[Gleichheit, 10. Jahrgang, Nr. 6, 14. März 1900, S 41 f.]
In den Froschteich der kapitalistischen Ausbeutungs- und Verdauungsseligkeit ist ein winziges Steinchen geschleudert worden: die Erhebung, welche der Bundesrat laut Beschluss des Reichstags über die Fabrikarbeit verheirateter Frauen angeordnet hat. So zerfahren diese Erhebung vor sich geht, so äußerst mangelhaft sie in Folge des Wie der Umfrage in manchen Bundesstaaten ausfallen muss: den Herren Unternehmern ist sie unbequem. Sie fürchten sie als ein Anzeichen, dass der jetzt bestehende, durchaus ungenügende und unsichere gesetzliche Schutz der Arbeiterinnen etwas ausgedehnt und gesichert werden könne. Ausdehnung und Sicherung des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzgesetzes bedeutet aber Einschränkung der kapitalistischen Ausbeutungsmacht und Ausbeutungsfreiheit in ihrem Werwolfswühlen gegenüber Arbeitskräften, die sozial besonders schwach und widerstandsunfähig sind, deren rücksichtslose Auswucherung deshalb besonders reichen Profit einheimsen lässt. Daher die Eile, mit der die Unternehmer aus dem diebes- und feuersicheren Geldschrank das bekannte „arbeiterfreundliche Herz“ hervorholen, welches dort sonst so wohlverwahrt steht, dass es weder Ausbeuter noch Ausgebeutete an seine stille Existenz mahnt. Im Interesse der Arbeiterinnen und der Arbeiterfamilie und selbstverständlich nur in diesem Interesse erheben die kapitalistischen „Auch-Arbeiterfreunde“ warnend den weisen Schulmeisterfinger gegen „eine weitere Beschränkung der Frauenarbeit in den Fabriken“, das heißt gegen einen vermehrten gesetzlichen Schutz der Lohnsklavinnen.
Allen voran, erklärlich genug, die Gilde der Textilbarone. Die Textilindustrie verwendet im größten Umfang weibliche Arbeitskräfte, sie münzt wie kaum eine zweite Industrie sowohl die weiblichen Vorzüge der Gewandtheit und Fingerfertigkeit, wie die weiblichen Fehler der Rückständigkeit und Bedürfnislosigkeit und die weibliche Rechtlosigkeit in klingenden Gewinn aus. Die Textilindustriellen haben mithin ein besonderes geldsackgründiges Interesse an der gesetzlich möglichst ungeschorenen Freiheit der Ausbeutung, die sie in eine unbeschränkte Freiheit der Erwerbstätigkeit der Frau umlügen. Gerade aus Bezirken, wo die Frau seit vielen Jahrzehnten als Textilarbeiterin im Banne der kapitalistischen Ausbeutung frondet, wo die hohe Kindersterblichkeit und das augenscheinliche körperliche Verkommen der arbeitenden Bevölkerung über diese Ausbeutung ein vernichtendes Urteil fällen und beredt einen gründliche „ gesetzlichen Schutz der Geopferten fordern: erhoben die Fabrikanten am ersten und am lautesten bewegliche Klage über die „Beunruhigung der Industrie“ – lies des kapitalistischen Profits – durch die Erhebung. Im sächsischen Voigtland, in Chemnitz etc. haben die Organisationen der Textilindustriellen den Versuch unternommen, Stadträte und Gewerbeinspektion, Handelskammern, das sächsische Ministerium und das Reichskanzleramt gegen einen weiteren gesetzlichen Schutz der Arbeiterinnen mobil zu machen. Die Reutlinger und die Rottweiler Handels- und Gewerbekammern haben sich den württembergischen Industriemagnaten zu Liebe der Petition des Verbands der sächsischen Textilindustriellen an das Reichskanzleramt angeschlossen.
Nichts da mit einer weiteren Beschränkung der Frauenarbeit, so erklären die edlen Nutznießer und Anwälte der kapitalistischen Ausbeutungsmacht über Proletarierinnen, denen als Arme, als Besitzlose die wirtschaftliche Kraft mangelt, ihre Interessen als Menschen, Frauen, Mütter ausreichend verteidigen zu können. Eine weitergehende gesetzliche Regelung der Frauenarbeit ist nach der Reutlinger Handels- und Gewerbekammer „ein Eingriff in die persönliche Freiheit und die freie Erwerbstätigkeit der Arbeiterinnen, die in ihrem Interesse und dem ihrer Familien am meisten zu beklagen wäre“. Sie bedeutet nach dem Verband der sächsischen Textilindustriellen eine schwere Schädigung der Arbeiterfamilie, „die vielfach auf den Verdienst der Frau angewiesen ist“, ja deren „Existenz geradezu in Frage gestellt wird“, wenn eine Beschränkung der Erwerbstätigkeit der Frau erfolgt.
Die Herren, welche den Wauwau dieser Gründe gegen einen weiteren Ausbau des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes loslassen, halten die deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter augenscheinlich für ebenso dumm, als die Kapitalistensippe verlogen ist.
Wie, sie wagen es, im Namen der persönlichen Freiheit und der freien Erwerbstätigkeit der Arbeiterinnen zu sprechen, und sie fürchten nicht, an dieser Lüge zu ersticken? Wo denn besteht unter der Herrschaft des Kapitals die Freiheit der Person und der Erwerbstätigkeit für die Proletarierinnen? Die Ausbeutung und Armut der Eltern, die dürftige Bildung durch die Volks- und Armenschule, die vorliegende bittere Notwendigkeit, sobald als möglich zu verdienen und die Familie von einem „Esser“ zu befreien: rauben der jungen Proletarierin die Freiheit der Berufswahl und zwingen ihr eine Erwerbstätigkeit auf, die im letzten Grunde gar nicht durch die persönliche Neigung und Veranlagung bestimmt wird, vielmehr durch den Hinblick auf das nötige Stück Brot. In Fabrik und Werkstatt, auf dem Felde und im Hüttenwerk aber findet die Proletarierin keineswegs die „freie Erwerbstätigkeit“, sondern nur die ausgebeutete Lohnsklaverei. Weder die Bedingungen und Umstände, unter denen sie tätig ist, noch der Lohn, den sie für ihr Mühen erhält, werden von ihrem Ermessen, von der Rücksicht auf ihre Bedürfnisse und Wünsche bestimmt. Die kapitalistische Geldsacksgewalt ist es, die geleitet von dem Polarstern des einzusäckelnden Profits Arbeitszeit, Beschaffenheit der Werkräume, Lohn etc. festsetzt. Kraft seiner Herrschafts- und Ausbeutungsmacht greift das Kapital mittelst der „freien Erwerbstätigkeit“ so brutal, so selbstherrlich in das Leben der Arbeiterin ein, dass ihre „persönliche Freiheit“ zu einer Märchengestalt wird, die nicht einmal in den Köpfen, die nur in trügen sollenden Reden der Herren Kapitalisten herumspukt. Zeugt es vielleicht von persönlicher Freiheit, zeugt es nicht vielmehr von der schlimmsten Sklaverei, dass die Arbeiterin den größten Teil ihrer Zeit, Nachtruhe und Sonntagsfeier unter Umständen inbegriffen, dass sie den besten Teil ihrer Kraft der freudlosen, qualreichen, geisttötenden Fron widmen muss, die ihr kaum die nackte Existenz sichert, dagegen fremden Reichtum mehrt? Dass für die Befriedigung ihrer Bildungssehnsucht, für die Anteilnahme am öffentlichen Leben und am Kampfe für Freiheit und Recht, dass für die Erfüllung ihrer Mutter- und Gattinnenpflichten nur die dürftigen Reste ihrer Persönlichkeit übrig bleiben, welche die kapitalistische Ausbeutung nicht zu verbrauchen geruhte oder nicht verbrauchen konnte? Dass der Arbeiterin ihr Recht auf Organisation durch einen Wink mit der Hungerpeitsche entrissen werden kann?
Die viel besungene persönliche Freiheit bedeutet in der kapitalistischen Ordnung für die Arbeiterin nichts anderes, als die durch die Not erzwungene Unterwerfung unter die kapitalistische Ausbeutungsgewalt. Von der sogenannten „freien Erwerbstätigkeit“ der Proletarierin gilt das Wort: „Die Freiheit versklavt, die gesetzliche Bindung macht frei.“ In der Tat: indem das Gesetz die Zeit und die Bedingungen regelt, unter denen der Kapitalist die Frauenarbeit ausbeuten darf, entzieht es der kapitalistischen Macht ein Stück Menschentum der Arbeiterin und gibt ihr einen Teil ihrer persönlichen Freiheit, ihres Verfügungsrechts über sich selbst zurück. Im Namen der persönlichen Freiheit der Arbeiterin: Her mit einem wirksamen gesetzlichen Schutz der Frauenarbeit gegen die kapitalistische Profitgier!
Im Interesse der Arbeiterfamilie widersetzen sich kapitalistische Wort- und Begriffsfalschmünzer des Weiteren einem besseren gesetzlichen Schutze der Frauenarbeit. Wo bleibt die Rücksicht auf die Arbeiterfamilie, wenn das fühllose Unternehmertum den Lohn des Mannes so schmachvoll tief senkt, dass sein Verdienst den Seinen nicht mehr das trockene Brot zu sichern vermag, so dass die Not die Rücksicht auf die mütterlichen und häuslichen Pflichten der Frau unter die Füße stampft und diese zum Erwerb treibt, während die Kinder verelenden, das Heim verödet? Wo bleibt die Rücksicht auf die Arbeiterfamilie, wenn der millionenreiche Fabrikant die Arbeiterin mit solch blutigen Hungergroschen abspeist, dass Mann und Frau zusammen nicht die Familie zu erhalten vermögen, so dass das Kind zartesten Alters Gesundheit, Jugendfreude, Bildungsmöglichkeit preisgeben muss, um etwas zu verdienen? Wo bleibt die Rücksicht auf die Arbeiterfamilie, wenn der waschecht patriotisch gefärbte Unlernehmerklüngel Böhmen, Polen, Russen und Italiener ins Land ruft – jetzt, wo mit „Deutschlands Zukunft“ auch der kapitalistische Profit „auf dem Wasser liegt“, womöglich auch die Kulis – um durch die Schmutzkonkurrenz wohlfeilster und gefügigster Arbeitskräfte die Löhne der „teuren Volksgenossen“ zu drücken?
Wenn irgend eine Forderung im Hinblick auf die Interessen der Arbeiterfamilie wirtschaftlich und sittlich gerechtfertigt und unabweisbare Notwendigkeit ist, so ist es die Forderung vermehrten gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes. Nur ein solcher Schutz verleiht der jungen Arbeiterin die Muße, sich auf ihre Familienpflichten vorzubereiten, der Familienmutter die Zeit, sich ihren häuslichen Aufgaben zu widmen. Er zwingt das Kapital zur Sparsamkeit mit der Gesundheit und Kraft der Arbeiterinnen und gibt in der Folge der proletarischen Familie körperlich rüstigere, geistig frischere, leistungsfähigere Mütter und Töchter zurück. Er schafft durch seine praktischen Vorteile die Grundlage dafür, dass wenigstens in etlichen Stunden des Tages ein geordnetes, liebevolles, anregendes Familienleben empor blüht, das die einzelnen Glieder der proletarischen Hausgemeinschaft mit sittlich tragender Kraft umfängt, das insbesondere dem Kinde eine treusorgende Pflegerin und Erzieherin zur Seite stellt. Der materielle und sittliche Gewinn aber, der dadurch für die Arbeiterfamilie entsteht, fällt weit schwerer ins Gewicht als eine kleine Lohnverkürzung, welche unter Umständen vorübergehend die Folge eines weitreichenden gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes sein kann. Auf die Dauer und im Allgemeinen hat die Arbeiterfamilie von diesem Schutze keineswegs eine Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage zu befürchten, vielmehr nur eine Hebung derselben zu hoffen. Die Wissenschaft und die Erfahrung haben bewiesen, dass überall lange, ungeregelte Arbeitszeit, ungünstige Arbeitsbedingungen Hand in Hand gehen mit niedrigem Verdienst, dass dagegen eine kurze, geregelte Arbeitszeit und menschenwürdige Zustände in Fabriken und Werkstätten stets zusammenfallen mit hohem Lohn. Der ausgedehnte gesetzliche Arbeiterinnenschutz, der dem rücksichtslosen Walten der kapitalistischen Ausbeutung gewisse Schranken zieht, die Bedingungen verbessert und festlegt, unter denen die Lohnsklavin ihre Arbeitskraft verkauft, führt zu einer besseren Entlohnung der Frauenarbeit, beeinflusst dadurch günstig den Verdienst des Mannes und schlägt auch mit Rücksicht auf das Einkommen zum Wohle der Arbeiterfamilie aus. Im Interesse der Arbeiterfamilie mithin: Her mit einem weitreichenden gesetzlichen Arbeiterinnenschutz!
Als Fastnachtsflitter erweisen sich vor der Wirklichkeit die Redensarten von der Rücksicht auf die persönliche Freiheit der Arbeiterin, auf die Interessen ihrer Familie, welche Schoßkinder und Verteidiger der kapitalistischen Ordnung der Forderung des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes entgegenstellen. Als Fastnachtsflitter, deren Zweck es ist, den Ausgebeuteten und Begehrenden den Anblick des goldenen Kalbes zu verhüllen, dem die proletarische Frau und mit ihr der proletarische Nachwuchs geopfert werden soll. Die Arbeiterinnen und Arbeiter stellen dem Flittergold heuchlerischer Flausen die Wucht nackter Tatsachen entgegen. Aus ihrem Wissen von der Notwendigkeit des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes erwächst ihnen der Wille, die nötigen Reformen zu erkämpfen.
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