[Workers International Review, 2. Jg., Nr. 2 (April-Mai 1957), erschienen unter dem Pseudonym George Edwards]
Die tief sitzende Krankheit, die die Regime in Osteuropa und Russland verfaulen lässt, wird durch die zehnjährige Haftstrafe für Harich einmal mehr deutlich. Auf unbewusst humorvolle Weise – wenn die Umstände nicht so tragisch wären – weist der Democratic German Report [Demokratischer Deutscher Bericht] (die stalinistische Zeitschrift) darauf hin, dass die Stalinisten nicht nur in Ungarn und Russland, sondern in der gesamten Sowjetzone offen zu einigen der monströsen Methoden Stalins zurückgekehrt sind – die sie in Realität nie wirklich aufgegeben hatten.
„Eine Reihe von Zeugen der Anklage und der Verteidigung wurden vom Gericht vernommen. Drei der Zeugen – die Redakteure Gustav Just und Heinz Zöger sowie der Rundfunkkommentator Richard Wolf – wurden nach ihrer Aussage unter dem ,dringenden Verdacht der Beteiligung an der staatsfeindlichen Verschwörung‘ im Gericht verhaftet.
[Democratic] German Report kann nicht aus erster Hand über den Prozess berichten, da ausländischen Journalisten die Teilnahme an der Verhandlung nicht ermöglicht wurde. Die nächsten Angehörigen der Angeklagten waren nicht in der Lage, dem Prozess beizuwohnen.“ (Democratic German Report, 15. März 1957, S. 39).
Es entwickelt sich eine Opposition
Die Bedeutung der Harich-Ereignisse liegt jedoch nicht in der Reaktion der Behörden, sondern in der Entwicklung einer Opposition in den Reihen der Sozialistischen Einheitspartei, wie auch in anderen Parteien der Satellitenstaaten. Es ist eine Widerspiegelung der Gärung in Ungarn und Polen auf ostdeutschem Boden.
Harich und eine Reihe anderer Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei haben durch ihre eigenen Erfahrungen begriffen, dass es für die Massen und die Wirtschaft auf stalinistischer Grundlage keinen Weg vorwärts gibt. Laut Democratic German Report, der aus der Anklageschrift zitiert:
„Harich hatte den Plan gefasst, eine Reihe von Aufrufen herauszugeben, in denen die Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei aufgefordert werden sollten, der Parteiführung den Rücken zu kehren; an die Sowjetregierung und die Kommunistische Partei der Sowjetunion sollte appelliert werden, eine Position der Neutralität einzunehmen oder eine Reorganisation der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zu unterstützen. Weitere Aufrufe zur Bildung von
,Arbeiter- und Soldatenräten‘ waren geplant, und die Bevölkerung sollte diese Räte gegen die Organe der Staatssicherheit und der Volksarmee unterstützen.“ (p. 40)
Das „Verbrechen“ Arbeiterräte
Die Forderung nach Arbeiterräten oder Betriebskomitees wird also in den angeblichen Ländern des Sozialismus zu einem Verbrechen! Die Bürokratie hat sich so weit von den Vorstellungen Lenins entfernt, dass sie dies veröffentlichen kann, ohne dessen Bedeutung zu bemerken.
Die Aussage Harichs, wie sie im Observer (17. März) veröffentlicht wurde, zeigt zweierlei: auf der einen Seite die unvermeidliche Entwicklung von Opposition als Ergebnis des Systems der Repression und der bürokratischen Privilegien, und auf der anderen Seite die schreckliche Verwirrung, die der Stalinismus selbst unter den besten Elementen, die in den Reihen der stalinistischen Parteien verbleiben, gesät hat.
Aus den Berichten über den Prozess und aus dem Dokument von Harich selbst geht die – auf den ersten Blick – unglaubliche Position Harichs hervor, der gegen die Schergen Chruschtschows in Deutschland an die Herren in Moskau appelliert. Es ist ein Appell gegen die kleinen Teufel, gerichtet an den Oberteufel selbst!
Gleichzeitig sehen wir die katastrophalen Ergebnisse, die ideologische Verwirrung und den Verfall, die der Stalinismus gesät hat, in Harichs Suche nach einem speziellen „deutschen Weg zum Sozialismus“.
Trotzki hatte die unvermeidliche nationalistische Degeneration der kommunistischen Parteien vorausgesagt, die wir sowohl innerhalb als auch außerhalb des Sowjetblocks beobachten können. Dies spiegelt sich in den Ideen selbst solch oppositioneller Strömungen wie der Harichs wider.
Punkte der Verwirrung
All diese Verirrungen werden jedoch im Kampf gegen den totalitären Stalinismus beseitigt werden. Die Geistesverwirrung Harichs zeigt sich am besten darin, dass er der Meinung ist, der Sozialismus sei in der Sowjetunion aufgebaut worden. Natürlich hat er Recht, wenn er die UdSSR als Arbeiterstaat unterstützt, aber die stalinistischen Gräuel des Chruschtschowismus sind an sich schon ein Beweis dafür, dass sie noch nicht die Position des Sozialismus erreicht hat. Harich unterstützt die Ideen Trotzkis, obwohl er die Degeneration der sowjetischen Gesellschaft nur verworren erfasst.
Es ist leider klar, dass er die späteren Werke Trotzkis nicht gelesen hat: Er kennt nicht einmal die Umstände, unter denen der Kampf zwischen Trotzki und Stalin ursprünglich geführt wurde. Er glaubt die von den Stalinisten eifrig verbreitete Lüge, Trotzki sei gegen die von Stalin befürwortete Industrialisierung der UdSSR gewesen.
Die Situation war genau umgekehrt. Stalin war gegen die Fünfjahrespläne, als sie von Trotzki als Teil der Plattform der Opposition vorgelegt wurden. Tatsächlich war dies einer der Gründe für den Ausschluss der Trotzkisten im Jahr 1927. Später übernahm Stalin dieses Programm in einer karikierten Form.
Die wirklichen Fragen im Kampf von 1923-7 waren Arbeiterdemokratie gegen bürokratische Privilegien und Internationalismus gegen Nationalismus. Die Krise in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten ist eine Bestätigung für die von Trotzki vertretene Position. Victor Serge schrieb in seinem Buch „Von Lenin zu Stalin“, dass die Bürokratie sich keine 24 Stunden an der Macht halten könnte, wenn die Werke Trotzkis in der Sowjetunion veröffentlicht würden.
Die Ereignisse sind ein Beweis für die Richtigkeit dieser Tatsache. Das Fehlen einer klaren historischen und sozialen Analyse führt jedoch dazu, dass die Bewegung sowohl ideologisch als auch in jeder anderen Hinsicht zurückgeworfen wird. Viele von Harichs Ideen zeigen noch immer die Spuren der stalinistischen Schule. Eine ganze Generation ist durch die Isolierung der trotzkistischen Avantgarde in ihrer theoretischen Entwicklung zurückgeworfen worden.
Reformistische Illusionen
Das führt zu enormen Gefahren für die Entwicklung der Opposition (nicht nur in Deutschland). Harich, der mutig mit dem Stalinismus gebrochen hat, hat in den Reformismus viele Illusionen entwickelt. Er stellt sich sogar vor, dass die Sozialdemokratie Westeuropas den Übergang zum Sozialismus vollzieht.
Er glaubt, dass diese Sozialdemokratie die Einheit Deutschlands friedlich und ohne große Kämpfe erreichen kann, dass einerseits die Kapitalisten diese Position widerstandslos akzeptieren werden und dass andererseits die Bürokraten im Osten Deutschlands nicht um ihre Privilegien kämpfen werden. Der Versuch, das Großkapital zu „bekehren“, hätte die gleiche Wirkung wie sein verhängnisvoller „Appell“ an die Bürokratie.
Die Illusionen in den Stalinismus in dieser Hinsicht zeigen seine Verweise auf den achten Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas und deren Maßnahmen in Bezug auf die Organisation. Dies hat die chinesische KP nicht daran gehindert, die Ermordung der ungarischen Revolution zu unterstützen oder selbst eine durch und durch stalinisierte Partei zu sein.
Vermischt mit einigen sehr gesunden Ideen sind auch einige stalinistische. Er stellt diese Forderungen auf: Keine Privilegien mehr für führende Funktionäre, Arbeiterräte, Anhebung des Lebensstandards, korrekte Anwendung des demokratischen Zentralismus, Abschaffung der Geheimpolizei, Entlassung der Stalinisten aus der Partei.
Relikte des Stalinismus
Gleichzeitig spricht er von Wahlen nach einem Einheitslistensystem, das die Essenz des Totalitarismus ist. Anstatt auf die Herrschaft der Arbeiterräte setzt er sein Vertrauen in die Herrschaft des Parlaments. Selbst in der Frage der Herstellung der Einheit erkennt er nicht, dass der dynamische Sturz des Regimes in Ostdeutschland und die Einführung der Arbeiterdemokratie der größte Schlag wäre, der dem westdeutschen Kapitalismus versetzt werden könnte; er würde seine Macht vollständig untergraben.
Wir sind sicher, dass Wolfgang Harich mit der Zeit seine Gedanken geklärt hätte und eine konsequente leninistische Position eingenommen hätte. Er hat zum Beispiel die Bedeutung des 20. Parteitages verstanden. „Der 20. Parteitag war ein Versuch, der drohenden Revolution von unten durch eine Revision von oben zuvorzukommen und die Kontrolle in den Händen des Apparates zu behalten. Das konnte in der Praxis nicht gelingen, weil die Existenz des Apparates selbst das Haupthindernis für die Revision ist.“
Dieser Charakterisierung der Lage muss nichts hinzugefügt werden. Durch seine eigenen Erfahrungen hatte Harich den Widerspruch zwischen den stalinistischen Apparatmethoden und der wirtschaftlichen Basis verstanden. Ein Produktionsplan, der die in der verstaatlichten Wirtschaft schlummernden Möglichkeiten maximal nutzen soll, muss die volle Beteiligung und demokratische Kontrolle der Massen haben.
Der Stalinismus befindet sich in einer Sackgasse; dass er gestürzt werden wird, beweisen die Ereignisse in Russland, Polen, Ungarn – und jetzt der Fall Wolfgang Harich.
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