[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 25. Jahrgang, Nr. 24, 20. August 1915, S. 157 f.]
Wenn irgend ein Ereignis geeignet war, den Frauen die Augen zu öffnen über die Wichtigkeit politischer Rechte und gesetzgeberischer Mitbestimmung, so waren es die Vorgänge auf dem Lebensmittelmarkt seit Anfang des Krieges im August letzten Jahres. Jede einzelne Hausmutter, zumal jede proletarische Hausmutter erhielt hier einen drastischen Anschauungsunterricht, wohin die Dinge treiben, wenn man die Regelung der Lebensmittelversorgung und der Preise dem „freien Spiel der Kräfte“ im Wirtschaftsleben überlässt. Männer der Wissenschaft wie auch die Regierungen mussten zugeben, dass ohne einen Eingriff des Staates die Verhältnisse auf dem Lebensmittelmarkt zur Katastrophe geführt hätten, dass die in den Kriegszeiten besonders üppig wuchernde Spekulation nahe daran war, die Ernährung und damit den Bestand des ganzen Volkes zu untergraben. Umsonst versuchte man durch einen Appell an den Patriotismus der Produzenten und Händler der unheilvollen Entwicklung zu steuern. Die ganze, bisher planlose Lebensmittelerzeugung durch Tausende großer und kleiner Privatunternehmer, die Verteilung und Verarbeitung der Lebensmittel durch unzählige private Händler, Fabrikanten und Kleinmeister boten den willkürlichen und unwillkürlichen Preistreibereien viel zu viel Gelegenheit und Spielraum. Erst nachdem die Preise der wichtigsten Lebensmittel fast unerschwinglich geworden waren, und die militärische Stärke des Reiches darunter zu leiden drohte, da griff die Regierung ein und milderte durch Zwangsmaßnahmen einige der schlimmsten Auswüchse. Die Maßnahmen kamen für die unbemittelten Schichten reichlich spät und griffen bei weitem nicht genügend durch.
Der Grundpreis für Roggen wurde zum Beispiel im Herbst 1914 auf 220 Mk., für Weizen auf 260,50 Mk. pro Tonne festgesetzt. Das war rund 30 Mk. mehr als der höchste Preis, den diese Getreidearten im Laufe der letzten zehn Jahre jemals erreicht hatten. Diese Höchstpreise stiegen aber vom 1. Januar 1915 ab je am 1. und 15. des Monats um 1,50 Mk. pro Tonne.
Trotzdem fanden sich, als die neue Ernte herannahte, eine Reihe Produzenten und Wirtschaftsverbände, die eine abermalige Erhöhung der Höchstpreise verlangten und diese Forderung mit erhöhten Produktionskosten begründeten. Solche Forderungen mussten in den breiten Massen des arbeitenden Volkes um so mehr beunruhigend wirken, als die bisherigen Höchstpreise auf die erhöhten Produktionskosten übergenug Rücksicht nahmen und die unbemittelten Bevölkerungsschichten bereits an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt waren. Die „Gleichheit“ hat in der letzten Nummer ausführlich zu den Forderungen der Produzenten Stellung genommen und die Interessen des Proletariats, zumal der proletarischen Hausfrauen dargelegt.
Nun hat der Bundesrat gesprochen. Die Getreidehöchstpreise für das kommende Jahr sind festgelegt. Im Prinzip ist von einer Preiserhöhung für Roggen und Weizen abgesehen worden. Der Grundpreis von 220 Mk. pro Tonne Roggen für Berlin und der entsprechende Weizenpreis bleiben bestehen. Allein für die übrigen Orte Deutschlands tritt doch eine Änderung ein. Die bisherigen 32 Höchstpreisbezirke werden zu vier großen Bezirken zusammengefasst, in denen der Roggenpreis nicht 215, 220, 225 und 230 Mk. übersteigen darf. Während sich die jetzigen Höchstpreise in den einzelnen Bezirken zwischen 209 und 237 Mk. bewegen, halten sie sich in Zukunft zwischen 215 und 230 Mk. Wohl ist der Preis nach oben beschnitten worden, aber dafür erfuhr auch der niedrigste Höchstpreis eineHeraufsetzung. Von der Ermäßigung werden die Bezirke in West- und Süddeutschland betroffen, während die östlichen Bezirke in Zukunft mit erhöhten Getreidepreisen zu rechnen haben. Wahrscheinlich ist in den westlichen und südlichen Bezirken aber schon jetzt selten der Höchstpreis erreicht worden, so dass die nominelle Herabsetzung für sie keine tatsächliche Änderung bedeutet.
Müssen wir nun einerseits anerkennen, dass die Gefahr einer weiteren Belastung der Konsumenten durch diese Beschlüsse beseitigt ist, so darf doch nicht außer Acht gelassen werden, dass der Höchstpreis schon im letzten Jahr als ungerechtfertigt hoch empfunden wurde. Eine Herabsetzung der Preise im Interesse der unbemittelten Volksklassen hätte den Gewinn der Landwirte noch lange nicht zu sehr geschmälert. Wenn übrigens von den Landwirten über die Verteuerung der Produktionskosten, insbesondere der Futtermittel geklagt wird, so darf nicht vergessen werden, dass die Regierung es in der Hand gehabt hätte, durch eine planmäßige Organisation der gesamten Lebensmittelversorgung sofort nach Kriegsausbruch die Landwirtschaft vor einer Verteuerung ihrer Rohstoffe zu schützen und den Ertrag zu steigern. Die Kreise, die sich dagegen wehrten, haben sich ins eigene Fleisch geschnitten. Nun muss das ganze Volk darunter leiden.
Über die von der Regierung beibehaltenen Zuschläge schreibt der Vorwärts: „Neben den recht hohen Grundpreisen will die Regierung aber auch die Zuschläge beibehalten, durch die vom Januar 1916 halbmonatlich jede Tonne Getreide um je 1,50 Mk. erhöht wird. In diesem Jahr suchte man diese Zuschläge damit zu rechtfertigen, dass sie als eine Art Prämie für Aufbewahrung des Getreides dienen sollten, um die Vorräte erst nach und nach in den Verkehr überzuführen. Im kommenden Erntejahr hat die Regierung aber die gesamten Vorräte und ihre planmäßige Verteilung in der Hand. Vorverkäufe der neuen Ernte waren verboten, und die Reichsverteilungsstelle, Kriegsgetreidegesellschaft und die Kommunalverbände können nun allmählich so viel Getreide heranziehen und zum Ausmahlen bringen, als Bedürfnis vorliegt. Da die Landwirte zur sorgfältigen Aufbewahrung verpflichtet sind und ihnen nennenswerte Kosten dadurch nicht entstehen, bedeuten die Zuschläge nichts als ein Geschenk an die Landwirte, denen zufällig ihr Getreide nicht bis zum Januar abgefordert worden ist. Da die kleinen Bauern aus finanziellen Gründen gezwungen sein werden, sich um die sofortige Abnahme ihrer ganzen Ernte zu bemühen, werden die Zuschlüge vornehmlich den Großgrundbesitzern zugute kommen.
Die ungerechtfertigten Zuschläge müssen mit Rücksicht auf die fast täglich zunehmende Teuerung auch der übrigen Lebensmittel die größten Bedenken erwecken. Die Gewissheit, dass das Brot im Winter teurer werden wird, ist eine keineswegs tröstliche Aussicht.“
Die inzwischen eingetretene „Teuerung der übrigen Lebensmittel“ ist es, die die alten Höchstpreise praktisch viel drückender macht als im Jahr vorher. Alle wichtigen Lebensmittel, Fleisch, Gemüse, Obst, Eier, sind fast unerschwinglich geworden. Bei manchen ist der Preis über hundert Prozent gestiegen. Sollen die alten Getreidehöchstpreise auch in diesem Jahre die arbeitende Bevölkerung vor Unterernährung und äußerstem Mangel nur einigermaßen schützen, so muss der Bundesrat gegen die wucherische Verteuerung der übrigen Lebensmittel um so energischer einschreiten. Bisher sind auf diesem Gebiet noch keine einschneidenden Maßnahmen erfolgt.
Notwendig ist vor allem ein Erlass über Höchstpreise vonVieh und Fleisch und ein wirksames Enteignungsrecht für die Gemeinden. Die vom Bundesrat festgesetzten Höchstpreise für Gerste und Hafer, die einheitlich für das ganze Reich auf 300 Mk. pro Tonne erhöht worden sind, werden keineswegs zu einer Minderung der Preise beitragen. Diese Maßnahme wird auch nicht dazu dienen, einer allzu großen Verfütterung dieser Getreidearten vorzubeugen, im Gegenteil, sie wird als Vorwand benutzt werden, die Fleischprise noch mehr in die Höhe zu treiben.
Wie steht es ferner mit der Beschlagnahme der Kartoffelernte und dem Erlass niederer Kartoffelhöchstpreise? Das sächsische Ministerium teilte neulich mit, der Bundesrat erwäge gegenwärtig Höchstpreise für Fleisch, Milch, Butter und Käse. Eine Bestandsaufnahme der Kartoffeln schon während der Ernte sei vorgesehen. Das Volk bedarf auch hierbei rascher und vor allem durchgreifender Beschlüsse. Allein damit ist die Sicherstellung der Volksernährung noch lange nicht vollständig. Auf dem großen Gebiet der Kolonialwaren, die heute keineswegs mehr Luxuswaren sind, sind den Preissteigerungen immer noch Tür und Tor geöffnet. Die Zuckerversorgung bedarf einer Neuregelung durch Herabsetzung der Zuckersteuer und anderer Bemessung des Kontingents.
Es bleibt also noch viel, sehr viel zu tun. Es genügt nicht, diese oder jene Lebensmittel zu beschlagnahmen, diese oder jene Höchstpreise festzusetzen, hier und dort eine kleine Erleichterung zu verschaffen. Auch die scharfen Bestimmungen des Bundesrats gegen Zurückhaltung von Vorräten, wucherischen Preistreibereien usw., so lobenswert sie an und für sich sind, gehen dem Übel nicht an die Wurzel. Das Volk leidet unter einer [ein bis zwei Worte Zensurstreichung] Teuerung, die durchaus nicht allein eine Folge des Krieges ist, sondern vor allem eine Folge der bestehenden Wirtschaftsverhältnisse und des unsicheren und zögernden Vorgehens der Behörden. Das arbeitende Volk braucht Nahrung, gute Nahrung, billige Nahrung, reichliche Nahrung. Es ist genug da, die Produktion kann noch gesteigert werden. Was fehlt, ist die planmäßige, rasche und durchgreifende Organisation der gesamten Erzeugung, Verarbeitung und Verteilung aller wichtigen Lebensmittel zugunsten nicht einer kleinen Minderzahl von Produzenten und Händlern, sondern der großen Mehrzahl des arbeitenden Volkes. Freilich, eine solche „Reform an Haupt und Gliedern“, wie das alte Losungswort der Reformationszeit lautete, ist nur möglich, wo alle Interessentengruppen und Bevölkerungsklassen ungehindert zu Worte kommen, in der Presse und in Versammlungen ihre Ansichten und Forderungen frei vertreten können.
Schreibe einen Kommentar