Clara Zetkin: Die gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen in Deutschland

[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 5. Jahrgang, Nr. 21, 16. Oktober 1895, S. 161 f.]

Die nicht oft genug zu wiederholende Tatsache, dass im Jahre 1893 in der Großindustrie des Deutschen Reichs nach den Berichten der Gewerbeinspektoren 616.620 erwachsene und 75.446 jugendliche Arbeiterinnen tätig waren, dass die Zahl der ersteren innen 12 Monaten um 40.187, die der letzteren um 2211 gelegen ist, muss die Aufmerksamkeit wieder und wieder auf die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterinnen lenken. Denkt man zu jenen 692.066 weiblichen Arbeitskräften noch die vielen Zehntausende von Frauen und Mädchen hinzu, welche in Kleinbetrieben, im Handel- und Verkehrswesen und vor allem in der Hausindustrie dem Kapital zinsen: so erhält man eine Vorstellung der Masse von Proletarierinnen, welche mittels des gewerkschaftlichen Kampfes ihr kärgliches Brot, ihre knappen Mußestunden, ihre Gesundheit, vielleicht ihre Ehre gegen kapitalistische Raffgier verteidigen müssen. Diese Zahlen geben aber auch einen Anhaltspunkt dafür, welch eminentes Interesse die männlichen Arbeiter daran haben, dass durch die Einbeziehung der Arbeiterinnen in die gewerkschaftlichen Organisationen gefährliche Schmutzkonkurrentinnen in treuliche Kampfesgenossinnen verwandelt werden. Mit welchem Erfolge ist 1894 seitens der deutschen Gewerkschaften an der diesbezüglichen Aufgabe gearbeitet worden? Das kündet uns die von er Generalkommission der deutschen Gewerkschaften kürzlich veröffentlichte „Übersicht über den Stand und die Stärke der deutschen Gewerkschaftsorganisationen“. Nicht zum Wenigsten mit Bezug auf den Stand der gewerkschaftlichen Arbeiterinnenbewegung verdienen diese Angaben die Beachtung der gesamten Arbeiterpresse.

Im Jahre 1893 waren in 15 zentralisierten Gewerkschaften 5384 Arbeiterinnen gruppiert; 1894 weisen 12 solche Organisationen nur 5251 weibliche Mitglieder auf. Diese Zahl, mit ihrem Minus von 133, berührt im ersten Augenblick sehr unangenehm. Bei den wenigen Tausenden gewerkschaftlich organisierter Arbeiterinnen bedeuten 133 verloren gegangene Mitglieder schon einen empfindlichen Rückschlag. Allein die Zahlen gewinnen ein anderes Aussehen, wenn man zwei Tatsachen Rechnung trägt. In den 5251 weiblichen Mitgliedern sind die im vorigen Jahr eingerechneten organisierten Plätterinnen nicht einbegriffen, deren Zahl allerdings nur noch 60 beträgt gegen 100 im Vorjahr. Ferner sind die statistischen Bogen nicht ausgefüllt worden von der Organisation der Kürschner, welche 1893 52 weibliche Mitglieder zählte, von denen wir nicht wissen, ob sie zugenommen oder abgenommen haben. Rechnen wir mit den aus dieser Sachlage resultierenden Zahlen, so schrumpft das Minus der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen 1894 gegen das Vorjahr auf 21 zusammen.

Sehr verfrüht wäre es noch, wollte man aus diesem Ergebnis auf einen Stillstand der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterinnen im Allgemeinen schließen. Vergleicht man die einzelnen Zahlen mit den diesbezüglichen Festlegungen von 1893, so gelangt man im Gegenteil zu der Überzeugung, dass die Einreihung der Arbeiterinnen in die Gewerkschaften in manchen Industrien recht erfreuliche Fortschritte gemacht hat. Dass diese Tatsache nicht sinnenfällig zu Tage tritt, erklärt sich vor allem durch den allerdings auffällig starken und bedenklichen Rückgang der organisierten weiblichen Tabakarbeiter. Er betrug 805; 1893 gehörten der Organisation 3636 Frauen und Mädchen an, 1894 nur noch 2831.

Zwar hat auch die Zahl der männlichen organisierten Tabakarbeiter in der nämlichen Zeit etwas abgenommen, sie sank von 13.750 auf 13.714. Aber immerhin bleibt das bedeutende Zusammenschwinden der weiblichen Mitgliedschaft eine so bemerkenswerte Erscheinung, dass sie eingehend nach ihren Ursachen untersucht werden sollte. Gerade für die Tabakindustrie spielt die Frauenarbeit in Hausindustrie wie Fabrikfron eine hervorragende Rolle. Die sattsam bekannten Hungerlöhne der Arbeiter und Arbeiterinnen dieses Gewerbes, die schweren hygienischen Missstände, die sich hier mit brutalster Missachtung menschlicher Lebenskraft geltend machen, predigen eindringlichst die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation.

Einen Rückgang an weiblichen Mitgliedern haben außer dem Verband der Tabakarbeiter noch drei Organisationen zu verzeichnen. Die Gewerkschaft der Zigarrensortierer verlor ihre sämtlichen 50 weiblichen Mitglieder; dem Verband der Vergolder gehören nur noch 15 statt 40 Frauen und Mädchen an, und die Organisation der Plätterinnen weist von 100 nur noch 60 Angehörige auf. Insgesamt verloren die vier hier in Frage kommenden Gewerkschaftsorganisationen 890 weibliche Mitglieder (1893: 3826; 1894: 2936) oder rund 23 Prozent derselben.

Diesem Weniger steht bei acht Organisationen ein sehr erhebliches Mehr gegenüber. Die weiblichen Mitglieder der organisierten Buchbinder, Gold- und Silberarbeiter, Holzarbeiter, Metallarbeiter, Sattler und Tapezierer, Schneider, Schuhmacher, Textilarbeiter stiegen von 1488 auf 2370, also um 882 oder um rund 50 Prozent. Dazu wiesen 1894 die Konditoren 5, die Seiler 30 weibliche Mitglieder auf. Einzelne der angeführten Gewerkschaften verzeichnen einen sehr stattlichen Zuwachs von weiblichen Mitgliedern. So stieg die Zahl der organisierten Arbeiterinnen der Schuhindustrie von 109 auf 230, also um 121, ihre Zahl hat sich mithin mehr als verdoppelt. Das Gleiche gilt von den organisierten Buchbinderinnen, deren Zahl sich von 213 auf 488 vermehrte, also um 275 = 109 Prozent zunahm. In der Gewerkschaft der Gold- und Silberarbeiter finden wir 227 gegen 53 Frauen und Mädchen, es ist eine Vervierfachung oder eine Zunahme von 328 Prozent der weiblichen Mitgliedschaft eingetreten. Beachtenswert stieg auch die Zahl der Arbeiterinnen in den Verbänden der Holzarbeiter, Schneider und Metallarbeiter. Wir bedauern, dass die lokal organisierten Gewerkschaften nicht dem Beispiel der Generalkommission folgen und genau Buch führen über den Stand ihrer Mitgliedschaft und die Zahl der ihnen anhängenden Arbeiterinnen.

Die von der Generalkommission veröffentlichten Zahlen über die Entwicklung der gewerkschaftlichen Arbeiterinnenbewegung enthalten den ermutigenden Beweis, dass diese vorwärts marschiert, trotz alledem. Trotz des noch großen Indifferentismus der ausgebeuteten Frauen und Mädchen; trotz der mangelnden Wertung, welche einen Teil der Gewerkschaftler noch bezüglich der Arbeiterinnenorganisationen charakterisiert; trotz der Schwierigkeiten, welche aus der eigentümlichen sozialen Stellung der Frau und vielfach aus der Natur ihrer Arbeitsbedingungen erwachsen.

Aber auch eine ernste Mahnung reden diese Ziffern. Sie zeigen, wie unendlich winzig das bereits bestellte Eckchen des riesigen Arbeitsfeldes ist, das der Bebauung harrt. Das Viele, was bereits getan worden ist, um das weibliche Industrieproletariat dem wirtschaftlichen Klassenkampfe einzureihen, es schrumpft zu Wenig zusammen gegenüber der ungeheuren Größe der Aufgabe, die dringend ihre Lösung heischt. Hier tatkräftig, opferfreudig und vor allem mit zäher Geduld wieder und wieder die Hand ans Werk zu legen, ist Pflicht jedes klassenbewussten Arbeiters, jeder klassenbewussten Proletarierin. Nicht bloß auf politischem Gebiete, auch auf wirtschaftlichem kann das Proletariat nur seine Schlachten siegreich schlagen, wenn neben dem Ausgebeuteten die Ausgebeutete zielklar und organisiert im Feuer steht.


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