, dass sie keine größere Bedrohung darstellen würde als der Feudalismus und seine Chestertonschen Verherrlicher im kapitalistischen England.

Nichts von alledem wird geschehen. Und das aus einem guten und ausreichenden Grund. In Russland kontrolliert dieselbe herrschende Beamtenkaste, die den blutrünstigen Stalin verherrlichte und ihn als Verkörperung ihrer Interessen an die Macht brachte, vielleicht etwas gebildeter und glatter, aber es ist dieselbe herrschende Kaste. Es sind ihre Interessen, die an erster Stelle stehen und die die Verfassung schützen soll. Sie können keine echte Arbeiterdemokratie einführen, denn wie die ungarische Revolution gezeigt hat, würde dies das Ende ihrer Herrschaft bedeuten. Die Bürokratie, wie die herrschende Klasse in anderen Ländern, „wird alles für die Arbeiter und Bauern tun, außer von ihren Rücken herunterzusteigen.“ Das ist das wahre Geheimnis der Verfassung.


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