[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ – 19. 1900-1901, 2. Band, Heft 29 (17. April 1901), S. 89-91]
Das wichtigste Vorkommnis auf der jüngsten Landeskonferenz unserer sächsischen Genossen scheint uns die Akademikerdebatte zu sein und zwar ihre gegen die „Akademiker“ gerichtete Seite derselben.
Sie hatte ja zwei Seiten, Sie richtete sich nicht bloß gegen die Akademiker, sondern auch gegen jene Parteigenossen, die, namentlich bei der Aufstellung von Kandidaten, solche mit akademischen Titeln, wenn auch Neulinge, vor erprobten, tüchtigen Genossen bevorzugen, die „bloß“ Arbeiter sind. Man glaubt vielfach, ein akademischer Titel übe auf die Masse einen besonderen Zauber aus, so dass sein Träger ein wirksamerer Kandidat sei als ein Anderer. Dass die Auswahl der Kandidaten von diesem Standpunkt zu Missgriffen und zu ungerechtfertigter Bevorzugung von Akademikern führen kann, ist wohl nicht zu bezweifeln, aber diese Seite der Frage bietet nichts Außerordentliches. Seitdem die Partei an Wahlkämpfen teilnimmt, hat es immer Fälle gegeben, in denen die Eroberung des Mandats aus einem Mittel zum Zweck Selbstzweck wurde, so dass man bei der Aufstellung der Kandidaten wie bei der Wahlpropaganda der wirklichen oder vermeintlichen Beschränktheit der großen Masse mehr Konzessionen machte, als am Platze war. Diese Seite der sächsischen Akademikerdebatte gehört in eine Rubrik mit den zeitweiligen Klagen über Wahlflugblätter, die sehr oft auch keine Muster prinzipieller Propaganda sind.
Ob die Kandidatur Göhres im fünfzehnten sächsischen Wahlkreis ein derartiger Missgriff war, entzieht sich unserer Beurteilung. Bemerkenswert wurde der Fall aber dadurch, dass die Diskussion über ihn sich nicht auf die lokale und persönliche Einzelerscheinung beschränkte, sondern zu allgemeinen Anklagen führte, und dass dabei eine scharfe Trennung von Akademikern und Proletariern zu Tage trat.
Die Arbeiter (mit Ausnahme von Landgraf-Burgstädt) vertraten alle denselben Standpunkt, und außer den anwesenden Akademikern selbst – die übrigens persönlich nicht angegriffen waren – führte Niemand die Sache der Akademiker. Wir sehen darin das Symptom einer weitreichenden Missstimmung gegen manche akademische Elemente in unseren Reihen, einer Missstimmung, die, wie wir aus gelegentlichen Zuschriften und anderen Äußerungen wissen, sich nicht auf Sachsen beschränkt. Man darf diese Erscheinung weder unterschätzen, noch auch einfach als knotenhaften Appell an die schwielige Arbeiterfaust abtun. Über diesen primitiven Standpunkt waren, soviel wir sehen, alle Redner in der Diskussion hinaus. Wir glauben, unsere Akademiker werden gut tun, sich bei dieser bequemen Erklärung nicht zu beruhigen, sondern nach einer anderen zu suchen.
Unseres Erachtens findet man den Grund des Gegensatzes zwischen Akademikern und Proletariern am ehesten, wenn man untersucht, welches die Aufgaben der ersteren in unserer Partei sind.
Die sozialdemokratische Bewegung ist ein proletarischer Klassenkampf; aber sie ist nicht bloß das. Proletarische Klassenkämpfe finden wir auch in England und anderwärts, wo es keine große sozialdemokratische Bewegung gibt. Was die sozialdemokratische Bewegung vor anderen proletarischen Klassenkämpfen auszeichnet, das ist die Erkenntnis des Zieles der gesamten proletarischen Bewegung und die daraus folgende Zusammenfassung des Proletariats in eine politische Partei zu planmäßigem, bewusstem Hinarbeiten auf dieses Ziel. Wo es eine kapitalistische Gesellschaft gibt, gibt es proletarische Klassenkämpfe; aber nur unter besonderen Bedingungen gelangt das Proletariat zum Bewusstsein seiner historischen Rolle und damit zu politischen Selbständigkeit. Nur durch den Sozialismus, das heißt durch ein revolutionäres Endziel, kann das Proletariat politisch selbständig werden.
Der Sozialismus, wenn er nicht ganz naiv und damit politisch unbrauchbar bleiben soll, setzt aber Einsicht in die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge, setzt ihre methodische Erforschung voraus. Die Wissenschaft ist indes heute noch ein Privilegium der besitzenden Klassen. Einen lebenskräftigen Sozialismus kann daher das Proletariat nicht aus sich selbst schaffen, er muss ihm gebracht werden von Denkern, die, mit allen Hilfsmitteln der bürgerlichen Wissenschaft bewaffnet, sich auf den proletarischen Standpunkt stellen und von ihm aus eine neue, proletarische Gesellschaftsauffassung entwickeln. Es sind denn auch bekanntlich vorwiegend aus dem Bürgertum stammende Elemente gewesen, die aus der unbewussten Klassenbewegung des Proletariats eine bewusste und selbständige machten und dadurch die Sozialdemokratie vorbereiteten und schließlich begründeten.
Wohl haben an dem Werke der theoretischen Entwicklung des Sozialismus auch Proletarier hervorragend mitgewirkt – so der Schriftsetzer Proudhon, der Schneider Weitling, der Gerber Dietzgen, der Drechsler Bebel – aber in der Regel wird dem Proletarier die soziale Praxis näher liegen als die soziale Theorie, und dies gilt heute mehr als je, da heute den Proletarier, je intelligenter und selbstloser er ist, um so mehr die Kleinarbeit der politischen, gewerkschaftlichen, mitunter auch noch genossenschaftlichen Agitation und Organisation vollständig in Anspruch nimmt.
Es ist also vor Allem die Aufgabe der wissenschaftlich gebildeten bürgerlichen Elemente, der Intellektuellen oder der „Akademiker“ in unserer Partei, die Einsicht in die großen, gesellschaftlichen Zusammenhänge, eine weitschauende, über das Augenblicksinteresse sich erhebende sozialistische Erkenntnis, das heißt den revolutionären Geist im besten Sinne des Wortes zu entwickeln und zu verbreiten. Die Bedeutung der Akademiker, welche in diesem Sinne wirkten, hat das kämpfende Proletariat stets anerkannt. Zwischen diesen Elementen hat sich nie eine Kluft aufgetan.
Es ist die Erkenntnis des Zieles, wozu das Proletariat die Akademiker braucht; dagegen bedarf es ihrer nicht zur Führung seiner Klassenbewegung. Wie etwa Gewerkschaften zu organisieren, wie Streiks zu gewinnen, Konsumvereine zu organisieren, ja selbst wie Arbeiterschutzgesetze in den Parlamenten auszuarbeiten und zu vertreten sind, das wissen die in der Bewegung erfahrenen Arbeiter besser als irgend ein Akademiker; soweit diese etwas davon verstehen, haben sie es von den Arbeitern gelernt.
Für die Kleinarbeit des Tages sind also die Akademiker überflüssig; in England, dem Musterland der praktischen Arbeiterbewegung ohne Endziel sind denn auch die proletarischen Bewegungen von den Akademikern frei geblieben; nicht die Anerkennung eines bestimmten Programms, sondern die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse ist dort die Vorbedingung für den Posten eines Arbeitervertreters, Das Ideal der schwieligen Arbeiterfaust ist dort zur vollsten Reinheit entwickelt.
Merkwürdigerweise hat das englische Vorbild es gerade einem Teile unserer jüngeren Akademiker angetan. Gerade aus ihren Reihen ertönte am lautesten die Verurteilung der „Theoretiker“ und „Propheten“ und am lautesten die Lobpreisung des praktischen Aufgehens in der Kleinarbeit, Und manche von ihnen preisen nicht bloß die Vernachlässigung der Theorie, sondern praktizieren sie auch. Sie wirken energisch dahin, den wissenschaftlichen Drang zu ertöten, der im deutschen Proletariat so stark entwickelt ist, und merken nicht, wie sehr sie ihre eigene Bedeutung dadurch untergraben.
Bei jenen Arbeitern, die von der Verachtung der Prinzipien und des „evolutionären Prophetentums“, das heißt jeder weitschauenden Politik, ergriffen werden, kommen die Akademiker in Misskredit, weil sie ihnen überflüssig erscheinen. In der Tat, was haben diese bei der täglichen Kleinarbeit vor den Arbeitern voraus, als eine gewisse äußerliche Fertigkeit im Gebrauch der Feder, mitunter auch der Zunge, die Beherrschung des richtigen Gebrauchs von Dativ und Akkusativ? Man lässt sich derartige Akademiker gefallen, wo sie sich als verwendbare Werkzeuge zeigen, wo sie aber mehr sein wollen, empfindet man das als Vordringlichkeit.
Aber in der deutschen Arbeiterklasse kann das Aufgehen in der Kleinarbeit des Tages stets nur eine vorübergehende Mode unter einzelnen ihrer Mitglieder sein. Ganz abgesehen von allen anderen Ursachen, die dahin wirken, ist es schon die Haltung der herrschenden Klassen, der Scharfmacher und der von ihnen abhängigen Regierungen einerseits, die Feigheit und Erbärmlichkeit der bürgerlichen Demokratie andererseits, die es dem Arbeiter immer wieder zum Bewusstsein bringen, dass er im Rahmen der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung dazu verurteilt bleibt, Bürger zweiter Klasse zu sein, und dass er nur durch eigene Kraft, durch Überwindung dieser ganzen Ordnung zur Freiheit und Gleichheit zu gelangen vermag. Diese Haltung der deutschen Bourgeois und Regierungen ist es, die sein revolutionäres Empfinden und damit das Interesse und das Verständnis für revolutionäres Denken, das heißt für eine groß angelegte, weitschauende Politik mit großen politischen und sozialen Zielen, wach hält. Was diese weiter schauenden Elemente des Proletariats von den Akademikern erwarten, das ist die Erhebung über die Misere der alltäglichen Kleinarbeit, die Erhebung über den engen Kreis, der den Sinn verengert, die Setzung größerer Zwecke, die den Menschen wachsen machen. Werden für den Praktiker der Kleinarbeit die Akademiker überhaupt überflüssig, weil er auf die Theorie pfeift und die Praxis selbst besser versteht, so werden für den idealistischen Arbeiter jene Akademiker überflüssig, welche selbst auf die Theorie pfeifen, ihm alle großen Ausblicke versperren und seinen Geist auf das Nächstliegende beschränken wollen.
Wir sind Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung, das heißt aber nicht, dass wir die Kraft sozialer Ideale leugnen, sondern dass wir sie aus gesellschaftlichen Ursachen erklären, dass wir sie aus dem Reiche der frommen Wünsche in das Reich der Notwendigkeit versetzen. In diesem Sinne ist Niemand idealistischer, als gerade die Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung. Wir wissen, warum die Bourgeoisie keine Ideale mehr hat und haben kann; wir wissen aber auch, warum das kämpfende Proletariat Ideale hat und haben muss.
Die „Intellektuellen“ in der Partei sind berufen, ihm diese Ideale, nach denen es verlangt und die es aus seiner Klassenlage erzeugt, wissenschaftlich zu entwickeln und zu begründen; das ist ihre historische Aufgabe, dadurch werden sie zu einem bedeutenden Gliede der Sozialdemokratie. Wenn sie dagegen dem Proletariat statt der wissenschaftlichen Vertiefung und Bekräftigung seiner Ideale nur müde Zweifelsucht und beschränkte Kleinkrämerei bringen, dann sägen sie selbst den Ast ab, auf dem sie sitzen, dann können sie momentan den Beifall der Praktiker finden, sie müssen aber schließlich bei diesen wie bei den Idealisten und Revolutionären in Misskredit geraten.
Als ein Symptom dieser Missstimmung erscheint uns die Akademikerdebatte in Leipzig. Und wir glauben, wenn unsere Akademiker sie auch in diesem Sinne auffassen und als eine Warnung beherzigen, wird die Wirkung für sie wie für die Partei von größtem Vorteil sein.
K.K.
Schreibe einen Kommentar