[Nr. 937, Korrespondenz, Die Gleichheit, Wien, II. Jahrgang, Nr. 38, 22. September 1889, S. 5]
:: Aus Norddeutschland, 18. September.*) Der Reichstags-Vertretung unserer Partei steht leider wahrscheinlich ein weiterer Verlust bevor. Der Reichstags-Abgeordnete Jul. Kräcker, der in Breslau im Gefängnis eine siebenmonatliche Gefängnisstrafe verbüßte, musste auf Antrag des Gefängnisarztes aus der Haft entlassen werden, weil sein Zustand sich besorgniserregend gestaltet hatte. Kräcker soll an einem Leber- und Nierenleiden schwer erkrankt sein. Die Nachrichten von Seiten der Familie lauten sehr bedenklich und die behandelnden Ärzte geben wenig Hoffnung auf Rettung. Der Prozess und die ganze Kräcker widerfahrene Behandlung ist so skandalöser Art, das sie noch im Reichstag gründlich erörtert werden dürfte
In Baden, diesem liberalen Musterstaat, wurde vor ungefähr 10 Tagen Dr. Walther, der in der Nähe Offenburgs im Schwarzwalde seiner kranken Frau zu Liebe eine Villa bewohnte, auf Gründe hin in Untersuchungshaft genommen, die wegen ihrer Nichtigkeit allgemeines Aufsehen erregen. Mit ihm sind noch eine Anzahl Gesinnungsgenossen unter der Anklage der Geheimbündelei und der Verbreitung verbotener Schriften verhaftet worden. Der Reichstag hat zwar seinerzeit die Paragrafen der Strafprozessordnung, welche von der Untersuchungshaft handeln, möglichst präzise zu fassen gesucht, um Missbrauch zu verhindern, aber gegen kühne Interpretationen, namentlich wenn sie auf so verhasste Staatsfeinde wie Sozialdemokraten angewandt werden, gibt es kein Mittel. Unter dem Sozialistengesetz hat die Verhängung der Untersuchungshaft eine früher nie gekannte Ausdehnung erlangt, für viele Untersuchungsrichter ist sie ein bequemes Mittel der Geständniserpressung. Wir leben in einem – – Konfisziert!
*) Unsere letzte Korrespondenz enthielt einen sinnstörenden Druckfehler: Der Weizenpreis ist nicht, wie es dort hieß, von 187,50, sondern von 147,50 auf 190 Mark gestiegen. Ferner ist zu bemerken, dass die Altersversorgung erst mit vollendetem 70. Jahre, nicht mit dem Beginn desselben eintreten soll. Statt 80, beziehentlich 137 Eisenbahnarbeitern erreichen dieses Alter nur 71, beziehentlich 7.
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