[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 15. Jahrgang, Nr. 23, 15. November 1905, S. 133]
Arbeiterinnen, aufgewacht. so rufen Mühen und Leiden, Bedürfnisse und Wünsche den Frauen und Mädchen zu, welche in Fabrik, Werkstatt und ärmlichem Heim, im Kontor und Laden ihr Brot verdienen. Verdienen, gewiss, aber oft nicht erhalten, es häufig genug nicht bloß im Schweiße ihres Angesichts essen, sondern mit Tränen gewürzt, welche die Not erpresst. Arbeiterinnenlos ist heutigentags ja stets ein hartes Los und schlimmer noch, ist vielfach ein tieftrauriges Los. Arbeiterinnenlöhne – es ist „gerichtsnotorisch“ – sind häufig eine Anwartschaft auf chronisches Hungerleiden oder eine Prämie auf die Prostitution. Nicht bloß trockene Zahlen und wissenschaftliche Feststellungen über Berufskrankheiten, frühzeitiges Welken und Altern, nein, die Gesichter und Gestalten der lebendigen Menschen erzählen von der schädlichen Länge der Arbeitszeit, von der Überanstrengung der Kräfte, von den Sorgen und Entbehrungen der ausgebeuteten Proletarierinnen. Und es geht wohl kaum ein Tag vorüber, an dem diese nicht bitter empfinden, was ihnen an Gesundheit geraubt, an Bildung und Lebensglück vorenthalten wird.
Arbeiterinnen aufgewacht! Des Lebens Not lehre euch statt beten, denken und kämpfen. Kämpfen gegen den Feind, der euch knechtet und mit hundertfachem Leid überschüttet. Dieser Feind ist die kapitalistische Ausbeutung. Als Arme, Schwache sind ihr die Arbeiterinnen ausgeliefert. Sie können die Mittel für ihren Lebensunterhalt nicht aus einem Geldsack schöpfen, den Erbschaft, ein anderer Glücksfall oder die Arbeit von Nebenmenschen füllt. Sie selbst müssen arbeiten, erwerben, um leben zu können. Die heutige Ordnung der Dinge aber verwehrt ihnen, als freie Arbeiterinnen im Interesse der Gesamtheit und zu eigenem Nutzen tätig zu sein. Sie zwingt sie vielmehr, als Lohnsklavinnen für fremden Reichtum zu schaffen. Nur kärgliche Brosamen von dem Ertrag ihres Mühens und Plackens werden ihnen in Gestalt des Lohnes gewährt. Die Unternehmer säckeln den Löwenanteil der Früchte ein, die unter ihren fleißigen, flinken Fingern hervorquellen. Der Kapitalist, welcher die Proletarierinnen arbeiten lässt, vermag in einer fürstlichen Wohnung von kostbarem Geschirr die nährendsten und leckersten Gerichte zu schmausen; er kann sich an allem Schönen und Großen bilden und erquicken, was Natur und Kultur bieten. Ihm ist die Welt und ihre Herrlichkeit Untertan, auch wenn er selbst nicht einmal mehr die Arbeit des Couponschneidens verrichtet. Die Arbeiterin dagegen muss mit einem Dachkämmerchen, mit einer Hof- oder Kellerwohnung fürlieb nehmen, wo sie nur zu oft frierend, von Überanstrengung gebrochen vor leeren Tellern sitzt. Und ihre Anmut, dem Cherub mit flammendem Schwerte gleich, verwehrt ihr den Eintritt in das Paradies ungetrübten Naturgenusses, der Wissenschaft und Kunst.
Arbeiterinnen aufgewacht! Gegen diesen Stand der Dinge gilt es zu kämpfen. Ihr könnt das, wenn ihr nur wisst und wollt. Erkennet nicht bloß euren Feind, werdet euch auch über die Waffen klar, mittels deren ihr euch seiner erwehren müsst. Eine unentbehrliche Waffe im Kampfe um euer Brot, eure Bildung, euer Lebensglück – in einem Worte: um euer Menschenrecht st die Organisation. Indem sie ohne Unterschied des Geschlechtes alle zusammenfasst, die in einem Berufe ausgebeutet werden, setzt sie hinter die Schwäche der einzelnen Arbeiterin die Kraft einer fest geschlossenen Vielheit. Und diese fest geschlossene Vielheit ist es, welche für ihre Glieder den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen gegen das ausbeutende Unternehmertum aufnimmt. Sie vermag zu ertrotzen, was die Einzelnen durchzusetzen außerstande sind So wird sie zum festen Bollwerk, das die Arbeiterinnen gegen die Wut der Nimmersatten kapitalistischen Ausbeutung schützt. Von ihr gestützt und getragen, vermögen diese bessere Arbeitsbedingungen zu erringen: höhere Entlohnung, Verkürzung der Arbeitszeit, Rücksicht auf Gesundheit und Leben, achtungsvolle Behandlung, kurz Abschlagszahlungen auf eine freie und glückliche Existenz. Die Gewerkschaftsorganisation gibt der erwerbenden Proletarierin zusammen mit der Macht, die Wissen bringt, das Wissen, welches Macht verleiht. Sie vermittelt ihr Kenntnisse, die sie über ihre Lage aufklären, sie erzieht ihren Geist und ihren Charakter durch die Mitarbeit in einer Gemeinschaft, in der der Grundsatz gilt: gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle. So hebt sie die Arbeiterin nicht bloß persönlich in geistiger und sittlicher Beziehung, sondern sie befähigt sie auch, mit klaren Blicken ihre eigenen Interessen zu erkennen, mit festem Willen sie zu verteidigen. So ist die Gewerkschaft für die schwachen, der Rückständigkeit preisgegebenen Arbeiterinnen, Machtmittel und Erzieherin zugleich.
Aber sie ist ihnen noch mehr. Sie hat die Aufgabe übernommen, welche dank der kapitalistischen Auswucherung des Menschen durch den Menschen die proletarische Familie nicht mehr an ihren Angehörigen zu erfüllen vermag. Durch ihre Unterstützungs- und Hilfseinrichtungen sucht die Gewerkschaft von ihren Mitgliedern die schwarze Not fernzuhalten. Nicht bloß die streikende, ausgesperrte oder sonst gemaßregelte Lohnsklavin ist des Beistandes der Organisation sicher, auch die kranke, die arbeitslose, die übervorteilte oder an ihrer Ehre gekränkte Arbeiterin. Und dieser Beistand lindert nicht nur die Leiden der bestimmten Notstände, für die er vorgesehen ist, er dient einem noch wichtigeren Zwecke. Er verhindert, dass die ausgebeuteten Frauen und Mädchen in schweren Tagen dem Stumpfsinn, der Mutlosigkeit, ja vielleicht dem Laster verfallen, dass sie zu Verräterinnen an ihren eigenen Interessen und denen ihrer Schwestern und Brüder werden. Der Hunger ist ein gar brutaler Geselle und übler Berater. Indem die Gewerkschaft ihn von der Schwelle der organisierten Arbeiterin scheucht, indem sie dieser in bösen Lebenslagen mit Rat und Tat treu zur Seite steht, bewahrt sie sie vor der Versuchung und dem Zwange der Not, Brot um jeden Preis und unter den schimpflichsten und schädlichsten Bedingungen zu erwerben. Damit erhält sie Tausenden und Tausenden den Mut und die Kraft, sich gegen die Fuchtel der Ausbeutung aufzulehnen, und bewahrt viele vor dem Sturz ins Lumpenproletariat.
Jedoch nicht allein als Schützerin, Erzieherin und Helferin naht die Gewerkschaft den Arbeiterinnen, auch als Freudebringerin. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, es ist ein tiefes Bedürfnis seiner Natur, mit Fröhlichen fröhlich zu sein, die von Arbeit und Kampf oft zum Zerreißen gespannten Nerven im Genuss ruhen und sich kräftigen zu lassen. Die Organisation bereitet daher den Arbeiterinnen lichte Stunden der Geselligkeit und des Lebensgenusses, in die sie Geist vom besten Geiste unserer Zeit zu legen bemüht ist. Stunden, welche die Sinne veredeln, die Gedanken anregen, das Herz erwärmen, den Willen stählen. Und sie erhöht den Wert der Freude, zu der sie ruft, durch die Gemeinschaft, in der diese genossen wird. Wie aus den „sauren Wochen“ der Lebensnot und des Kampfes, so erwächst auch aus den Stunden „froher Feste“ für die Arbeiterinnen das erquickende und hebende Bewusstsein, dass sie nicht willenlos vom Wirbelsturm der kapitalistischen Ordnung verwehte Blätter sind, dass sie vielmehr unter den weitreichenden Zweigen der modernen Arbeiterbewegung in einer Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern stehen, für welche die Losung gilt: Einer für alle, alle für einen!
Arbeiterinnen, aufgewacht! Ergreift die mit köstlichen Gaben gefüllte, starke und treue Hand, welche die Organisation euch entgegenstreckt. Erringt mit ihrer Hilfe Arbeitsbedingungen, auf denen sich für euch eine Existenz aufbaut, in deren Dunkel hin und wieder auch Sonnenstrahlen fallen. Lernt in der Gewerkschaft und durch ihr Wirken, dass ihr über die Grenzen der Berufsgenossenschaft und ihre unschätzbare Arbeit zur Milderung der kapitalistischen Ausbeutung den Blick hinaus richten müsst auf die große Gesamtheit des Proletariats und seinen Kampf für die Zerschmetterung der menschenvernichtenden kapitalistischen Herrschaft. Aus dem Ringen um des Leibes und der Seele Notdurft in der Gegenwart erwachse euch die Erkenntnis und Kraft zum gewaltigen Kampfe für volle Freiheit und volles Glück in der Zukunft. Denn wenn irgendwelche Glieder der Gesellschaft auf dem Boden der kapitalistischen Ordnung es sich nicht wohl sein lassen, nicht Hütten bauen können, so sind es die Proletarierinnen. Mit überzeugender Beredsamkeit predigen das die Tatsachen, die unsere Leserinnen an anderer Stelle über die Arbeitsverhältnisse der Nürnberger Arbeiterinnen finden. Aber die ernste Mahnung, die sich davon loslöst, gilt nicht bloß für die Lohnsklavinnen in Nürnberg, überall, wo das Kapital gewissen- und erbarmungslos die Fronpeitsche über Proletarierinnen schwingt, ruft sie diesen zu: Arbeiterinnen, gedenket eures lebendigen Menschentums. Lasst euch nicht widerstandslos durch die Macht des Reichtums knechten. Organisiert euch, auf dass eure Ketten gelockert werden und eines Tages ganz fallen. Arbeiterinnen, aufgewacht!
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