[Die Neue Zeit, IX. Jahrgang 1890-91, II. Band, Nr. 45, S. 585-588]
Berlin, den 27, Juli.
Die Reichstagswahl in Kassel-Melsungen kommt recht zu pass, den „neuen Aufschwung“ zu beleuchten, den der Antisemitismus in Deutschland genommen haben will und bis zu einem gewissen Grade auch, wohl genommen hat. Die ökonomische Entwicklung wirft in steigendem Umfange die ländlichen und städtischen Kleinbesitzer ins Proletariat, und noch immer übersehen Bauern und Handwerker ihren unsichtbaren Vernichter, den Kapitalismus, indem sie sich an die sichtbare Hülle halten, in welcher derselbe in einem mehr oder minder großen Teile von Deutschland erscheint.
Man darf diesen praktischen Antisemitismus zwar nicht billigen, aber man kann ihn verstehen; dagegen ein Rätsel, gleich geheimnisvoll für Weise und für Toren, ist der theoretische Antisemitismus. Er hat in den fünfzehn Jahren, welche ungefähr der Spuk schon währen mag, eine an Umfang nicht unbedeutende Literatur geschaffen, aber er soll noch immer das erste Wort sprechen, aus welchem sich ungefähr erkennen ließe, was er denn eigentlich will. Einzelne seiner Vertreter sind oder waren zweifellos nicht unbefähigt, so die beiden Förster, so Henrici, so auch Stoecker; aber vergebens sucht man in den Reden und Schriften, welche sie gegen das Judentum vom Stapel gelassen haben, nach einem praktischen Aktionsprogramm, geschweige denn nach einer einheitlichen Weltanschauung. Ihrer Weisheit erster und letzter Schluss ist das geflügelte Wort: „Die Juden sind nun doch einmal unser Unglück“ und als Beweis für diesen Satz dient eine Reihe von Aussprüchen „großer Männer“ von Luther an bis auf Bismarck. Die Deklamationen gegen das Kapital, welche nebenher laufen, sind so allgemein wie möglich gehalten, und sie müssen es auch sein, sintemalen sie nur das jüdische Kapital treffen, also den Bären waschen sollen, ohne seinen Pelz nass zu machen. In der Unmöglichkeit, theoretisch die Notwendigkeit seines Daseins zu beweisen, sucht der Antisemitismus die Gerechtigkeit seiner Sache wenigstens durch praktische Beispiele zu erläutern: so hat er neuerdings mehrere, zum Teil sehr dickleibige Pamphlete auf den literarischen Markt geworfen, welche mit dem kapitalistischen, ohnehin etwas anrüchig gewordenen Vorwurfe: der „Lust am Skandal“ nicht gänzlich zu beseitigen sind. Zwar die Veröffentlichung der zwei starke Bände umfassenden Schrift „Eine jüdisch-deutsche Gesandtschaft und ihre Helfershelfer“ ist unzweifelhaft ein Skandal, da sich die antisemitische Agitation hier eines offenbar geisteskranken Mannes bedient hat, um das Judentum mit einer Reihe von Anklagen und Beschuldigungen zu überhäufen, deren Haltlosigkeit zum großen Teile schon aus der Darstellung des mit naiver Gedankenlosigkeit schreibenden Verfassers hervorgeht. Dagegen enthalten die grobkörnigen Broschüren des antisemitischen Rektors Ahlwardt über den „Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum“ für den Kapitalismus immerhin manches Körnlein groben Salzes Insbesondere ist in ihnen die Tatsache, das ein jüdischer Großkapitalist einen Falscheid geleistet hat, um sich der Abfindung einer abgedankten Mätresse zu entziehen, und dass einzelne Polizeibeamte ihm in dieser unsauberen Privatsache hilfreiche Hand geleistet haben, um die unbequeme Bedrängerin zu beseitigen, zu einem so hohen Grade der Wahrscheinlichkeit gebracht, das es nicht recht erklärlich ist, weshalb eine amtliche Untersuchung dieser für das „Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte“ immerhin etwas kompromittierlichen Tatsachen unterbleibt, Aber das Alles nützt der antisemitischen Agitation blutwenig, Denn die deutsche Polizei rekrutiert sich keineswegs aus dem Judentume, und der im Dienste von Klasseninteressen geleisteten Falscheide sind nachgerade so viele geworden, das die jüdische Bevölkerung schwerlich mit einem unverhältnismäßig hohen Prozentsatze daran beteiligt ist. Auch in dieser Beziehung verschuldet nur der Kapitalismus, was das Judentum verschuldet haben soll.
So bewegt sich die antisemitische Agitation in einem fehlerhaften Kreise, und wie auf sie gemünzt ist das Wort: „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage,“
Die „Vernunft“ der ökonomischen Entwicklung ruft sie als „Unsinn“ hervor, und die „Wohltat,“ welche ihr tagtäglich neue Rekruten zuführt, wird ihr zur Plage, dies Heer marsch- und schlagfähig zu machen. Sie wirft angeblich ein empörerisches Banner gegen den Kapitalismus auf, aber am Tage der Schlacht, wenn ein Hüben und ein Drüben nur gilt, taumelt sie schwankend zwischen den feindlichen Schlachhtreihen und überlegt mutvoll, ob ihre Fahne am Ende doch nicht nur ein Taschentuch ist, in welches sich geräuschvoll ihre Loyalität trompeten lässt. Dies und dies allein ist der Sinn der verworrenen und widersprechenden Erklärungen, welche die antisemitischen „Führer“ zu der Stichwahl in Kassel-Melsungen erlassen haben, und wer sollte nicht dankbar sein für das heitere Zwischenspiel in ernster Zeit!
Auf der anderen Seite aber. ist der Philosemitismus um kein Haar besser, als der Antisemitismus Wenn dieser den Kapitalismus zu bekämpfen behauptet, indem er die Juden verfolgt, so behauptet dieser, die Juden zu schützen, indem er den Kapitalismus durch dick und dünn verteidigt. Hat doch nie ein Antisemitenführer einen einzelnen Juden so erbarmungslos zu vernichten gesucht, wie Herr Eugen Richter, der oberste Führer des „freisinnigen“ Philosemitismus, eben erst den jüdischen Schriftsteller Marx, nur weil sich derselbe öffentlich zu beschweren wagte, dass er, einzig um seiner Eigenschaft als Jude willen, von einem freisinnig-philosemitischen Blatte brotlos gemacht worden war. „Tut nichts, der Jude wird verbrannt“: vorausgesetzt, das der Jude, sei es auch nur in Betätigung seines Selbsterhaltungstriebes als Jude, die kapitalistischen Kreise zu stören wagt! Und wie müsste – so sollte man logischer Weise folgern – das kapitalistische Lager im Wahlkreise Kassel-Melsungen sich freuen, das das Pentagramma auf seiner Schwelle dem Antisemitismus doch noch einige Pein macht, dass die „Schmach des neunzehnten Jahrhunderts“ doch nicht gerade mit fliegender Fahne, sondern nur mit vorgehaltenem Taschentuche zu ihm übergehen will, Aber nein: die freisinnig-philosemitischen Blätter erbosen sich über dies Zögern? mit Drohen halb und halb mit Liebkosen suchen sie die „Todfeinde der modernen Gesittung“ zu sich herüberzuziehen. Non olet, es riecht nicht: der Antisemitismus duftet nicht mehr übel, wenn er als Hilfstruppe verwandt werden kann im Kampfe gegen die Arbeiterklasse.
Es ist tatsächlich von geringer Bedeutung, wer bei der Stichwahl in Kassel-Melsungen siegt; grundsätzlich aber wäre eher zu wünschen, das die antisemitischen Wähler in das kapitalistische Lager übergingen*), als dass sie die Wahl des sozialdemokratischen Kandidaten für das „kleinere Übel“ hielten und demgemäß stimmten. In jenem Falle würden die proletarisierten Kleinbürger, die sich in nativem Missverständnisse ihrer Klassenlage zum Antisemitismus bekennen, um so eher zur richtigen Erkenntnis gelangen und den sie nasführenden „Führern“ wäre das lebte Feigenblatt ihrer kapitalistischen Blöße um so gründlicher abgerissen. Diese „Führer“ würden auch nicht einmal mehr einen scheinbaren Einwand gegen die Tatsache erheben können, das sie dem „jüdischen“ Kapitale nur an den Kragen wollen, um das „christliche“ Kapital um so weniger in seiner ausbeutenden Tätigkeit zu stören, Kornzöllner und Anti-Kornzöllner, Philo- und Antisemiten in derselben Schlachtordnung gegen die klassenbewussten Arbeiter: die holde Schönheit dieser „reaktionären“ Masse wiegt manches Jahr mühsamer Agitation auf; sie predigt mit feurigen Zungen.
Vor Allem aber ist es aufs Innigste zu wünschen, dass der Gegensatz zwischen Antisemitismus und Philosemitismus „bis in den letzten Winkel erleuchtet“ werde, so weit dieser Gegensatz wirklich besteht, besteht er nur auf dem Boden der heutigen Wirtschaftsordnung; über den Brutalitäten, welche der Antisemitismus, mehr in Worten, als in Taten, gegen die Juden begeht, darf man die Brutalitäten nicht übersehen, welche der Philosemitismus, mehr in Taten, als in Worten, gegen jeden begeht, der, sei er nun Jude oder Türke, Christ oder Heide, dem Kapitalismus widerstrebt. Der Philosemitismus ist nur insofern ein Gegensatz zum Antisemitismus, als der Antisemitismus ein Gegensatz zum Kapitalismus ist. Der Antisemitismus ist der Kapitalismus avec phrase, der Philosemitismus aber der Kapitalismus sans phrase. Jener kokettiert mit den Forderungen der Arbeiterklasse, wie dieser mit den Forderungen kokettiert, welche die bürgerlichen Klassen im aufsteigenden Aste ihrer geschichtlichen Entwicklung vertreten haben. Aber Herr Stoecker ist keine grellere Satire auf Karl Marx, als Herr Eugen eine grelle Satire auf Lessing ist.
Der Kampfpreis, um den die Antisemiten und die Philosemiten ringen, sind die armen Seelen der Kleinbesitzer, denen mit jedem Jahre der kapitalistischen Entwicklung die Enteignung näher auf den Leib rückt. Jene bieten ihnen ein Quacksalber-Heilmittel an, während diese sie nur damit zu trösten wissen, das sie ihnen den Wind der „unumstößlichen Prinzipien“ von St. Manchester um die Nase wehen lassen. Es ist nur zu begreiflich, das die Bauern und Handwerker zunächst nach dem angeblichen Heilmittel greifen. Aber die Täuschung währt nicht lange, weil sie nicht lange währen kann. Der antisemitischen Agitation fehlt die innere Bewegung, die folgerichtige Entwicklung und damit die Zukunft. Ihre paar Enklaven liegen über Deutschland zerstreut, wie allmählich verdünstende Tümpel, welche die kapitalistische Überschwemmung zurückgelassen hat, während der gewaltige Strom der. Arbeiterbewegung das neue Leben in seinem Schoße trägt, das aus den Ruinen blühen wird.
Für die Klassenbewussten Arbeiter hat der „Gegensatz“ zwischen Anti- und Philosemitismus nie irgend eine Bedeutung gehabt. In dem Programm der Internationalen heißt es, das „die internationale Arbeiterassoziation und alle ihr angehörigen Gesellschaften und Individuen Wahrheit, Recht und Sitte als die Grundlage ihres Betragens untereinander und gegen alle ihre Mitmenschen ohne Rücksicht auf Farbe, Bekenntnis oder Nationalität anerkennen.“ Gegenüber dieser großherzigen Auffassung des Humanitätsgedankens schwindet der Streit zwischen dem Kapitalismus in ideologischer Verkleidung einer- und dem Kapitalismus in sozialistischer Verkleidung andererseits ins Winzige zusammen, Und zudem: die Spuren schrecken. Hegel bemerkt irgendwo, das alle geschichtlichen Ereignisse sich zweimal ereignen, und Karl Marx fügt hinzu: das eine Mal als Trauerspiel, das andere Mal als Posse, Es war das Trauerspiel, als Tetzel, der marktschreierische Vorkämpfer des mittelalterlichen Kapitalismus, der päpstlichen und beiläufig auch philosemitischen Ausbeutung, sich mit Luther, dem antisemitischen Freunde der Bauern, der mittelalterlichen Proletarier, in die Haare geriet, Damals schrieb Hutten? „Die Anführer beider Parteien schreien, heulen, klagen, so laut sie können, sie drucken und verbreiten Sätze, Schlüssel und Artikel, so hoffe ich, dass sie sich gegenseitig zu Grunde richten werden,“ Der fränkische Ritter war klug genug, die richtige Ansicht zu fassen, aber nicht klug genug, sie festzuhalten. Als Mitglied einer Klasse, deren Untergang so unabwendbar war, wie heute der Untergang des Kleinbesitzes ist, verfiel er, wie dieser, einer hoffnungslosen Illusion. Er ging zum Luther und wurde verraten, wie bald nach seinem elenden Tode in der Verbannung noch schmählicher die Bauern verraten wurden, gegen die Luther weit ärger wütete, als er jemals gegen die Juden gewütet hatte.
Ein Glück wenigstens, dass was damals ein Trauerspiel war, heute nur noch als Posse möglich ist. Aber so betrachten wir den Froschmäusekrieg der Tetzel und Luther von heute, der Richter wie der Stoecker und ihres philo- wie antisemitischen Anhangs denn auch nur als Posse!“
*) Ist geschehen. D. Red
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