[„Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, 5. Jahrgang, Nr. 16, 7. August 1895, S. 121 f.]
Wie Euch aus dem Aufrufe des Parteivorstandes bekannt ist, tritt der nächste Parteitag der deutschen Sozialdemokratie am Oktober in Breslau zusammen. Unter anderen bedeutungsreichen Arbeiten, wie sie jeder Tagung der Sozialdemokratie obliegen, hat der Breslauer Parteitag eine besonders wichtige Aufgabe zu lösen. Er muss die von der Agrarkommission zusammengestellten neuen Programmforderungen beraten, er soll die Taktik festlegen, welche den Eroberungszug der Sozialdemokratie auf dem platten Lande leitet.
Parteigenossinnen! Die Aufgaben der gesamten Sozialdemokratie sind auch Eure Aufgaben, die Taktik, welche die Partei einer Frage gegenüber befolgt, wirkt bestimmend auf den Gesamtcharakter des proletarischen Klassenkampfes zurück und trägt dazu bei, je nach dem Mehr oder Weniger ihrer revolutionären Kraft, die Stunde Eurer Befreiung zu beschleunigen oder zu verzögern. Sorgt deshalb dafür, dass auch Ihr auf dem diesjährigen Parteitag vertreten seid; sorgt dafür, dass Ihr durch delegierte Genossinnen an den Beratungen und Entscheidungen der Partei teilnehmt, wie Ihr im schweren, mühsalreichen Kampf der Partei von Tag zu Tag energisch und opferstark in Reih und Glied steht. Die Anwesenheit von Genossinnen auf dem Parteitag beweist, dass die proletarische Frau in richtiger Erkenntnis ihrer Interessen im sozialistischen Lager als Gleiche unter Gleichen für ihre Befreiung ringt.
Diese Anwesenheit ist außerdem die beste Antwort auf die unerhörten Nücken und Tücken, durch welche die Köllerei die proletarische Frauenbewegung zu Tode bütteln möchte. Was Wachtstubenallmacht und Rabulistenweisheit irgendwie zu leisten vermögen, das haben sie seit dem Halali der Reaktion, also dem Umsturzrummel reichlich und täglich gegen die proletarischen Frauen geleistet. Genossinnen, wir schulden eine offizielle Quittung für das Umsonst der gesellschaftsretterischen Liebesmüh!
Wie gelegentlich der sozialdemokratischen Kongresse zu Köln und zu Frankfurt a. M. erscheint es ratsam, dass auch im Anschluss an den Breslauer Parteitag Genossinnen und Genossen ihre Erfahrungen und Ansichten austauschen bezüglich der Agitation unter den proletarischen Frauen und ihrer Organisation. Je rückständiger die Masse der Frauen im Allgemeinen noch ist, je geringere Bewegungsfreiheit ihnen das Gesetz einräumt, kurz je größer die Schwierigkeiten sind, auf welche die sozialistischen Säeleute bei ihrer Arbeit stoßen: um so notwendiger ist es, dass man einheitlich und planvoll an das Werk der Aufklärung und Organisation des weiblichen Proletariats geht. Dass der hierfür erforderliche Meinungsaustausch gerade die Anwesenheit von möglichst viel Genossinnen aus den verschiedensten Teilen Deutschlands als wünschenswert, ja nötig erscheinen lässt, liegt auf der Hand.
Der Parteitag zu Frankfurt a. M. hat bekanntlich den Genossinnen wieder das Recht eingeräumt, in besonderen öffentlichen Frauenversammlungen Delegierte zu den sozialdemokratischen Parteitagen wählen zu können. Wir raten den Genossinnen, von diesem Recht nur in ausnahmsweisen Fällen Gebrauch zu machen, nur dann, wenn ganz besondere Verhältnisse eine Verständigung mit den Genossen bezüglich der Wahl einer Delegierten unmöglich machen. Und ebenso erwarten wir, dass die Genossen nicht in kleinlicher Wortklauberei und aus engherzigen Sparsamkeitsrücksichten die Frauen von den allgemeinen Delegiertenwahlen ausschließen und auf besondere Versammlungen verweisen. Wer ohne Unterschied des Geschlechts zusammen dem Unternehmertum frondet, gemeinsam in harten Mühen um die Existenz ringt; wer ohne Unterschied des Geschlechts zusammen die Schlachten des Klassenkampfs schlägt, zusammen die oft sehr schwere Werktagsarbeit verrichtet für den Aufbau der besseren Zukunftsgesellschaft: der gehört auch zusammen bei der Wahl der Beauftragten zum Parteitage; der hat ohne Unterschied des Geschlechts Anspruch darauf, mit der Vertretung des klassenbewussten Proletariats betraut zu werden. Dazu noch eins: Mittelbar und unmittelbar tragen die Genossinnen so gut wie die Genossen bei zu den Kosten für die Entsendung der Delegierten. Opferfreudig spendet die proletarische Frau der allgemeinen sozialistischen Arbeiterbewegung ihr Scherflein, in Hunderten und Tausenden von Fällen nicht das Überflüssige, das Entbehrliche, sondern das Erdarbte, das Scherflein der Witwe. Und die Pfennige und Groschen, welche der Mann der Arbeit der Kriegskasse des klassenbewussten Proletariats zuführt, sie konnten vom ärmlichen Einkommen nur abgekargt werden Dank der Sparsamkeit, dem verständigen Walten, dem opfermutigen Verzichten der Frau. Wer die Verhältnisse in der Arbeiterfamilie kennt, der kann den proletarischen Frauen nicht zumuten, durch äußerste materielle Kraftanstrengungen die Mittel aufzubringen für in besonderen Frauenversammlungen gewählte Delegierte. Die Entsendung solcher Delegierten rechtfertigt sich als Notbehelf nur dort, wo eine besonders reaktionäre Fassung und Handhabung der Gesetze oder wo leider noch die Rückständigkeit der Genossen oder aber der Genossinnen ein Zusammengehen zwischen beiden schlechterdings verunmöglicht.
Der Breslauer Parteitag wird sicher unsere bestimmten Erwartungen bezüglich des Mitwirkens der Frauen an seinen Arbeiten nicht Lügen strafen. Weibliche Delegierte werden davon zeugen, dass immer größere Kreise der proletarischen Frauenwelt sich zum Evangelium des Sozialismus bekennen, dass die Schulung und Reife der Genossinnen stetig wächst, dass in Deutschland die Sozialdemokratie die einzige politische Partei ist, welche die Gleichberechtigung der Geschlechter theoretisch und praktisch vertritt. Die proletarische Frau ratet und tatet zusammen mit den Männern ihrer Klasse. Dem zopfigen Vorurteil des Spießbürgertums zum Trotz! Der Übermacht der Kapitalistensippe zum Trotz! Der Köllerei zum Trotz!
Ottilie Gerndt, Berlin, Vertrauensperson.
Die Redaktion der „Gleichheit“ Stuttgart.
Die Arbeiterpresse wird um Abdruck gebeten.
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