[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 10. Jahrgang, Nr. 21, 10. Oktober 1900, S. 161 f.]
Seit dem Falle des Sozialistengesetzes hat noch kein sozialdemokratischer Parteitag sein Arbeitsprogramm so schnell erledigt, als der Parteitag zu Mainz. Die Kürze der Verhandlungen wurde nicht nur durch den Hinblick auf den bevorstehenden internationalen Sozialistenkongress zu Paris veranlasst, sie war vielmehr wesentlich noch durch andere Umstände bedingt. Zunächst war die Zahl der vorliegenden Anträge – sowohl zu den einzelnen Punkten der Tagesordnung wie solche allgemeiner Natur – keine sehr erhebliche. Dann aber traten zu einer Reihe von Verhandlungsgegenständen keine schroff von einander abweichenden Meinungen zu Tage. Geschäfts- und Tätigkeitsbericht des Parteivorstandes, der Bericht über die parlamentarische Tätigkeit der Reichstagsfraktion, die Stellungnahme zur Maifeier gaben zu keinen erwähnenswerten Debatten Veranlassung. Zur Frage der Weltpolitik kam eine Klärung der Meinungen gar nicht in Frage, hier handelte es sich nur darum, die Bedeutung des Referats und der Resolution dadurch zu verschärfen, dass dem Drängen weiter Parteikreise nach einer kräftigen einheitlichen Protestbewegung gegen die Politik der gepanzerten Faust Ausdruck gegeben ward. Die Frage unserer Beteiligung an den Landtagswahlen unter einem Dreiklassenwahlgesetz ist wiederholt ausgiebig erörtert worden. Neue Tatsachen dazu konnten weder von der einen noch der anderen Seite ins Feld geführt werden. So war es möglich, dass auch hier, aller vorhandenen Gegensätze ungeachtet, die Debatten verhältnismäßig rasch zu einem Abschluss gelangten. Dagegen wäre unseres Erachtens eine eingehendere Erörterung unserer Stellung zur Verkehrs- und Handelspolitik am Platze gewesen. Dass sie nicht erfolgt ist, erklärt sich wohl dadurch, dass weite Parteikreise noch nicht genügend von der Erkenntnis durchdrungen sind, wie einschneidend die einschlägige Frage und unsere grundsätzliche Auffassung ihr gegenüber in die „praktische Politik“ und in die Entwicklung des Wirtschaftslebens hineingreifen, wie bedeutsam sie für die Alltagsinteressen der Arbeiterklasse und der einzelnen Arbeiterfamilie, für die dauernden Klasseninteressen des Proletariats sind.
Dass der Parteitag im großen Ganzen gute, nutzbringende Arbeit geleistet hat, zeigt ein Überblick über seine Verhandlungen, das bestätigt auch der offene oder schlecht verhehlte Ärger der bürgerlichen Presse.
Der Parteitag hat die Organisation der Sozialdemokratie auf der Grundlage beschlossen, welche in dem vorgelegten Entwurf gegeben war, der von Auer mit gründlichster Sachkenntnis und frischem Humor begründet wurde. Von den vorgenommenen wenigen Änderungen dünkt uns jene am wichtigsten, welche die Zahl der Vorstandsmitglieder um zwei vermehrt, die dieses Jahr von den Kontrolleuren gewählt wurden, deren Wahl aber in Zukunft wohl sicher ebenso wie die der übrigen Angehörigen der Parteileitung vom Parteitag vollzogen werden wird. Wir hoffen, dass das Wirken der beiden Beisitzer dazu beiträgt, die Beziehungen zwischen dem Parteivorstand und den Massen der Parteigenossenschaft recht lebendig, anregend und fruchtbar zu erhalten. Dass über den Ausschluss aus der Partei nicht der Parteivorstand entscheidet, sondern ein von diesem einzuberufendes Schiedsgericht, halten wir für eine schätzenswerte praktische Verbesserung. Mit aufrichtiger Genugtuung erfüllt es uns, dass der Parteitag sich für die lose Organisationsform entschieden hat, welche dem demokratischen Wesen der Partei und den tatsächlichen Verhältnissen entspricht, mit denen sie rechnen muss. Wie breiten Kreisen der Bevölkerung, denen der Zwang der Umstände die Mitgliedschaft bei einem sozialdemokratischen Verein verwehrt, so wird damit das Recht auf Mitarbeit und Mitentscheidung in der Partei den Frauen gewahrt, denen die reaktionären Vereinsgesetze in dem größten Teile des Reiches den Eintritt in die sozialdemokratischen Organisationen verbieten. Die einschlägigen Debatten beschäftigten sich wiederholt eingehend mit der Frauenbewegung und werden eine fördernde Rückwirkung auf diese nicht verfehlen. Wir kommen an anderer Stelle ausführlich darauf zurück. Die beschlossene Organisationsform ist unserer Meinung nach stramm und zentralisiert genug, um den Zusammenschluss fester, geschulter Kader zu sichern, deren Einfluss und Disziplin in weite Kreise hinüberreicht und einen einheitlichen Aufmarsch, eine kraftvolle, einheitliche, zielbewusst geleitete Aktton der sozialdemokratischen Massen verbürgt. Andererseits aber eignet ihr die nötige Elastizität, um der Sozialdemokratie in den verschiedenen Landesteilen und Ländern jene Freiheit und Selbständigkeit der Entwicklung und des Wirkens zu gestatten, die durch die Umstände bedingt ist. Was es betreffs der Organisation noch zu bessern gelten sollte, das wird die Erfahrung bald zeigen.
Singers vortreffliches Referat, das in grundsätzlicher Schärfe die Stellung der Sozialdemokratie zur Weltpolitik markierte, sowie die anschließenden Debatten erwiesen mit erquicklicher Klarheit und Bestimmtheit, dass die Partei des proletarischen Klassenkampfes in unversöhnlichem Gegensatz der kapitalistischen Ordnung gegenübersteht und sich durch keinerlei Blendwerk und Schlagworte zu einer Milderung ihrer Gegnerschaft bestimmen lässt. Die zahlreichste Partei des Deutschen Reiches erhob in wuchtiger Einmütigkeit flammenden Protest gegen die Politik des Weltmachtskitzels und der Weltraubgelüste und stellte ihr die Politik des Proletariats entgegen, eine Politik des Friedens und der Kultur, deren Grundlage die Verbrüderung der Ausgebeuteten aller Länder ist. Gleichzeitig brandmarkte sie mit der größten Entschiedenheit die Ansätze zum persönlichen Regiment und die Nichtbeachtung der Rechte der Volksvertretung, jene Begleiterscheinungen des Hunnenkriegs in China, die ebenso die Ziele der Reaktion enthüllen, wie die erbärmliche Feigheit und Schwäche des liberalen Bürgertums. Dass die Sozialdemokratie sich nicht mit der bloßen Erklärung ihres grundsätzlichen Standpunktes zu den von den Ereignissen aufgerollten Fragen begnügt, dass sie vielmehr eine energische Massenbewegung gegen die Weltmachtspolitik, gegen den Absolutismus und für die Rechte des Parlaments entfesseln will: das gelangte in den Debatten klar zum Ausdruck. Das Gebelfer der bürgerlichen Presse, die Bannflüche der Nationalsozialen, denen Byzantinismus und Konfusionsmeierei den Begriff des Vaterlands eskamotiert haben, um ihn durch den der hohenzollernschen Dynastie zu ersetzen, werden daran nichts ändern.
Eine größere Gründlichkeit und Tiefe hatten wir der Behandlung der Frage der Verkehrs- und Handelspolitik gewünscht. Die hierzu innerhalb der Partei vorhandenen Gegensätze, die schon auf dem Stuttgarter Parteitag, sowie in Artikeln Schippels, Calwers etc. zutage getreten sind, wurden unserer Ansicht nach in Mainz nicht genügend geklärt und zum Ausdruck gebracht. Hier äußerten sie sich zunächst in dem absonderlichen Umstand, dass die Ausführungen des Referenten Calwer vielfach in scharfem Widerspruch standen zu der von ihm selbst vorgelegten Resolution. Während diese Resolution sich in der Frage der Zoll- und Handelspolitik auf den Boden des Stuttgarter Beschlusses stellt, redete Calwer mehr oder weniger verklausuliert Schutzzöllen und Repressivmaßregeln gegen schutzzöllnerische Staaten das Wort. Auch die Genossen Vollmar und David erklärten sich gegen eine grundsätzliche Freihandelspolitik. Der Calwersche Standpunkt wurde von den Genossen Molkenbuhr und Ledebour, vor Allem aber von Genossin Luxemburg grundsätzlich mit größtem Nachdruck bekämpft. Dass er nur von kleinen Kreisen innerhalb der Partei geteilt wird, bewies die Abstimmung. Mit überwältigender Majorität wurde die Resolution angenommen, nachdem sie noch durch drei von Genossin Luxemburg eingebrachte Amendements verschärft worden war, für welche die große Mehrzahl der Delegierten gestimmt hatten. – Auch in der Frage der Verkehrspolitik platzten die Meinungen betreffs der Forderung der Übernahme der Eisenbahnen durch das Reich aufeinander. Gegen die Forderung sprachen vor Allem die süddeutschen Genossen, so Vollmar, Ulrich, David und Andere, dazu Schoenlank, welche die Übernahme der Eisenbahnen durch das Reich als sichere „Verpreußung“ bekämpften. Der Parteitag stimmte unserer Ansicht nach durchaus richtig der vom Referenten und Bebel etc. vertretenen gegenteiligen Auffassung zu, die gerade in der Durchführung der formulierten Reform das Ende der „Verpreußung“ des Eisenbahnwesens erwartet, weil dieses der Dunkelkammer des preußischen Junkerlandtags und dem unbeschränkten Machtbereich der Regierung entzogen und der Kontrolle und Kritik des Reichstags unterstellt wird. Vollmars Amendement, das den betreffenden Passus aus der Resolution gestrichen haben wollte, vereinigte nur eine Minderheit der Stimmen auf sich.
Wie gegensätzlich die Ansichten einander in der Frage der Landtagswahlbeteiligung der Partei in Preußen und Sachsen gegenüberstehen, ist bekannt. Das Bedeutsame der Mainzer Verhandlungen dazu ist nicht die Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern unserer Wahlbeteiligung, sondern die geschaffene Gewissheit, dass der mit stattlicher Majorität beschlossene Wahlkampf von den Einen wie den Anderen mit der gleichen Energie und Disziplin geführt werden wird. Nichts ist alberner, als wenn ein Teil der bürgerlichen Presse aus dem Beschluss unserer Wahlbeteiligung heraus wieder einmal auf den sich vollziehenden Mauserungsprozess der Sozialdemokratie schlussfolgert und triumphierend posaunt, dass diese ihre grundsätzliche Gegnerschaft gegen die kapitalistische Gesellschaft aufzugeben beginne. Der Beschluss bedeutet nichts weiter, als dass die Sozialdemokratie ein neues Arbeits- und Kampfesfeld in Angriff nimmt, das Signal ertönen lässt zum Klassenkampf auf einem neuen Gebiet und unter den schwierigsten Verhältnissen. Dass aber, wo sie eine Aktion entfaltet, sie stets als grundsätzliche Gegnerin der herrschenden Staats- und Gesellschaftsordnung auf den Plan tritt, dass auch das gelegentliche Eintreten für bürgerlich liberale Kandidaten als für „das kleinere Übel“ nur im Interesse des schnelleren Sturzes dieser Gesellschaftsordnung geschieht: darüber haben die Mainzer Verhandlungen, sowie die vorausgegangenen Erörterungen der strittigen Frage keinen Zweifel gelassen.
Der Parteitag zu Mainz hat die äußere und innere Entwicklung der Sozialdemokratie ein gut Stück gefördert. Was er geleistet, trägt zum einheitlichen und geschlossenen Aufmarsch der Partei bei, stärkt, kräftigt und erweitert ihre Aktion auf den verschiedensten Gebieten, schärft und vermehrt die Zahl ihrer Waffen. In plastischer Deutlichkeit hat auch er aufs Neue bestätigt, dass die Sozialdemokratie die Partei des frischen, kerngesunden, geschichtlichen Lebens ist; die Partei, deren strotzende Kraft in grellem, trostreichem Gegensatz steht zu der Altersschwäche, der müden, verdrossenen Ergebung, dem Verrat der bürgerlichen Parteien: die Partei, die in nüchterner Klarheit und heißer Begeisterung alle Probleme der politischen und sozialen Entwicklung aufgreift, jeden Kampf aufnimmt, vor dem der bürgerliche Liberalismus feige zurückschreckt. So fügt der Parteitag zu Mainz der Geschichte des kämpfenden Proletariats in Deutschland ein neues Blatt zu, welches kündet, dass der Sozialdemokratie die Zukunft gehört, dass sie es ist, welche das zur menschheitserlösenden Macht heranreifende Proletariat zum Siege führt.
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