Clara Zetkin: Internationale Solidarität und Friedenswille der Frauen aller Länder

[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 25. Jahrgang, Nr. 9, 22. Januar 1915, S. 45 f.]

Über den dunklen Abgründen, die sich mit dem Weltkrieg zwischen den Völkern aufgetan haben, leuchten verheißungsvoll wie Sterne das starke internationale Solidaritätsempfinden und der Friedenswille der Frauen. Der Frauen, namentlich der Sozialistinnen. Mit Recht können sie in Hinblick aus das furchtbare Ringen um Weltmacht erklären: „Wir sind nicht mitschuldig daran. Das aber nicht etwa in dem zwar richtigen, aber doch recht billigen und äußerlichen Sinne, weil uns mit dem Wahlrecht die Möglichkeit zur unmittelbaren politischen Mitentscheidung über Krieg und Frieden fehlt. Nein, angesichts der zerstampften Fluren, der eingeäscherten Städte und Dörfer, der zersetzten Menschenleiber dürfen wir jede Mitverantwortlichkeit für den Krieg auf Grund jenes höheren Rechts ablehnen, dass wir unserer geschichtlichen Erkenntnis, unserer sozialistischen Überzeugung getreu mit aller Kraft für die Bewahrung des Friedens gewirkt haben. Es ist wohl keine unter uns, welches auch ihr Vaterland sei, die nicht seit Jahren bewusst und freudig ihr Bestes gegeben hat, um die heraufziehende Katastrophe des Weltkriegs abzuwenden: die nicht bereit gewesen wäre, kühn und opfermutig bis zum letzten Hauch an die Erhaltung des Friedens zu setzen.“

Der Vorbereitung einer Friedenskundgebung der sozialistischen Frauen aller Länder zu Wien. – sie sollte das Vorspiel unserer dritten internationalen Konferenz sein – waren vor dem Kriegsausbruch die letzten gemeinsamen Arbeiten unserer jungen Fraueninternationale gewidmet. Und als die Geschütze bereits auf den Schlachtfeldern in Belgien, Frankreich und Ostpreußen brüllten, kämpften in England noch unsere Genossinnen zusammen mit bürgerlichen Frauenrechtlerinnen in einer gewaltigen Protestversammlung gegen die Kriegshetzer und für den Frieden. Wahrend unser aller Stolz und Hoffnung. die große sozialistische Internationale, im Feuer der Kleinkalibrigen, Maschinengewehre und Geschütze zusammenbrach, gab die kleine sozialistische Fraueninternationale Zeichen ihres unerschütterten inneren Lebens. Über die Schlachtfelder hinweg suchten sich die Genossinnen aller Nationen in alter Überzeugungstreue, und unsere Schwestern in den neutralen Ländern halfen eifrig, das sie sich fanden.

Es wird der Ruhm unserer englischen Schwestern bleiben, dass sie in den kriegsführenden Staaten die ersten waren, die in einer „Botschaft an die Frauen aller Länder“ öffentlich ihre internationale Solidarität und ihren Friedenswillen bekundeten. Und sie taten mehr. Sie beschränkten sich nicht auf schone gefühlsmäßige Versicherungen ihres Solidaritätsbewusstseins, sondern blickten als überzeugte Sozialistinnen dem Weltkrieg ins Antlitz und enthüllten sein imperialistisches Wesen. Mutig und unerbittlich zerfetzten sie die gleißenden nationalistischen Phrasen, mit denen die Regierung ihres Vaterlandes wie die Regierungen aller nach der Weltmacht trachtenden Staaten – die furchtbare Katastrophe zu rechtfertigen, das Urteil des Volkes zu trüben suchte. So gaben sie ein schönes Beispiel geistiger Unabhängigkeit und Freiheit, gefestigter sozialistischer Erkenntnis. Die Botschaft der englischen Genossinnen fand begeisterten Widerhall bei den sozialistischen Frauen aller Länder. War die Kundgebung nicht ein Hoffnungszeichen wie der Ölbaumzweig, den nach dem altjüdischem Glauben die Taube über die zornigen Wogen der Sintflut getragen haben soll? Die Sozialistinnen der neutralen Länder begrüßten die Freundschafts- und Friedensworte freudigst. In der sozialdemokratischen Presse der skandinavischen Länder brachte ihnen Genossin Kollontai die Zustimmung der russischen Schwestern. Die österreichischen Genossinnen beschlossen auf ihrer ersten größeren Zusammenkunft eine herzliche Sympathiekundgebung. Nicht weniger warm gab Genossin Zietz in ihrer Antwort den Gefühlen und Hoffnungen der sozialistischen Frauen Deutschlands Ausdruck. Im Namen der Sozialistinnen aller Länder erwiderte Genossin Zetkin als internationale Sekretärin die Botschaft aus Großbritannien Auch sie wertete vom sozialistischen Standpunkt aus die Ursachen und den Charakter des Völkerringens und betonte, das zwischen dem Sozialismus und der kapitalistischen Weltmachtspolitik ein Paktieren unmöglich sei. Als nächste und wichtigste gemeinsame Aufgabe der Genossinnen aller Länder wies sie auf das Wirken für den Frieden hin. Inhalt und Fassung erweiterten diese internationale Antwort zu einer Äußerung sozialistischer Solidarität auch mit den Genossinnen Frankreichs, Belgiens und Russlands

Nur wenig später, in der ersten Hälfte November, forderte die internationale Sekretärin der sozialistischen Frauen in einem besonderen Aufruf zum planmäßigen und kraftvollen Eintreten für den baldigen Frieden auf. Dieser Aufruf ist in den Organen unserer Genossinnen und in vielen anderen sozialistischen Blattern der neutralen Länder erschienen. In Deutschland war seine Veröffentlichung leider noch nicht möglich, inwieweit sie in der Presse der anderen kriegsführenden Staaten erfolgt ist, entzieht sich zurzeit unserer Kenntnis. Es liegt in der Natur der Dinge, das die Genossinnen der neutralen Länder zunächst mit der höchsten Kraft sich dem Kriegstaumel entgegenzuwerfen und für den Frieden zu kämpfen vermögen. Ihrer Energie legt kein Kriegsrecht Fesseln an, und die nationalistischen Kriegslieder übertönen nicht ihren Friedensruf Wir haben bereits in letzter Nummer von der Friedensarbeit unserer holländischen Genossinnen berichtet, die noch durch Frauenversammlungen erweitert und vertieft werden soll. Die schweizerischen Sozialistinnen haben in der Weihnachtszeit eine allgemeine Friedensagitation begonnen, die mit einer wirkungsvollen Versammlung in der Jakobskirche zu Zürich eingeleitet wurde. In Skandinavien und Italien stehen unsere Genossinnen in den vordersten Reihen derer, die dem Wüten der kapitalistischen Weltmachtgier Einhalt gebieten wollen. Die Sozialistinnen der Vereinigten Staaten verdienen das gleiche Lob.

Internationales Solidaritätsbewusstsein und Friedenswille äußern sich aber auch in der Welt der bürgerlichen Frauen, zumal der Frauenrechtlerinnen, „Jus Suffragii“, das in London erscheinende Organ des Weltbunds für Frauenwahlrecht, ist bemüht, beide Ideale durch die Sturme der Zeit zu tragen. Alle Nummern, die wir seit Kriegsausbruch erhalten haben, bringen zahlreiche und tapfere Friedenskundgebungen. Gewiss stehen keineswegs alle führenden Frauenrechtlerinnen, alle Frauenstimmrechtsvereinigungen hinter ihnen. Aber immerhin ein erheblicher und wahrhaftig nicht ihr wenigst wertvoller und angesehener Teil. Es sind Frauen von Weltruf, die sich leidenschaftlich gegen den Krieg wenden. So Ellen Key, Frau ChapmanCatt usw. Namentlich sind es die amerikanischen Frauenrechtlerinnen, die mit Begeisterung und Tatkraft dem Krieg entgegenwirken. Allein es gibt kaum ein Land – die Staaten inbegriffen, die von der Kriegsfurie unterjocht sind –, in dem nicht Frauenrechtlerinnen ihre Stimme im Namen der internationalen Kultur für den Frieden erheben. In Deutschland treten besonders die Führerinnen und Organisationen in den Vordergrund, die sonst den Kampf für das allgemeine Frauenwahlrecht und die Forderungen der Demokratie am energischsten führen. Wir nennen Minna Cauer, Anita Augspurg, Lida Heymann, Frida Perlen, die Frauenstimmrechtsvereinigungen München, Nürnberg, Hainburg usw., die Friedensgesellschaft der Frauen. In England haben bürgerliche und sozialistische Frauen gemeinsam an ihre Schwestern in Deutschland und Österreich-Ungarn einen „Weihnachtsbrief“ gerichtet, der internationale Solidarität und Friedenssehnsucht atmet. An der Spitze dieser bedeutsamen Kundgebung steht die mutige und ideal gesinnte EmilyHobhouse, die durch ihr menschenfreundliches Wirken während des Burenkriegs berühmt geworden ist. Der Brief ist bezeichnenderweise im „Labour Leader“ veröffentlicht worden, dem Organ der Unabhängigen Arbeiterpartei, die unbeirrt durch die Kriegstrunkenheit großer Arbeitermassen und vieler angesehener Arbeiterführer gegen den Imperialismus und für den Sozialismus kämpft Die Unabhängige Arbeiterpartei darf sich einer Kerntruppe hervorragend tätiger Genossinnen rühmen, die schon seit Jahren die kapitalistische Weltmachtspolitik grundsätzlich und scharf bedampfen Die Ereignisse von 1914 haben die Friedensfreunde in Holland veranlasst, im „Anti-Kriegsbund“ eine zusammenfassende nationale und internationale Organisation zu schaffen, die eifrig für die baldige Beendigung des jetzigen Waffenganges zwischen den Staaten wirkt, für Abrüstung und Völkerfrieden in der Zukunft.

Das harte Leben hat uns gelehrt, Sehnsucht und Wunsch nicht für Wirklichkeit zu nehmen, auch wenn ihr Flügelschlag uns hoch über die Alltäglichkeit emporträgt und uns über ihrem Dunst reine Welten offenbart. Wir überschätzen nicht die Wirkung, die die Bekundungen des internationalen Solidaritätsbewusstseins und des Friedenswillens der Frauen für den Augenblick haben können Das Getöse der Walstatt und die Schlachtenrufe der Kriegsbegeisterten werden zunächst die Friedensstimmen der Frauen verschlingen. Aber doch nur zunächst! Lassen wir sie so laut, so allgemein werden, das sie gehört werden müssen. Im Namen des Vaterlandes haben sich in allen Staaten sozialistische und bürgerliche Frauen zu tatkräftiger, hingebungsvoller Arbeit zusammengefunden, um die Wunden zu lindern, die der Krieg schlägt. Müssten sie sich nicht erst recht zu dem größeren Werk zusammenscharen, im Namen der Menschheit sich dem Krieg entgegenzuwerfen? Den Sozialistinnen sollte es Ehrenpflicht sein, bei diesem Werke opferbereit voranzugehen.

[ca. zehn Zeilen Zensurstreichung]


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