[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ – 19. 1900-1901, 1. Band, Heft 21 (20. Februar 1901), S. 663-666]
Isegrim ist wieder einmal damit beschäftigt, die wahren marxistischen Prinzipien hochzuhalten gegenüber der heutigen Sozialdemokratie, die sie schnöde verleugnet und die sich dem freisinnigen Philisterstandpunkt ergeben hat. Zur Abwechslung ist es diesmal nicht die Frage der Miliz, sondern die des Freihandels, die Isegrim zu seiner Ehrenrettung des Marxismus Veranlassung gibt.
Im letzten Hefte der „Sozialistischen Monatshefte“ veröffentlicht er einen Artikel unter dem Titel „Karl Marx, Rittinghausen und Prince-Smith“, in dem er behauptet, in der Frage der internationalen Rolle des Freihandels bestehe ein klaffender Gegensatz zwischen der älteren sozialistischen Auffassung eines Marx und Rittinghausen und der jetzigen in unserer Partei herrschenden.
Was Isegrim über Rittinghausen sagt, ist unbedeutend. Sein Hauptbeweisstück bildet ein Artikel, den Marx 1848 in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ veröffentlichte. Oder genauer gesagt, nicht der Artikel bildet sein Beweisstück, sondern nur einige Sätze aus dem Artikel. Zu welchem Zwecke derselbe geschrieben wurde, was Marx damit beweisen wollte, erfahren wir bei Isegrim nicht.
Der Artikel polemisiert gegen die Behauptung der „Kölnischen Zeitung“, dass es in England keinen Klassenhass gebe, weil dort der Freihandel herrsche, dass der Freihandel die soziale Harmonie bedeute. Im Gegensatz dazu erklärte Marx, dass gerade der Freihandel in England die sozialen Gegensätze verschärfe, weil er die kapitalistische Entwicklung fördere. Er stimmte daher für den Freihandel.
Dass diese Ablehnung einiger Illusionen der Freihandelslehre in Widerspruch stände zu der heutigen Auffassung der Sozialdemokratie, ist mir nicht bekannt. Damit konnte Isegrim also nichts anfangen, es sind nur einige Säße aus dem Artikel, die er brauchen kann; Sätze, die Anschauungen aussprechen, welche die heutige Sozialdemokratie nicht. teilt, Sie werden uns daher vorgeführt. Sie sollen zeigen, dass unsere Partei ihrem alten Standpunkt untreu geworden und ins Lager des freisinnigen Manchestertums abgeschwenkt ist. Sehen wir zu, ob sie das wirklich zeigen.
Marx schrieb in dem zitierten Artikel: „Je freier die Konkurrenz durch die Beseitigung aller Monopole (Zölle) …, desto schneller unterjocht das Land des Kapitalmonopols, England, die umliegenden Länder seiner Industrie, Hebt die Monopole der französischen, deutschen, italienischen Bourgeoisie auf, und Deutschland, Frankreich, Italien sinken herab zu Proletariern gegenüber der alles absorbierenden englischen Bourgeoisie.“
Dieser Satz erscheint Isegrim besonders bemerkenswert. Er kennzeichnet ihm am deutlichsten den Abfall der Sozialdemokratie vom alten, marxistischen, zum freihändlerischen, cobdenitischen Standpunkt, Wiefern ist er nun unvereinbar mit unserem heutigen Standpunkt? Er enthält einmal die Behauptung, dass der Freihandel Deutschland zum Proletarier England gegenüber herabdrücke, Diese Auffassung teilen wir heute nicht mehr; Woher die Wandlung?
Isegrim erklärt den Unterschied zwischen der heutigen Auffassung der Sozialdemokratie und der Marxschen von 1848 aus dem Umstand, dass zwischen der sozialistischen Bewegung der vierziger und der der sechziger und siebziger Jahre ein Riss entstand, in dem die alte sozialistische Literatur unterging und vergessen wurde. „Erst die jüngere Zeit hat jene ältere Literatur wieder aus dem Schutte der Zeiten ausgegraben und zu Ehren gebracht. Um so ungehinderter breiteten sich so, auch nach unten zu, die Vorstellungen aus, die man einst als Illusionen und interessierte Lochrufe der Bourgeoisie bekämpfen zu müssen glaubte.“
Das ist sicher eine sehr interessante Auffassung der Entwicklung unserer Parteianschauungen, die hoffentlich nicht dadurch den Wert verliert, dass ihr zufolge auch Marx und Engels zu jenen Leuten gehören, die von der älteren sozialistischen Literatur und ihren eigenen Schriften nichts wussten, und sich daher von den „Freihandelshausierburschen“ betören ließen, da sie leider nicht mehr die segensreiche Zeit erlebten, in der Isegrim wieder die alte Parteiliteratur ausgräbt, um sie zu Ehren zu bringen und „der Vorherrschaft der liberal-freihändlerischen Ideologie“ in der Partei entgegenzuwirken. Denn Marx und Engels verfochten bereits vor einem Vierteljahrhundert die Anschauung, dass Deutschland zum Freihandel reif sei, Marx hat sich meines Wissens öffentlich darüber nicht geäußert, aber es existieren briefliche Aussprüche von ihm zum Beispiel über die Schutzzollrede von Max Kayser, die unseres Erinnerns nicht weniger drastisch sind, wie die Angriffe von Karl Hirsch, die Schippel dem Stuttgarter Parteitag voll edler Entrüstung vorlas, Damals berief Schippel sich auch auf einen Artikel, den Friedrich Engels über „Schutzzoll und Freihandel“ 1888 in der „Neuen Zeit“ veröffentlicht, Aber er vergaß auch da, anzugeben, was der zitierte Artikel beweisen wollte. Er berief sich auf einen Passus, in dem Engels die amerikanische Schutzzollpolitik der Vergangenheit rechtfertigte, verschwieg aber, dass der ganze Artikel dem Nachweis galt, dass für Amerika und Deutschland in der Gegenwart der Freihandel notwendig geworden sei: „In Deutschland schlachtet der Schutzzoll die Henne, die die goldenen Eier legt“ (S. 296). „Und wenn die englischen Fabrikanten jetzt selbst finden, dass der Freihandel sie ruiniert, und die Regierung angehen, sie gegen fremde Konkurrenz zu schützen, dann ist unbedingt der Augenblick gekommen, das fernerhin nutzlose Schutzsystem über Bord zu werfen und das sinkende Industriemonopol Englands zu bekämpfen mit seiner eigenen Waffe, dem Freihandel“ (S, 298).
Hier ist bereits die Ursache dargelegt, die Marx und Engels bewog, zu Ende der siebziger und Anfangs der achtziger Jahre über die Gefahren, die Deutschland vom englischen Freihandel drohen, anders zu denken als 1848. Es waren nicht die „Illusionen“ und „Lockrufe“ der freihändlerischen Bourgeoisie, sondern die Tatsachen der ökonomischen Entwicklung, denen sie Rechnung trugen und denen die deutsche Sozialdemokratie Rechnung trägt, wenn sie ihnen folgt.
In dieser Beziehung besteht zwischen Marx und der Sozialdemokratie kein Gegensatz.
Aber in dem zitierten Marxschen Satze ist noch eine zweite Behauptung enthalten: die, dass der Freihandel der industriell hochstehenden Länder die Agrarstaaten ökonomisch herabzudrücken strebt, dass der Freihandel ebenso wenig wie innerhalb der Nation, zwischen den Nationen selbst eine Harmonie der Interessen schafft. Dieser Anschauung sind Marx und Engels nie untreu geworden. Steht sie aber im Gegensatz zu der heutigen Stellung der Sozialdemokratie? Isegrim behauptet es; er erklärt, in der „Arbeiterpartei“ sei die „neuere Auffassung“ (seit den sechziger Jahren) die „mehr bürgerlich-apologetische, die auch im internationalen Völkerleben das Feuer der wirtschaftlichen Konflikte mit der Herstellung der rechtlich-gleichen und freien Konkurrenz, eben mit dem Freihandel und vielleicht noch mit einigen guten Lehren und Beispielen löschen zu können glaubt“.
Diese lächerliche Anschauung soll die in der „Arbeiterpartei“ herrschende sein! Isegrim behauptet das vollen Ernstes, darauf beruht seine ganze Auseinandersetzung, aber er macht nicht den leisesten Versuch, seine Behauptung zu beweisen. Es wäre ihm auch etwas schwer gefallen. Tatsächlich bekämpft die Sozialdemokratie auch heute wie stets die Illusionen der Freihändler von der Herbeiführung des Weltfriedens und der internationalen Harmonie durch den Freihandel. Wir haben stets erklärt, dass wir erst von einer sozialistischen Gesellschaft Zustände erwarten, die den wirtschaftlichen Gegensätzen der Nationen untereinander ein Ende machen. Erst kürzlich hat Schreiber dieses der schon früher vorgebrachten Isegrimschen Behauptung gegenüber den Gegensatz von cobdenitischer und sozialdemokratischer Friedenspolitik dargelegt („Neue Zeit“, XVIII, 1, S. 810 ff.). Tut nichts! Der Jude wird verbrannt, und so wird die willkürliche und beweislose, bereits widerlegte Behauptung lustig ins Blaue hinein mit größter Bestimmtheit wiederholt. Und auf ihr beruht die ganze Isegrimsche Argumentation.
Man kann sich nach alledem leicht denken, wie es mit der Richtigkeit der Darstellung steht, die Isegrim gibt, um den Gegensatz zwischen der angeblichen Marxschen und der heutigen sozialdemokratischen Auffassung zu erklären. Sie ist ebenso richtig, wie die Darstellung der einen und der anderen Auffassung.
Die völlige Unkenntnis der Sozialdemokratie der sechziger und siebziger Jahre über die sozialistischen Prinzipien der vierziger Jahre existiert nur in seiner Fantasie. Die Grundlage der neuen Bewegung war das Kommunistische Manifest von 1847, das nicht erst von Isegrim aus dem Schutte von Zeiten ausgegraben worden, und Diejenigen, .die ihr das geistige Gepräge gaben, die Lassalle, Marx, Engels, Liebknecht, waren gerade in der Schule der vierziger Jahre groß geworden. Die neu sich organisierende Sozialdemokratie stand denn auch am allerwenigsten unter dem Banne der Illusionen und Lockrufe des harmonieduseligen Manchestertums. Das alles ist Jedem bekannt, der von unserer Parteigeschichte und Parteiliteratur nur eine blasse Ahnung hat, Wenn Isegrim das Gegenteil behauptet, sollte das auf reiner Unkenntnis der Tatsachen beruhen? Das anzunehmen, dazu gehört ein felsenfester Glaube an seine Ehrlichkeit.
Ich lasse es dahingestellt, welchen psychischen Einflüssen diese Verdrehung der Tatsachen zuzuschreiben.
Welches ist aber der große Zweck, dem sie dienen soll?
Ist es ein Zweck, der die Verdrehung der Wahrheit in ihr Gegenteil, wenn auch nicht entschuldigt, so doch begreiflich erscheinen lässt? Will Isegrim auf diese Weise einen Flecken von seiner Partei wegwaschen, sie in besserem Lichte erscheinen lassen?
Sein Zweck ist aus seinen Schlussworten deutlich zu ersehen. Er will zeigen: „Der kleine deutsche Duodez-Cobden, der unglaubliche. nationalökonomische Gymnasiallehrer von Elbing (Prince-Smith), hat schließlich in der großen öffentlichen Meinung doch recht behalten gegenüber Rittinghausen, Karl Marx und der ,Neuen Rheinischen Zeitung‘.“
Mit anderen Worten, durch ihre jetzige Haltung in der Handelspolitik ist die deutsche Sozialdemokratie auf das tiefste Niveau der seichtesten deutschen Philisterökonomie herabgesunken.
Das ist der Gruß, den uns Isegrim auf den Weg gibt beim Auszug zum Kampfe gegen das Kartell der Brotwucherer mit den Scharfmachern. Die entscheidende Schlacht naht. Sie macht es dringend notwendig, dass wir alle Kräfte zusammenschließen gegen die übermächtigen Feinde, die uns entgegenstehen, dass wir die Energie unserer Kämpfer aufs Äußerste anspornen, Isegrim aber weiß in diesem Moment nichts Besseres zu tun, als seine im Kampfe stehenden Waffengenossen aus dem Hinterhalt zu verhöhnen und zu verwirren.
Ein edler Zweck, der offenbar alle Mittel heiligt und der der größten Ausdauer würdig ist. Was Isegrim seit einiger Zeit an öffentlichen Kundgebungen von Bedeutung von sich gegeben, dient fast ausschließlich dem gleichen Zweck mit gleichen Mitteln, Hätten wir darin. Isegrims Lebenszweck zu erblicken?
1 Wegen Raummangels wiederholt zurückgestellt. Die Redaktion
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