[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 15. Jahrgang, Nr. 9, 3. Mai 1905, S. 49]
Der Arbeit Mai zieht dieses Jahr herauf, umglänzt von den lodernden Flammenzeichen verschärfter Klassenkämpfe in fast allen Ländern, wo das profittrunkene Kapital über das lebendige Menschentum der Proletarier herrscht.
Der deutschen Arbeiterklasse wird das ins Bewusstsein gebrannt von der schamlos räuberischen Wirtschaftspolitik, die durch die Handelsverträge besiegelt in die Schlösser der Junker, die Villen der Industriekönige das trägt, was sie vom Brot und Verdienst der Habenichtse nimmt. Ihm kündet es die borniert schwächliche Sozialpolitik, welche in der provozierenden Nasführung der Bergarbeiter mit einem bösartigen Trutzgesetz neben der grenzenlosen Gold- und Herrschsucht der Ausbeutenden die jämmerliche Komödie des sozialen Königtums aufzeigt. Es erzählt ihm davon die brutale, abenteuernde Weltpolitik, die deutsches Blut und Gut bei der Niederknüttelung von schmählich begaunerten und vergewaltigten Eingeborenen in Südwestafrika vergeudet, die in Marokko los tölpeln möchte, die den deutschen Steuerzahlern Milliardenlasten aufbürdet, um mit Dreizack und Zickzack auf allen Meeren, in allen Erdteilen herumfuchteln zu können. Die Niedermetzelung der Streikenden von Limoges bestätigt wieder einmal mit furchtbarer Deutlichkeit, was das Knattern der Gewehre bei anderen Ausständen in Frankreich, was es gelegentlich des großen Bergarbeiterstreiks in Colorado offenbart hat: dass die herrschende Kapitalistenklasse in der bürgerlichen Republik die staatlichen Macht- und Gewaltmittel mit der gleichen Härte und Skrupellosigkeit gegen „meuternde“ Lohnsklaven zur Anwendung bringt wie in der Monarchie, sie trage das Feigenblatt einer Konstitution oder nicht. In England, dem Musterstaat des bürgerlichen Liberalismus, mussten die Arbeiter sich gegen einen neuerlichen tückischen Versuch von Gerichten wehren, zu Nutz und Frommen der Kapitalistenklasse die Macht der Gewerkschaften dadurch zu lähmen, dass sie für die finanziellen Schädigungen haftbar gemacht werden sollen, welche Ausstände den Unternehmern zufügen. Der oberste Gerichtshof der nordamerikanischen Union stellte dem Recht der Proletarier auf ihr Menschentum die schrankenlose kapitalistische Ausbeutungsgewalt entgegen, indem er mittels spitzfindiger Wortklauberei die gesetzliche Arbeitszeitverkürzung in einzelnen Bundesstaaten für null und nichtig erklärte. Im italienischen Parlament fanden sich alle bürgerliche Parteien, von der Rechten bis zur äußersten Linken der Republikaner zusammen, ein Herz und eine Seele, die oft verspottete, geleugnete „eine reaktionäre Masse“, um dem Eisenbahnproletariat das Streikrecht zu rauben.
Doch nicht nur im Lager der besitzenden Klassen marschieren die Heerhaufen immer geschlossener auf. Auch in der Welt des Proletariats sammeln sich die Streiter, die wachsende Einsicht und reifender Wille in fester und fester gegliederten Reihen zusammen schmiedet Als ein einzig Volk von Brüdern haben sich die Bergarbeiter des Ruhrgebiets trotz der Gegensätze der religiösen und politischen Überzeugungen als Ausgebeutete, zum Klassenbewusstsein Erwachte im Kampfe gegen das wucherische, knechtende Grubenkapital zusammengeschart. Eine geeinte sozialistische Partei ruft das französische Proletariat auf den scharf umgrenzten Kampfesboden, den der Internationale Sozialistenkongress von Amsterdam gewiesen.
Bedeutsamer und verheißungsreicher jedoch als alle übrigen Wahrzeichen des proletarischen Klassenkampfes glühen durch die internationale reaktionäre Walpurgisnacht die revolutionären Feuerbrände der Erhebung des jungen Proletariats in Russland. Nicht vergebens ist das Sämannswerk gewesen, dem die russische und die polnische Sozialdemokratie vor allem sich seit Jahren und Jahren in hingebendster Weise gewidmet haben. Hunderttausende und Hunderttausende, welche der Kapitalismus in die Nacht und Not der Fabrik, der Werkstatt, des Schachtes bannt, welchen der Zarismus die elementarsten Bürger-und Menschenrechte vorenthält, sie stehen seit dem ewig denkwürdigen 22. Januar im heldenhaften Kampfe für die politische Freiheit. Sie schlagen ihre Schlachten mit gekreuzten Armen, im Massenstreik, der bald hier, bald da einsetzt, das wirtschaftliche Leben zerrüttet, den staatlichen Mechanismus verwirrt und desorganisiert. Für ihr Recht, ihre Überzeugung hungernd und sterbend entreißen sie dem übermächtigen Feinde die Frechheit der Versammlung, der Rede, der Straßendemonstration. Sie sind die Kerntruppe, die entscheidende Macht, welche den Absolutismus niederringt und damit der politischen Freiheit, dem Kulturleben eine Gasse bahnt. Welch gewaltiges, erhebendes Schauspiel und Beispiel, an welchem das Proletariat der ganzen Welt seine geschichtliche Auffassung zu klären und zu festigen, an welchem es das Vertrauen in seine eigene revolutionäre Macht zu stärken vermag.
Auf die Feuersäulen des Klassenkampfes in allen Ländern lenken sich am 1. Mai die Blicke aller Männer und Frauen, deren Rücken von den Geißelhieben der kapitalistischen Ausbeutung schmerzt, deren Leiber und Geister mit heißer Sehnsucht heraus aus dem Kerker der bürgerlichen Ordnung verlangen. Und der Ausblick gibt dem proletarischen Maientag die rechte Weihe, denn die Zeichen der Zeit lassen sein innerstes Wesen den manifestierenden Massen klar zum Bewusstsein kommen.
Mögen die Kapitalistenklüngel durch ihre schreibenden und redenden Söldlinge die Maifeier zehnmal zu einem harmlosen Klimbimfest umlügen lassen, diese bleibt ihrem tiefsten Kerne nach dennoch nicht mehr und nicht weniger als eine revolutionäre Kundgebung des kämpfenden Weltproletariats, das sich zählt und vor dem die Ausbeuter zittern. Sie stellt die Arbeiterklasse in grundsätzlichen Gegensatz zu der gesamten bürgerlichen Welt und ihren Bestand. Unbeschadet ihrer friedlichen Form und der erhobenen Reformforderungen ist sie eine Kampfesaktion, die von den Fanfaren des Klassenkriegs aus den feindlichen Lagern der Kapitalisten und Arbeiter umschmettert wird. Mit verächtlichem Stolze und zukunftssicher schleudern die Enterbten ohne Unterschied des Berufs, des Geschlechtes, der Nation der kapitalistischen Ordnung am 1. Mai die sozialen Kinderbücher zerrissen entgegen, welche das Märchen vom guten Herzen der Könige von Gottes- und von Geldsacksgnaden erzählen; herrschen sie der kapitalistischen Ordnung ihre Kriegserklärung, ihr revolutionäres Glaubensbekenntnis zu: „Die Befreiung des Proletariats ist eine geschichtliche Notwendigkeit, und sie wird nur das Werk des Proletariats selbst sein.“ Noch ist für das Proletariat Kampfeszeit. Kräftiger als manches andere Jahr haben die Ereignisse an diesem 1. Mai aus der Asche des Alltagslebens und Alltagswebens die Flamme des revolutionären Empfindens heraus geblasen Von der einen Klassennot in einer Erkenntnis und einem Willen zu einer Macht zusammengeschweißt, feiert das Weltproletariat mit siegesgewisser Begeisterung seinen roten Mai.
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