Leo Trotzki: Vorwort zur Artikelsammlung „Skizzen aus dem politischen Bulgarien“

[19. März 1923, eigene Übersetzung des russischen Textes. Korrekturen von russischen Muttersprachler*innen wären sehr willkommen.]

Das vorliegende Buch wurde aus Artikeln zusammengestellt, die ich in den Jahren 1912-1913 (der Artikel „Balkanländer und Sozialismus“ stammt aus dem Jahr 1910) aus und über Bulgarien geschrieben habe. Bulgarien hat im Laufe der Jahre mehrere Etappen durchlaufen. Im Jahr 1908 proklamierte es „unzeitgemäß“, wie die patriotische russische Presse ihm vorwarf, seine vollständige Unabhängigkeit von der Türkei. Im Jahr 1912 zog es zusammen mit drei Balkan-Verbündeten in den Krieg gegen die Türkei. Nach seinen großen Siegen, die sein Territorium außerordentlich vergrößerten, wurde Bulgarien selbst von Rumänien, Griechenland und Serbien angegriffen und verlor den größten Teil seiner Eroberungen. Im Europäischen Krieg suchte Bulgarien die Revanche an der Seite der Mittelmächte, erlebte gemeinsam mit ihnen eine Zeit schwindelerregender Erfolge und war schließlich das erste Land, das fiel und eine totale Niederlage erlitt. Als Resultat all dieser Ereignisse waren die alten Regierungsparteien in Bulgarien erledigt. Ihre Chefs, die in den Ministerien des alten Russlands und des Vorkriegseuropas ein und aus gingen, sitzen heute zumeist im Gefängnis.

Die einzige bürgerliche Gruppierung, die noch in der Lage ist, den Anschein einer staatlichen Existenz in Bulgarien aufrechtzuerhalten, ist die Bauernpartei, geführt von Stambolijski. Jedoch die Regierung Stambolijski selbst wird durch die abwartende Politik der Kommunistischen Partei, der einzigen wirklich handlungsfähigen politischen Organisation in diesem heruntergekommenen und unterdrückten Land, gehalten. Die abwartende Politik der bulgarischen Kommunisten wird wiederum nicht von internen, sondern von internationalen Erwägungen bestimmt: Die Arbeiterpartei in Bulgarien ist stark genug, um die Macht zu übernehmen, aber die Lage auf dem Balkan und im übrigen Europa war im Laufe der Jahre nicht so, dass sie im Falle einer Intervention ihrer bewaffneten Nachbarn mit einem Machterhalt rechnen konnte. Und eine solche Intervention war unvermeidlich.

Beim ersten Umschwung in der weiteren politischen Entwicklung Europas, und dieser Umschwung, und ein sehr abrupter, wird unweigerlich nach dem hoffentlich baldigen Zusammenbruch des jetzt siegreichen europäischen Poincarismus und Faschismus kommen, ist die bulgarische Arbeiterklasse dazu bestimmt, eine revolutionäre Initiativrolle in Südosteuropa zu spielen. Schon dies eine macht es notwendig, sich mit den inneren Verhältnissen Bulgariens vertraut zu machen.

Meine Artikel charakterisieren hauptsächlich den gestrigen Tag. Aus diesem Grund habe ich mich an Genossen Christo Kabaktschieff, einen der ältesten bulgarischen Marxisten und Führer der Kommunistischen Partei, mit der Bitte gewandt, eine kurze politische Skizze des heutigen Bulgariens zu geben. Ich denke, dass die Leser zusammen mit mir dem Genossen Kabaktschieff für seinen wertvollen Beitrag zu diesem Buch dankbar sein werden. Leser, die mit der tatsächlichen Geschichte der bulgarischen Politik der letzten zehn Jahre nicht ausreichend vertraut sind, sollten die Lektüre dieses Buches mit dem ersten Aufsatz des Genossen Kabaktschieff beginnen.

Einige der Artikel in diesem Buch erschienen in einer illegalen ausländischen Presse; die meisten Artikel wurden zu ihrer Zeit in der der Zensur unterworfenen russischen Presse veröffentlicht. Dies erklärt den unterschiedlichen Ton der Artikel, was jedoch nicht ausschließt, dass sie aus einem Guss sind.

Moskau, 19. März 1923.

L. Trotzki.

P. S. Das Buch war im Druck, als in Bulgarien ein Regierungsumsturz losbrach. Die „bäuerliche“ Regierung wurde gestürzt, Stambolijski ermordet, die Führer der Agrarpartei verhaftet, der Widerstand gebrochen oder niedergeschlagen, und Bulgarien wird im gegenwärtigen Moment von einem vereinigten Block bürgerlicher Parteien und zaristischer Cliquen regiert. Der hier abgedruckte Artikel des Genossen Kolarow, einem der prominentesten Führer der bulgarischen Kommunistischen Partei, jetzt Generalsekretär der Komintern, wird dem Leser zweifellos helfen, die Bedeutung des Regierungsumsturzes in Bulgarien zu verstehen.

19. Juni 1923.

L.T.


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