Clara Zetkin: Papiernes Arbeiterinnenrecht

[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 5. Jahrgang, Nr. 19, 18. September 1895,S. 145 f.]

Unter dem Nachhall der traumhaften Augenblicksstimmung vom sozialen Königtum, die in den Februarerlassen ihren Ausdruck fand, wandelte die deutsche Gesetzgebung 1891 die Pfade der sozialen Reform, des Arbeiterschutzes. Gar verschämt und zaghaft, wie dies sich für die Gesetzgebung eines Reiches schickt, in welchem neben den strohdächerflickenden Itzenplitzen und Kökeritzen die schienenflickenden Baare und die ordnungsflickenden Stumm und Stümmchen zwar nicht regieren, aber herrschen. Kein Wunder also, dass das Beste, was die Gesetzgebung der Arbeiterschaft in jenem Augenblick bot – der Arbeiterinnenschutz – wenn schon „mit Hass“ serviert, noch lange nicht „ein gemästeter Ochse“ war, sondern bloß ein recht dürftig „Gericht Kraut“.

Den klarsten Ausdruck hat die profitfromme Halbheit des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes gefunden in Absatz 5 des § 137 der Gewerbeordnungsnovelle. Derselbe bestimmt, „dass Arbeiterinnen über 16 Jahre, die ein Hauswesen zu besorgen haben, auf ihren Antrag eine halbe Stunde vor der Mittagspause zu entlassen sind, insofern dieselbe nicht mindestens 1½ Stunden beträgt“. Welch beißende Satire auf den „freien Arbeitsvertrag“. Der „freien Arbeiterin“ muss das Gesetz das Recht zubilligen, eventuell eine halbstündige Mehrpause zu Mittag beantragen zu dürfen!

Über den grünen Klee wurde die Bestimmung gepriesen von den Ausbeutern und den ihnen Versippten und Verkauften. Sie bedeutete nach ihnen die Wiedergeburt des Familienlebens für viele Zehntausende, den Wiederaufbau jener Sphäre der weiblichen Tätigkeit, die einzig und allein im Zeichen des Kochlöffels, des Stopfpilzes und Fingerhuts stand. Hosianna Der proletarischen Hausfrau und Mutter war Heil widerfahren!

Ihr wurde das Recht zuerkannt, in 1½ Stunden an Familienleben zusammenzuklauben, was die kapitalistische Profitgier in elf Stunden und länger täglich zerstört.

Wer aber das Wesen des „freien Arbeitsvertrags“ kannte, d.h. das Wesen der Lohnsklaverei, der musste die Bestimmung durchaus anders bewerten. Die Sozialdemokratie hat denn auch von Anfang an behauptet, dass das Recht der Arbeiterinnen auf eine verlängerte Mittagspause ein papiernes bleibt, so lange die 1½stündige Unterbrechung ihres Schaffens nicht gesetzlich festgelegt ist. Die Tatsachen haben ihre Voraussage bewahrheitet, das geht uns den Berichten der Fabrikinspektoren für 1894 hervor, wie auch der Grund, weshalb das betreffende Arbeiterinnenrecht ein papiernes bleibt.

Der Fabrikinspektor für Baden, Wörishoffer, der trefflichste seiner deutschen Kollegen, erklärt in seinem Bericht, dass die Arbeiterinnen meist den Antrag auf die verlängerte Mittagspause nicht stellen aus Furcht vor Entlassung. Ähnlich wüten die diesbezüglichen Mitteilungen zahlreicher anderer deutscher Gewerbeaufsichtsbeamten. Besonders wuchtig zeugen die Berichte der chsischen und preußischen Fabrikinspektion von dem papiernen Arbeiterinnenrecht und der soliden Unternehmermacht?

So sagt der sattsam bekannte Dresdener Fabrikinspektor Siebdrat: „Es ist mit großer Sicherheit anzunehmen, dass eine nicht geringe Anzahl von Unternehmern diejenigen Arbeiterinnen, welche den erwähnten Antrag stellen, ohne Weiteres entlassen würden. Die Arbeiterinnen wissen dies und sehen auch in den meisten Fällen ein, dass die Durchführung einer zeitigeren Entlassung vor der Mittagspause Störungen und Umständlichkeiten im Betrieb verursachen und ihre Mitarbeiter eventuell zwingen würde, die Arbeit ebenfalls mit ihnen zu beendigen. Aus diesem Grund verzichten die Arbeiterinnen vielfach auf Stellung des Antrages, da im Allgemeinen der Vorteil einer verlängerten Mittagspause nicht im Verhältnis zu dem Nachteil steht, der ihnen aus der Kündigung oder bei der Bewerbung um Einstellung aus der etwa geforderten Erklärung, ob sie den Antrag zu stellen gedenken, im bejahenden Falle erwachsen würde.“

Die Kollegen des. Herrn Siebdrat in den Inspektionsbezirken Chemnitz, Zwickau, Leipzig, Meißen, Plauen, Zittau, Aue konstatiere die gleichen Tatsachen, nur in besserem Deutsch, dafür aber ohne Herrn Siebdrats dichterisches Talent, das Unterbleiben des betreffenden Antrags im verklärenden Lichte der Einsicht und Verständnisinnigkeit der Arbeiterinnen für „die Störungen und Umständlichkeiten im Betrieb“ zu erblicken. Ohne Siebdratsche Feinfühligkeit der Unternehmerwirtschaft gegenüber anerkennen sie vielmehr mit dürren Worten, dass hier und da der Antrag der Arbeiterinnen mit Entlassung geahndet wurde, dass er dort unterblieb, weil der Verlust der Stellung angedroht war oder die Zuweisung „minder beliebter Arbeit“ befürchtet ward, dass in den und jenen Betrieben die kapitalistischen Herren erklärten, Arbeiterinnen nicht einzustellen, welche eventuell von dem ihnen gesetzlich zuerkannten Rechte Gebrauch machen würden. Und mehrere der sächsischen Fabrikinspektoren, welche von nachteilsloser Durchführung der 1½stündigen Mittagspause für Arbeiterinnen berichten, fügen ihrer Mitteilung dem Sinne nach wie der Gewerberat für Leipzig hinzu, dass die größere Mittagspause „nur dann gern gesehen wird“, wenn „für den Fabrikbetrieb keinerlei Ungelegenheiten aus dem früheren Aufgeben der Tätigkeit entstehen“, lies: wenn für den Kapitalisten sowieso die Möglichkeit ausgeschlossen ist, während der halben Stunde Mehrwert ans den Arbeiterinnen herauszupressen.

Dass die kapitalistische Übermacht, die unbedingte Abhängigkeit der Arbeiterinnen von ihr, die in Frage kommende Gesetzesbestimmung in den weitaus meisten Fällen toten Buchstaben bleiben lässt, bestätigen auch, wie bereits erwähnt, die Berichte preußischer Fabrikinspektoren.

Nach dem Wissen der Aufsichtsbeamten für Westpreußen und Trier ist in ihren Bezirken der Antrag auf längere Mittagspause seitens der Arbeiterinnen niemals gestellt worden; aus Furcht vor Entlassung, gibt der Inspektor für Trier zu. Aus den Inspektionsbezirken Koblenz, Düsseldorf, Potsdam, Berlin, Hildesheim-Lüneburg, Magdeburg, Merseburg, Pommern und Liegnitz berichten die Gewerbeinspektoren, dass die Fabrikanten erklärten, sie würden die Arbeiterinnen entlassen, welche den Antrag auf die um eine halbe Stunde verlängerte Mittagspause stellten. Dies wüssten die Arbeiterinnen, und deshalb unterblieben die Anträge. In den Regierungsbezirken Erfurt und Hildesheim-Lüneburg kamen in einzelnen Fabrikbetrieben sämtliche Arbeiterinnen außer Beschäftigung, welche die 1½stündige Mittagspause gefordert hatten. Unternehmer der Regierungsbezirke Breslau und Posen machen die Einstellung weiblicher Arbeiter davon abhängig, dass diese kein Hauswesen zu besorgen haben oder wenigstens auf die dann zu beanspruchende längere Mittagspause verzichten. Die Arbeitsordnung einer Flachsspinnerei im Breslauer Bezirk legt fest, dass Arbeiterinnen, welche von ihrem Recht auf eine halbstündige Mehrpause zu Mittag Gebrauch machen wollen, keine Beschäftigung finden. Das ist brutal, aber wenigstens offenherzig. Mit Brutalität und Heuchelei drückt sich dagegen ein Fabrikant des Magdeburger Bezirks um die gesetzliche Bestimmung herum. Seine Arbeitsordnung besagt, dass die Arbeiterinnen das Recht besitzen, den bewussten Antrag zu stellen. Dem Fabrikinspektor vertraute er jedoch mit dem unverfälschten Zynismus des Protzen [an], dass er Frauen, welche den Antrag stellen wollten, aus der Arbeit entlassen bzw. nicht auf die Dauer beschäftigen würde.

Dass es die schmutzigste kapitalistische Raffgier ist, welche den Arbeiterinnen die halbstündige Mehrpause zu Mittag vorenthält, ersieht man recht sinnenfällig aus einer Bemerkung des Fabrikinspektors für Frankfurt a. O. Er berichtet, dass die Arbeiterinnen auf die um eine halbe Stunde längere Mittagspause verzichten, „um jeden Ausfall an Verdienst zu vermeiden und weil es ihnen angenehm ist, Abends eine halbe Stunde früher nach Hause gehen zu können. Dies stimmt mit dem Wunsche des Fabrikanten überein, der dadurch die Kosten der Heizung und Beleuchtung für eine halbe Stunde erspart„. Was wiegen gegenüber der Ersparnis für eine halbe Stunde Beleuchtung und Heizung die Gesundheit der Arbeiterin, ihr Ruhebedürfnis, ihr Wunsch nach einem dürftigen Fetzchen Familienleben, ihre Pflichten als Gattin und Mutter?

Die Proklamierung des Rechts der Arbeiterinnen auf halbstündige Mehrpause zu Mittag war ein schwächlicher Anlauf, den Proletarierinnen einen Teil der Pflichtleistungen zu ermöglichen, welche laut der Philistermoral den „Naturberuf“ der Frau ausmachen. Mit unfreiwilligem und desto schneidenderem Hohne, in trockener Tatsächlichkeit melden die Fabrikinspektorenberichte, wie kläglich sogar dieser schwächliche Anlauf gescheitert ist und scheitern musste. Heilig ist das Familienleben, es ist die Wurzel eines gesunden Volkstums, säuseln salbungsvoll kapitalistische Lippen. Heiliger als Familienleben und gesundes Volkstum, sakrosankt ist der Profit, erzählen beredt kapitalistische Taten.

Die Arbeiterin aber muss sich in die Sachlage fügen, obgleich ihr das Gesetz das Recht auf die 1½stündige Mittagspause zuerkennt. Ihrem Recht fehlt die gesetzlich zwingende Kraft, und – o Herrlichkeit des „freien Arbeitsvertrags“ – der Kapitalistenwille allein entscheidet darüber. Die deutsche Sozialreform hat mit feinem Verständnis ihrer Aufgabe den Bock zum Gärtner bestellt.

Wohl zuerkennt der Buchstabe des Gesetzes der Arbeiterin das Recht zu fordern. Aber die granitene Wirklichkeit unserer Wirtschaftsordnung verleiht dem Unternehmer die Macht zu versagen. Denn nur er ist es, der, gestützt auf seinen Besitz an Produktionsmitteln, einen „freien Arbeitsvertrag“ eingeht, während die Arbeiterin von dem Hunger in die Lohnsklaverei zu jenen Bedingungen hinein gepeitscht wird, welche dem Kapitalisten genehm sind, das heißt profitlich Das Arbeiterinnenrecht ist deshalb ein papiernes, solange nicht die zwingende Kraft des Gesetzes aufwiegt, was der Proletarierin an wirtschaftlicher Macht fehlt.

Die Sozialreform, welche die Durchführung ihrer Bestimmungen dem „freien Arbeitsvertrag“ überlässt, d.h. dem Ermessen des Unternehmertums, fehlt nicht aus naiver Torheit. Sie sündigt aus Mangel an ernstem Willen, des nötigen Arbeiterschutzes wegen den kapitalistischen Profit um ein Titelchen zu kränken. Nicht ihre wachsende Einsicht, nur die steigende Macht des Proletariats verbürgt der Arbeiterin, dass der Tag kommt, wo ihr Recht im Großen und im Kleinen aufhört, ein papiernes Recht zu sein.


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