Clara Zetkin: Zur Maifeier

[Gleichheit, 10. Jahrgang, Nr. 9, 25. April 1900, S 66]

Maifeier, Fest der Hoffnung, des zielklaren Wollens, des Kampfesgelöbnisses der erwachenden proletarischen Massen, welche von heißer Sehnsucht nach freiem, edlem Menschentum durchzittert eine neue soziale Ordnung der Kultur für alle aufbauen wollen: Willkommen! Kaum dass deine Vorboten, die eisbrechenden, Forst und Wiese rein fegenden Frühlingsstürme enteilt, nahst Du im Kranze zart sprossender Blätter, schwellender, fruchtverheißender Knospen, ein Symbol des geschichtlichen Werdens, Wachsens und Reifens. Nicht die Furcht Unwissender, die vor dem Walten übernatürlicher Mächte zittern, hat dich geboren. Es schuf dich nicht die Hoffnungsbedürftigkeit Verzweifelnder, die nach dem Strohhalm des Glaubens an eine überirdische ausgleichende Gerechtigkeit fassen. Nicht die Machtbegier Ausbeutender und Herrschender, die ewig im Genuss bleiben möchten, hat dich der ausgebeuteten und beherrschten Menge aufgezwungen. Die freie Entschließung Wissender, Wollender und Kämpfender hat dich gesetzt, einen Merkstein, der erzählt, wie lang die dornenreiche Strecke ist, welche die Arbeiterklasse bereits auf ihrem Zuge aus dem Ägyptenland ihrer kapitalistischen Knechtschaft zurückgelegt hat; einen Merkstein, der meldet, in welcher Richtung und welchem Ziele zu sie vorwärts strebt.

Willkommen Maifeier, die du uns eine Botschaft kündest, gewaltiger und verheißungsreicher als die von der Menschwerdung eines Gottes: die Botschaft von dem ewig glimmenden prometheusschen Funken des Menschentums im Menschen, die Botschaft von der sittlichen Wiedergeburt des Proletariats, das sein eigener Heiland sein will. Bist du nicht der machtvolle Protest der Lohnsklaven gegen die Verknechtung und Erdtötung des empfindenden, denkenden, strebenden Menschen in ihnen durch den toten Besitz, gegen seine Herabwürdigung noch unter das Arbeitstier zur bloßen Arbeitsmaschine? Bist du nicht die hoffnungsfrohe, zielklare Bekräftigung ihres Willens, den Achtstundentag, all jene sozialen Reformen zu erringen, welche den sozial Schwachen die Kraft stärken müssen, auf dass sie die soziale Revolution zu vollziehen vermögen, welche zusammen mit der Freiheit der Arbeit die Freiheit alles dessen bringt, was Menschenantlitz trägt? So zeugst du von dem neuen geschichtlichen Leben, das kraftstrotzend, kerngesund in den Massen derer pulsiert, die unter des Kapitals lastender Klassenherrschaft noch Unfreie und Kulturberaubte, aber schon Freiheitskämpfer und Kulturheischende sind. Maifeier, Kampfestat und Kampfesruf des brüderlich geeinten Weltproletariats, das von einer Klassennot in einer Erkenntnis, einem Willen zu der einen revolutionären Macht zusammengeschweißt wird, die allein die Herrschaft des Kapitals zu zertrümmern, das Reich der Freiheit zu gründen vermag: Willkommen!


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