[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 5. Jahrgang, Nr. 18, 4. September 1895, S. 137 f.]
„Die weiblichen Aufsichtsbeamten würden ausschließlich für die Arbeiterinnen da sein“, so äußerte sich bekanntlich dem Sinne nach mit erquickender Offenherzigkeit der Vertreter des preußischen Handelsministeriums abwehrend gegen die Forderung, Fabrikinspektorinnen anzustellen. Dies „Ausschließlich-für-die-Arbeiterinnen-da-sein“ müsste als gewichtiger Grund für die Ernennung weiblicher Beamten sprechen, statt gegen sie, so meint „man“ vielleicht. Aber nur, wenn „man“ ein naives Gemüt ist, das dahindämmert in holder Unbekanntschaft mit dem Wesen des preußischen Staats im Allgemeinen und der Natur der gepriesenen deutschen Sozialreform im Besonderen. Mit wünschenswertester Deutlichkeit erweisen es im „Bericht der preußischen Fabrikinspektoren für 1894″ Tatsachen, die starrnackigen Dinger, dass die Gewerbeaufsichtsbeamten durchaus nicht ausschließlich für die Arbeiterschaft da sind. Ziffern schreiben es hier in Frakturschrift, dass den Fabrikinspektoren in erster Linie ganz andere Pflichten obliegen als jene, die Durchführung des sogenannten gesetzlichen Arbeiterschutzes zu überwachen. Ihre vornehmste Aufgabe ist seit 1892: die Kesselrevision, für die eigentliche Gewerbeinspektion bleiben die Brosamen an Zeit und Kraft, die von der Kesselrevision Tische fallen.
Die Verquickung von Kesselrevision und Fabrikinspektion war wahrhaftig nicht vonnöten, um letzterer jeden, das herrschende Unternehmertum ängstigenden Charakter abzustreifen. Mit feinstem Verständnis für das, was einem kapitalistischen Staat geziemt, war im Reiche der Sozialreform par excellence schon sowieso dafür gesorgt, dass die Bäume der Fabrikinspektion nicht das biedere Kapitalistenherz schreckend in den Himmel wachsen konnten. Wie groß die Zahl der 1894 zu inspizierenden Betriebe war, ist in dem Bericht der preußischen Gewerbebeamten mit erklärlichem Stillschweigen übergangen. Aber bereits 1882 gab es laut Berufs- und Gewerbezählung in Preußen 451.453 inspektionspflichtige Betriebe. 1894 betrug die Zahl der Gewerbeaufsichtsbeamten 165. Sehen wir von der seit 1882 sicher eingetretenen Vermehrung der Betriebe ab, so hätte mithin jeder Gewerbeinspektor im Jahre 2736 Revisionen vornehmen müssen, d.h. täglich 7, an 181 Tagen aber sogar 8, dafern alle einschlägigen gewerblichen Anlagen im Jahreslaufe inspiziert werden sollten. Von vornherein ist also die Möglichkeit ausgeschlossen, dass jedes revisionspflichtige Unternehmen auch nur an einem einzigen von etwa 300 Arbeitstagen daraufhin besichtigt wird, ob in ihm die dürftigen Gesetzesbestimmungen zum Schutze der Arbeiter und Arbeiterinnen beobachtet werden.
Der preußische Staat, der bescheiden zu sein weiß, wo ihm sein Wesen Bescheidenheit zur höchsten Pflicht macht, hat auch unbeschadet seiner sozialreformatorischen Verheißungen von vornherein auf diese Möglichkeit bescheidentlich verzichtet. Die „Denkschrift betreffend die künftige Regelung der Gewerbeinspektion“, welche 1891 vom Minister für Handel und Gewerbe veröffentlicht wurde, schätzt die Zahl der im Jahre einem Aufsichtsbeamten möglichen Revisionen auf 500. 165 Fabrikinspektoren könnten also dieser Berechnung nach im Jahre nur 82.500 der zu revidierenden 451.453 Anlagen besichtigen, so dass jeder Betrieb im Mittel alle fünf Jahre einmal von der Fabrikinspektion „belästigt“ würde. Diese Ziffern zeichnen ein Bild anmutigen Stilllebens der Mehrwertpresserei, die, ungestört von wissbegierigen, pflichteifrigen Aufsichtsbeamten, abseits von dem Wege der gesetzlichen Vorschriften stillvergnügt ihre Pfade zu wandeln vermag. Aber wie unendlich weit bleibt dieses Bild noch hinter der Wirklichkeit zurück!
Aus den Berichten der preußischen Gewerbeinspektoren für 1894 geht hervor, dass jeder der 165 Aufsichtsbeamten im Jahresdurchschnitt statt der angenommenen 500 Revisionen deren nur 263 vorgenommen hat. In dem genannten Jahre wurden nämlich in 43.482 Inspektionen 34.345 Betriebe revidiert. Die Zahl der Revisionen blieb mithin fast um die Hälfte hinter der Annahme des Handelsministeriums zurück. Noch nicht 10 Prozent der imJahre 1882 inspektionspflichtigen Gewerbeanlagen wurden 1894 von der Revision erfasst. Die letzte Berufs- und Gewerbezählung wird aber sicher klärlich erweisen, dass eine bedeutende Zunahme der zu revidierenden Betriebe stattgefunden hat. Das Verhältnis zwischen der vorhandenen Aufgabe und ihrer Lösung ist mithin ein noch weit ungünstigeres, als aus den Zahlen erhellt, welche in aufreizendster Weise von der deutschen bzw. preußischen Sozialreform reden.
Es liegt auf der Hand, dass die Verquickung von Kesselrevision und Fabrikinspektion für diesen jammerhaften Stand der Dinge zum großen Teil mit verantwortlich ist, dass sie verbösert, was ohnehin schon bös genug ist. Leider ist der Bericht der Fabrikinspektoren wie in vielen anderen Beziehungen auch darin mangelhaft, dass er keine Gesamtübersicht der Kesselrevisionen enthält. Aber aus den Zahlenangaben einzelner Beamten lässt sich ersehen, wie ungemein schädigend die Kesselrevision die eigentliche Fabrikinspektion beeinflusst. In Breslau z.B. wurden von 8 Beamten 1330 Gewerbeinspektionen und 1310 Kesselrevisionen vorgenommen. Ans den Beamten kamen also durchschnittlich 330 Revisionen, von denen er 164 für die Kesselprüfung aufwenden musste, so dass fürseine eigentliche Aufgabe nur 166 Besichtigungen übrig blieben. Dabei ist festzuhalten, dass die Kesselrevisionen einen großen Zeitaufwand erfordern, so dass ihre Zahl allein noch gar nicht einmal den Maßstab dafür gibt, in welchem Umfange sie die Gewerbeinspektion beeinträchtigen und bis zu einem gewissen Grade ganz illusorisch machen.
Als bloßes dekoratives Beiwerk, als sozialreformatorischer Blender erscheint denn auch die Fabrikinspektion im Lichte der diesbezüglichen Äußerungen der meisten Gewerbebeamten. Noch im Berichtsjahre 1893 wagten, wenn wir nicht irren, nur drei derselben der ministeriellen Auffassung entgegen das Widersinnige der Verquickung von Kesselrevision und Fabrikinspektion submissest zu beklagen. Im Berichtsjahre 1894 dagegen stimmen fast alle Gewerbebeamten darin überein, dass ihre eigentliche Aufgabe, die Fabrikinspektion, hinter der Kesselrevision zurücktritt. In den Berichten der Gewerbebeamten für die Regierungsbezirke Trier, Düsseldorf, Kassel, Liegnitz, Potsdam und der Provinzen Pommern und Westpreußen heißt es, dass die Kesselprüfungsgeschäfte den „größten Teil“ oder den „überwiegenden Teil“ der Tätigkeit der Beamten oder „fast die ganze Zeit“ derselben in Anspruch nimmt. „Auf den eigentlichen Gewerbeaufsichtsdienst konnte leider nur eine verschwindend geringe Zeit verwendet werden„, fügt der Bericht für die Provinz Pommern vielsagend hinzu. Ähnlich äußern sich die Gewerbebeamten für die Regierungsbezirke Arnsberg, Köln, Hildesheim und Lüneburg, Merseburg, Schleswig, Breslau, Oppeln, Frankfurt a. O. etc. Der Bericht für den Regierungsbezirk Aachen enthält den Stoßseufzer: „Die Kesseluntersuchungen in Verbindung mit dem erheblichen Schreibwerk nehmen reichlich die Hälfte der Zeit in Anspruch.“ In den Regierungsbezirken Hannover und Münster und in der Provinz Ostpreußen entfielen auf die Kesselrevisionen „annähernd“ oder sogar „mindestens zwei Drittel der gesamten dienstlichen Tätigkeit der Beamten“; in der Provinz Posen und im Regierungsbezirk Minden wurde von „den Kesselgeschäften etwa drei Viertel der Tätigkeit in Anspruch genommen“. Die Aufsichtsbeamten von Trier, Köln und Liegnitz meinen, dass die Trennung von Kesselrevision und Fabrikinspektion wünschenswert ist, bzw. dass eine entsprechende Vermehrung von Hilfskräften in der Inspektion stattfinden muss.
Ganz unhaltbar müssen die Zustände bezüglich der Fabrikinspektion liegen, wenn die im Getriebe des preußischen Staatslebens meist zu bürokratischen Mustermenschen gedrillten Beamten die Unzulänglichkeit derselben anerkennen. Viele dieser Herren setzen bekanntlich in der Regel ihren Männerstolz nicht eben darein, Ansichten zu äußern, welche sich mit der Auffassung an „vorgesetzter Stelle“ nicht decken. Ihre trockenen, geschäftsmäßigen Mitteilungen reden deshalb ganze Bände von der absoluten Mangelhaftigkeit der Fabrikinspektion, werden zur aufreizenden Kritik der Wege, ans denen die deutsche Sozialreform rückwärts schreitet.
Übrigens zeitigt die Verquickung von Kesselrevision und Fabrikinspektion für letztere nicht bloß die gekennzeichneten Folgen. Eine bedeutende Anzahl von Besichtigungen der Betriebe macht sie bezüglich der Überwachung der Arbeiterschutzbestimmungen durchaus wertlos. Es ist bekannt, mit welcher Virtuosität und Dreistigkeit das Schienen flickende und Steuern hinterziehende „gesetzliebende“ Unternehmertum sich über Bestimmungen hinwegzusetzen pflegt, welche seinen sakrosankten Profit um ein Titelchen schmälern. Für die strikte Durchführung der gesetzlichen Vorschriften zum Schutze der Arbeiterschaft bürgt deshalb die Fabrikinspektion nur dann, wenn sie plötzlich, unvermutet geschieht. Die regelmäßigen inneren Revisionen, welche bei feststehenden Kesseln alle vier, bei beweglichen alle drei und bei Schiffsdampfkesseln alle zwei Jahre stattfinden, machen die Einstellung des Betriebs notwendig und müssen deshalb mindestens vier Wochen vorher angezeigt werden. Das „gesetzliebende“ Unternehmertum hat also in diesem Falle schönste Gelegenheit, dem Kesselrevisor und Auch-Fabrikinspektor Potemkinsche Dörfer von „Musterbetrieben“ vorzuführen, die durchaus den gesetzlichen Vorschriften entsprechen.
Die Zusammenkuppelung von Kesselrevision und Fabrikinspektion veranlasst außerdem, dass bei der Ernennung von Gewerbebeamten in erster Linie deren technische Vorbildung berücksichtigt wird und nicht ihre sozialpolitischen Kenntnisse, ihr Verständnis für die Lage und die Interessen der Arbeiterschaft. Hinter ihr, hinter der von ihr bedingten „nötigen technischen Ausbildung“ verschanzt man sich, um die Nichtheranziehung von Arbeitern und Arbeiterinnen zur Gewerbeinspektion fadenscheinig zu begründen.
Mit Fug und Recht hat die Sozialdemokratie von Anfang an die Verquickung von Kesselrevision und Fabrikinspektion bekämpft als eine Ungeheuerlichkeit, einen Widersinn. Die Gewerbeaufsicht sollte eine Einrichtung sein zum notdürftigen Schutze der Arbeiter und Arbeiterinnen. Dank ihrer Verquickung mit der Kesselrevision dient sie hauptsächlich der Förderung der Unternehmerinteressen. Die deutsche Sozialreform will keine Fabrikinspektion, die „ausschließlich für die Arbeiterschaft da wäre“, ihr Wesen kennzeichnet trefflich und vernichtend die Kesselrevision, nebenbei auch Fabrikinspektion.
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